Auf den Spuren stillgelegter Straßenbahnstrecken

Essen: Pferdemarkt

Stillgelegt: um 1955
Status: Gleisrelikte noch vorhanden (Stand: April 2023)

[01] Innenhof des Gebäudekomplexes Pferdemarkt 5-7
August 2016  © Tramtracks

Ein markantes Gebäude aus der Vorkriegszeit ist am Pferdemarkt 5-7 zu finden – eine der wenigen Bauten, die den Bombenhagel 1943/44 in der Essener Altstadt überstanden haben. Es wurde 1928 vom Allgemeinen Bauverein Essen (Allbau) errichtet. Das Büro- und Geschäftshaus, in dem heute unter anderem die Arbeiterwohlfahrt zu finden ist, war an den abgerundeten Ecken mit Plastiken des Essener Künstlers Will Lamert verziert. Als Kommunist und Ehemann einer jüdischen Ärztin floh er während der Nazi-Zeit ins Exil und entging so einem Prozess wegen Hochverrats. Die Plastiken wurden bald darauf abgeschlagen. Aber noch aus einem anderen Grund ist das Allbau-Gebäude geschichtsträchtig. Im Innenhof liegen noch Schienen, die aus der Zeit stammen, als mit dem Neubau auch das Schienennetz rund um den Viehofer Platz umgestaltet wurde.

[02] Innenhof des Gebäudekomplexes Pferdemarkt 5-7
Juni 2007  © Tramtracks
[03] Pferdemarkt zwischen Viehofer Straße und Schützenbahn
Juni 2007  © Tramtracks

Vor der Kirche St. Gertrud am Pferdemarkt liefen die Gleise aus der Rottstraße, der Viehofer Straße und der Schützenbahn zusammen, um sich kurz darauf am Viehofer Platz wieder zu trennen: zum Segeroth und Limbecker Platz in die Grabenstraße (heute: Friedrich-Ebert-Straße), nach Altenessen in die Viehofer Straße (heute: Altenessener Straße) und Richtung Gelsenkirchen in die Stoppenberger Straße (heute: Kleine Stoppenberger Straße). Um mehr Flexibilität und auch Kapazität an diesem hochfrequentierten Verknüpfungspunkt zu erreichen, wurden parallel zur Viehofer Straße zwei Gleise am Allbau-Komplex in die Hausdurchfahrt gelegt. Damals war der Hof nach Norden hin offen. Das Wohnhaus an der Friedrich-Ebert-Straße, vor dem die Schienen nun enden, ist ein Werk der Nachkriegszeit. Zum Viehofer Platz hin gabelte sich das Gleis auf und führte nach links Richtung Rheinischer Platz bzw. nach rechts in eine zweigleisige Schleife, die wieder zurück zum Pferdemarkt führte.

[04] Innenhof des Gebäudekomplexes Pferdemarkt 5-7
Juni 2007  © Tramtracks
[05] Innenhof des Gebäudekomplexes Pferdemarkt 5-7
Juni 2007  © Tramtracks

Zunehmende Bombenschäden hatten den Tramverkehr in der Essener Altstadt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zum Erliegen gebracht. Um die Trümmerberge zu umfahren, wurde am 16. Januar 1944 eine Strecke vom Hauptbahnhof über Holle- und Bernestraße zum Steeler Tor (Schützenbahn) als Ersatz für die Führung über Kettwiger und Viehofer Straße eröffnet. Aus der Schützenbahn ging es nach Norden wahlweise nach links zum Viehofer Platz oder geradeaus durch die Hausdurchfahrt. Letztere Route nahmen noch Anfang der 1950er-Jahre die Wagen der Linie 9, die von Steele nach Frohnhausen fuhren.

Das Gebäude mit der Unterführung war bis mindestens in die 1960er hinein das Domizil des Essener Kepa-Kaufhauses. 1926 hatte Karstadt mit Kepa eine neue Warenhauskette etabliert, mit günstigen Waren für weniger kaufkräftige Konsumenten und einem Einheitspreissystem, also festen Beträgen zwischen zehn Pfennig und einer Reichsmark. Ein Prinzip, dass in der heutigen Zeit mit den Ein-Euro-Läden wieder aufgelebt ist. Die 64 Kepa-Häuser, die es 1977 noch in der Bundesrepublik gegeben hatte, wurden bis 1980 geschlossen. Denn zwischenzeitlich war ihnen in Verbrauchermärkten und Discountern auf der grünen Wiese neue Konkurrenz erwachsen.

[06] Blick aus dem Innenhof auf den Pferdemarkt
April 2023  © Tramtracks

Über zwei Jahrhunderte hinweg war der Pferdemarkt genau das, was der Name besagt: ein Marktplatz, auf dem Händler "Hafenmotoren" an die zahlende Kundschaft veräußerten. Pferde bildeten bis ins 20. Jahrhundert hinein sozusagen das Rückgrat des Transportwesens, indem sie Fuhrwerke und Droschken zogen. Anders als in den Nachbarstädten gab es in Essen keine Pferdebahn als Vorläufer der elektrischen Tram, die dafür umso früher 1893 Einzug hielt.

Auf dem Pferdemarkt zwischen Schützenbahn und Rottstraße wurden, so wird vermutet, seit dem frühen 18. Jahrhundert gezähmte Wildpferde aus den Emscherbrüchen verkauft. Als offizieller Name für den Platz war er seit ca. 1860 in Gebrauch. Übrigens leben in der Essener Altstadt weitere traditionelle Handelsplätze in Ortsbezeichnungen fort: In den Straßenkarten finden sich noch der Flachsmarkt, Gänsemarkt, Kornmarkt und Salzmarkt.

40 Jahre zuvor wäre der Blick aus dem Innenhof Richtung Schützenbahn auf eine tiefe Baugrube gefallen. Dort wurde Anfang der 1980er-Jahre die Ausfädelung der Tunnelstrecke vom Porscheplatz zur Ost-West-Spange mit dem unterirdischen Bahnhof "Rheinischer Platz" angelegt.

[06] Luftaufnahme der nördlichen Essener Innenstadt
© RVR, 1952, Datenlizenz Deutschland - Namensnennung – Version 2.0

In der "Sternfahrt", der Zeitschrift der Verkehrshistorischen Arbeitsgemeinschaft EVAG, erzählte der langjährige Straßenbahnfahrer Karl Koch 1997 von einem Missgeschick, das ihm rund 45 Jahre zuvor passiert war. Auf der Schützenbahn von Steele Richtung Frohnhausen unterwegs, stellte er die Weiche falsch und fuhr nicht wie vorgesehen durch die Unterführung des Kepa-Hauses, sondern bog nach links auf den Viehofer Platz ein und steuerte damit die verkehrte Haltestelle an, nämlich die für die Kurse Richtung Altenessen, Karnap und Gelsenkirchen-Horst. Seine Schaffnerin Christine rettete die Situation und tischte den erstaunten Fahrgästen eine Geschichte von einem Weichenfehler auf. Zum Glück gab es am Viehofer Platz auch noch einen Abzweig nach links auf die heutige Friedrich-Ebert-Straße, so dass der Wagen der Linie 9 wieder auf den richtigen Weg gelangen konnte.

Die Anekdote lässt sich auf die Zeit nach September 1951 datieren, weil damals die in der Geschichte ebenfalls erwähnte Schleife Porscheplatz in Betrieb ging. Die Luftaufnahme aus dem Jahr 1952 lässt zwar nicht das gesamte Gleisbild erkennen, wohl kann man aber sehen, dass die Durchfahrt noch möglich war und die Schützenbahn genau auf sie zulief. Auch im Falk-Plan aus dem Jahr 1956 ist die Straßenbahnstrecke durchs Kepa-Haus noch eingezeichnet. Allerdings hinkten Falk-Pläne oft in der Darstellung der Nahverkehrslinien ein paar Jahre der Realität hinterher, so dass dort anscheinend der Stand von 1954/55 gezeigt wurde. Jedenfalls darf man davon ausgehen, dass die Gleise auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch befahren wurden.

Bis 1957 wurde die Schützenbahn dann als Teil einer neuen breiten Ringstraße um die Essener Innenstadt aufgeweitet, in Höhe Pferdemarkt nach Osten verschwenkt und dort ebenso wie in der Friedrich-Ebert-Straße eine neue dreigleisige Haltestelle angelegt. Spätestens jetzt dürfte die Hausdurchfahrt Geschichte gewesen sein.

Auf dem Stadtplan markiert ist die Fundstelle im Hinterhof zwischen Pferdemarkt und Viehofer Platz. Die nächstgelegenen Stadtbahn-Stationen sind "Rheinischer Platz" (Linien 101, 103, 105 und 109) und "Viehofer Platz" (Linien 107 und 108).

Stadtplan auf Openstreetmap

 

Literatur

  • Essener Verkehrs-AG: Hundert Jahre in Essen auf Draht – Die Straßenbahn. Essen 1993 (S. 70-73)
  • Karl Koch / Rudolf Schilling: Schutzengel Christine. In: Sternfahrt. Heft 28/29 (Mai 1997) (S. 25-26)
  • Dieter Höltge: Straßen- und Stadtbahnen in Deutschland. Band 4: Ruhrgebiet. Freiburg 1994 (S. 244-246, 248, 250)