Melodie

[748] Melodie. (Musik)

Die Folge der T�ne, die den Gesang eines Tonst�ks ausmachen, in so fern er von der ihn begleitenden Harmonie unterschieden ist. Sie ist das Wesentliche des Tonst�ks; die begleitenden Stimmen dienen ihr blos zur Unterst�zung. Die Musik hat den Gesang, als ihr eigentliches Werk, zu ihrem Ziehl, und alle K�nste der Harmonie haben blos den sch�nen Gesang zum lezten Endzwek. Darum ist es eine eitele Frage, ob in einem Tonst�k die Melodie, oder die Harmonie das vornehmste sey: Ohne Zweifel ist das Mittel dem Endzwek untergeordnet.

Wichtiger ist es f�r den Tonsezer, da� er die wesentlichen Eigenschaften einer guten Melodie best�ndig vor Augen habe, und den Mitteln, wodurch sie zu erreichen sind, in so fern sie von der Kunst abhangen, flei�ig nachdenke. Da dieses Werk nicht blos f�r den K�nstler, sondern f�rnehmlich f�r den philosophischen Liebhaber geschrieben ist, der sich nicht begn�gt zu f�hlen, was f�r Eigenschaften jedes Werk der Kunst in seiner Art haben m�sse, sondern die Gr�nde der Sachen, so weit es m�glich ist, sie zu erkennen, wissen will; so ist n�thig, da� wir hier die verschiedenen Eigenschaften des Gesanges, oder der Melodie aus ihrem Wesen herleiten.

Es ist bereits in einem andern Artikel1 gezeiget worden, und wird in der Folge noch deutlicher entwikelt werden2, wie der Gesang aus der F�lle einer angenehmen leidenschaftlichen Empfindung, der man mit Lust nachh�ngt, entstehet. Der nat�rliche, un�berlegte und ungek�nstelte Gesang ist eine Folge leidenschaftlicher T�ne, deren jeder f�r sich schon das Gepr�g der Empfindung, die ihn hervorbringet, hat. Die Kunst ahmet diese Aeu�erung der Leidenschaft auch durch T�ne nach, die einzeln v�llig gleichg�ltig sind, und nichts von Empfindung anzeigen. Es wird Niemand sagen k�nnen, da� er bey Anschlagung eines einzelen Tones der Orgel, oder des Clavieres etwas leidenschaftliches empfinde, und doch kann aus solchen unbedeutenden T�nen ein das Herz stark angreifender Gesang zusammengesezt werden. Es ist wol einer Untersuchung werth, wie dieses zugehe.

Die Musik bedienet sich zwar auch leidenschaftlicher T�ne, die an sich, ohne die Kunst des Tonsezers, schmerzhaft, traurig, z�rtlich oder freudig sind. Aber sie entstehen durch die Kunst des S�ngers, und geh�ren zum Vortrag; hier, wo von Verfertigung einer guten Melodie die Rede ist, kommen sie nicht in Betrachtung, als in so fern der Tonsezer dem S�nger, oder Spiehler einen Wink geben kann, wie er die vorgeschriebenen T�ne leidenschaftlich vortragen soll.

Das Wesen der Melodie besteht in dem Ausdruk. Sie mu� allemal irgend eine leidenschaftliche Empfindung, oder eine Laune schildern. Jeder, der sie h�rt mu� sich einbilden er h�re die Sprach eines Menschen, der von einer gewissen Empfindung durchdrungen, sie dadurch an den Tag leget. In so fern sie aber ein Werk der Kunst und des Geschmaks ist, mu� diese leidenschaftliche Rede, wie jedes andere Werk der Kunst ein Ganzes ausmachen, darin Einheit mit Mannigfaltigkeit verbunden ist; dieses Ganze mu� eine gef�llige Form haben, und sowol �berhaupt, als in einzelen Theilen so beschaffen seyn, da� das Ohr des Zuh�rers best�ndig zur Aufmerksamkeit gereizt werde, und ohne Ansto�, ohne Zerstreuung, den Eindr�ken, die es empf�ngt, sich mit Lust �berlasse. Jeder Gesang, der diese doppelte Eigenschaft hat, ist gut; der, dem sie im Ganzen fehlen, ist v�llig schlecht, und der, dem sie in einzelen Theilen fehlen, ist fehlerhaft. Hieraus nun m�ssen die verschiedenen besondern Eigenschaften der Melodie bestimmt werden.

Zuerst ist es schlechterdings nothwendig, da� ein Hauptton darin herrsche, der durch eine gute, dem Ausdruk angemessene Modulation seine verschiedenen Schattirungen bekomme. Zweytens mu� ein vernehmliches Metrum, eine richtige und wol abgemessene Eintheilung in kleinere und gr�ssere Glieder sich darin zeigen. Drittens mu� durchaus Wahrheit des Ausdruks, bemerkt werden. Viertens mu� jeder einzele Ton, und jedes Glied, nach Beschaffenheit des Inhalts, leicht und vernehmlich seyn. Ist die Melodie f�r Worte, oder einen so genannten Text bestimmt, so mu� noch f�nftens die Eigenschaft hinzukommen, da� alles mit der richtigsten [748] Declamation der Worte, und mit den verschiedenen Gliedern des Textes �bereinstimme. Jeder Artikel verdienet eine n�here Betrachtung.

I. Da� in der Melodie ein Hauptton herrsche, das ist, da� die auf einander folgenden T�ne aus einer bestimmten Tonleiter m�ssen hergenommen seyn, ist darum nothwendig, weil sonst unter den einzelen T�nen kein Zusammenhang w�re. Man nehme die sch�nste Melodie, wie sie in Noten geschrieben ist, und hebe die Tonart darin auf; so wird man den Gesang sogleich unertr�glich finden. Man versuche z.B. folgenden Saz:

Melodie

wenn man kann, so zu singen:

Melodie

man wird es, wegen Mangel des Zusammenhanges unter den T�nen, unm�glich finden, und wenn man ihn auch auf einem Instrument so spielte, so giebt er dem Geh�r nichts vernehmliches. Die in jeder Tonleiter liegende Harmonie giebt den aus derselben genommenen T�nen den n�thigen Zusammenhang.3 Darum hat schon jede Folge von T�nen, wenn sie nur aus derselben Tonleiter genommen sind, sie folgen sonst auf- oder absteigend wie sie wollen, (wenn nur nicht der Natur der Leitt�ne zuwieder fortgeschritten wird)4 etwas angenehmes; weil man Zusammenhang und Harmonie darin empfindet.

Der Ton aber mu� dem Charakter des St�ks gem�� gew�hlt werden. Denn bald jede Tonart hat einen ihr eigenen Charakter, wie an seinem Orte deutlich wird gezeiget werden.5 Je feiner das Ohr des Tonsezers ist, um den eigenth�mlichen Charakter jeder Tonleiter zu empfinden, je gl�klicher wird er in besondern F�llen in der Wahl des Haupttones seyn, die mehr, als mancher denkt, zum richtigen Ausdruk beytr�gt.

Weil es gut ist, da� das Geh�r sogleich von Anfang der Melodie von der Tonart eingenommen werde, so thut der Sezer wol, wenn er gleich im Anfang die sogenannten wesentlichen Sayten des Tones, Terz, Quint und Octave h�ren l��t. In Melodien von ganz geringem Umfang der Stimme, wird deswegen, auch ohne Ba�, die Tonart leichter durch die untere oder harmonische H�lfte der Octave, von der Prime bis zur Quinte, als durch die obere H�lfte von der Quinte zur Octave, bestimmt. In dieser kann die Melodie so seyn, da� man, wo die begleitende Harmonie fehlet, lange singen kann, ohne zu wissen, aus welchem Ton das St�k geht. So kann man bey folgendem Saze:

Melodie

gar nicht sagen, ob man aus C dur oder G dur singe.

In ganz kurzen Melodien, die blos aus ein paar Haupts�zen bestehen, kann man durchaus bey dem Haupttone bleiben, oder allenfalls in seine Dominante moduliren: aber l�ngere St�ke erfodern Abwechslung des Tones, damit der leidenschaftliche Ausdruk auch in Absicht auf das Harmonische seine Schattirung und Mannigfaltigkeit bekomme. Deswegen ist eine gute und gef�llige, nach der L�nge der Melodie und der verschiedenen Wendungen der Empfindung, mehr oder weniger ausged�hnte, schneller oder langsamer abwechselnde, sanftere, oder h�rtere Modulation, ebenfalls eine nothwendige Eigenschaft einer guten Melodie. Was aber zur guten Behandlung der Modulation geh�ret, ist in dem besondern Artikel dar�ber in n�here Erw�gung genommen worden.

Durch Einheit des Tones, harmonische Fortschreitung der T�ne, und gute Modulation wird schon ein angenehmer, oder wenigstens gef�lliger Gesang gemacht: aber er dr�kt darum noch nichts aus, und kann h�chstens dienen ein Lied choralm��ig und doch noch sehr unvollkommen, herzulallen.

II. Darum ist zum guten Gesang eine gef�llige Abmessung der Theile, wie in allen Dingen, die durch ihre Form gefallen sollen6, unumg�nglich nothwendig. Jeder Gesang erweket durch die einzelen T�ne, welche der Zeit nach auf einander folgen, den Begriff der Bewegung. Jeder Ton ist als eine kleine R�kung, deren eine bestimmte Anzahl einen Schritt ausmachen, anzusehen. Man kann sich diese Bewegung, als den Gang eines Menschen vorstellen; es scheinet eine so nat�rliche Aehnlichkeit zwischen dem Gang und der Bewegung des Gesanges zu seyn, da� �berall, auch bey den rohesten [749] V�lkern, die ersten Ges�nge, die unter ihnen entstanden, unzertrennlich mit dem Gang des K�rpers, oder mit Tanz verbunden waren. Und noch �berall, wird der Takt durch Bewegungen des K�rpers, besonders der F��e, angedeutet.

Jede Bewegung, in welcher gar keine Ordnung und Regelm��igkeit ist, da kein Schritt dem andern gleichet, ist, selbst zum blo�en Anschauen, schon erm�dend; also w�rde eine Folge von T�nen, so harmonisch und richtig man auch damit fortschritte, wenn jeder eine ihm eigene L�nge oder Dauer, eine ihm besonders eigene St�rke h�tte, ohne irgend eine abgemessene Ordnung in dieser Abwechslung, unsre Aufmerksamkeit keinen Augenblik unterhalten, sondern uns vielmehr verwirren: wie wenn z.B. der vorherangef�hrte melodische Saz so gesungen w�rde.

Melodie

Kein Mensch w�rde gehen k�nnen, wenn keiner seiner Schritte dem andern an L�nge und Geschwindigkeit gleich seyn sollte. Ein solcher Gang ist v�llig unm�glich. Wenn T�ne uns ihn empfinden lie�en, so w�ren sie h�chst beschwerlich. Darum mu� in der Bewegung Einf�rmigkeit seyn; sie mu� in gleichen Schritten fortgehen,7 und die Folge der T�ne mu� in gleiche Zeiten, oder Schritte, die in der Musik Takte genennt werden, eingetheilt seyn.

Diese Schritte, m�ssen, wenn sie aus mehrern kleinen R�kungen bestehen, dadurch f�hlbar gemacht werden, da� jeder Schritt, auf der ersten R�kung st�rker, als auf den �brigen angegeben wird, oder einen Accent hat. Alsdenn f�hlet das Geh�r, die Eintheilung der T�ne in Takte, so wie vermittelst der Accente der W�rter, ob sie gleich nicht, wie im Gesange immer auf dieselbe Stelle fallen, die W�rter selbst von einander abgesondert werden.8

Denn die Gleichheit der Schritte, ohne alle andre Abwechslung darin, Melodie, wenn auch gleich die T�ne durch H�he und Tiefe von einander verschieden w�ren, w�rde ebenfalls gar bald erm�den. So gar schon in der Rede, w�rde das sch�nste Gedicht, wenn man uns in immer gleichen Nachdruk, Sylbe vor Sylbe gleichsam vorz�hlen wollte, alle Kraft verliehren; die sch�nsten Gedanken, w�ren nicht hinreichend es angenehm zu machen. Darum m�ssen die gleich langen Schritte, oder Takte, in gef�lliger Abwechslung auf einander folgen. Es ist deswegen n�thig, da� die Dauer des Takts in kleinere Zeiten, nach gerader oder ungerader Zahl, eingetheilt werde; da� die verschiedenen Zeiten, durch Accente, durch ver�nderten Nachdruk, oder auch noch durch abge�nderte R�kungen einzeler T�ne, sich von einander unterscheiden. Also m�ssen in jedem Gesang Takte von mehrern T�nen seyn, deren Dauer zusammengenommen, das Zeitmaa� des Taktes genau erf�llet. Hiedurch entstehen nun wieder neue Arten von Einf�rmigkeit und Mannigfaltigkeit, die den Gesang angenehm machen. Man kann den Takt durchaus in zwey, oder in drey Zeiten, oder Theile eintheilen, so da� die Takte nicht nur gleich lang, sondern auch in gleiche kleinere Zeiten eingetheilt sind. Dieses dienet zur Einf�rmigkeit. Denn kann der ganze Takt, durch alle Theile seiner Zeiten, bald einen, bald zwey, bald mehrere T�ne haben, und diese k�nnen durch Accente, durch H�he und Tiefe, durch verschiedene Dauer sich von einander auszeichnen. Hieraus entstehet eine unersch�pfliche Mannigfaltigkeit, bey best�ndiger Einf�rmigkeit, davon an einem andern Orte das mehrere nachzusehen ist.9 Daher l��t sich begreifen, wie ein Gesang, vermittelst dieser Veranstaltungen, wenn er auch sonst gar nichts ausdr�kt, sehr unterhaltend seyn k�nne. So gar ohne alle Abwechslung des Tones, in H�he und Tiefe, kann durch die Einf�rmigkeit des Taks, und die Verschiedenheit in seinen Zeiten ein unterhaltendes Ger�usch entstehen, wovon das Trommelschlagen ein Beyspiel ist:

Melodie

W�rden aber ganz verschiedene Takte in einem fort hinter einander folgen, so w�re doch diese mit Abwechslung verbundene Einf�rmigkeit nicht lang unterhaltend. Ein Ganzes, das aus lauter kleinen, gleichgro�en, aber sonst verschiedentlich gebildeten Gliedern besteht, ist nicht fa�lich genug; die Menge der Theile verwirrt. Darum m�ssen mehrere kleine Glieder in gr��ere gruppirt, und aus kleinen Gruppen gro�e Hauptgruppen zusammengesezt werden. Dieses ist f�r alle Werke des Geschmaks, die aus viel kleinen Theilen zusammengesezt sind, eine nothwendige [750] Foderung.10 In der Melodie also, m�ssen aus mehreren Takten, gr��ere Glieder, oder Einschnitte, und aus mehreren Einschnitten, Hauptglieder, oder Perioden gebildet werden.11 Wird dieses alles richtig nach einem guten Ebenmaa� beobachtet, so ist die Melodie allemal angenehm und unterhaltend.

III. Bis hieher haben wir das metrische und rhythmische der Melodie, als etwas, das zur Annehmlichkeit des Gesanges geh�rt, betrachtet. Aber noch wichtiger ist es, durch die darin liegende Kraft zum leidenschaftlichen Ausdruk. Dieser ist die dritte, aber weit die wichtigste Eigenschaft der Melodie. Ohne sie ist der Gesang blos ein wolgeordnetes, aber auf nichts abzielendes Ger�usch; durch sie wird er zu einer Sprache, die sich des Herzens ungleich schneller, sicherer und kr�ftiger bem�chtiget, als durch die Wortsprache geschehen kann.

Der leidenschaftliche Ausdruk h�ngt zwar zum Theil auch, wie vorher schon angemerkt worden, von dem Ton und andern zur Harmonie geh�rigen Dingen ab; aber das, was durch Metrum und Rhythmus kann bew�rkt werden, ist dazu ungleich kr�ftiger. Wir m�ssen aber hier, um nicht undeutlich zu werden, die verschiedenen von der Bewegung herkommenden, oder damit verbundenen Eigenschaften der Melodie sorgf�ltig unterscheiden. Zuerst kommt die Bewegung an sich, in so fern sie langsam oder geschwind ist, in Betrachtung; hernach ihre Art, nach der sie bey einerley Geschwindigkeit sanft flie�end, oder h�pfend, das ist nachdem die T�ne geschleift, oder, stark oder schw�cher sind; drittens die gr��eren oder kleinern, consonirenden, oder dissonirenden Intervalle. Viertens die Gattung des Takts, ob er gerade oder ungerad sey, und die daher entstehenden Accente; f�nftens seine besondere Art, oder die Anzahl seiner Theile; sechstens die Austheilung der T�ne in dem Takt, nach ihrer L�nge und K�rze; siebendes das Verh�ltnis der Einschnitte und Abschnitte gegen einander. Jeder dieser Punkt tr�gt das seinige zum Ausdruk bey.

Da es aber v�llig unm�glich ist, auch zum Theil unn�z w�re, weitl�uftig zu untersuchen, wie dieses zugeht; so begn�gen wir uns die Wahrheit der Sache selbst an Beyspielen zu zeigen; blos in der Absicht, da� junge Tonsezer, denen die Natur die zum guten Ausdruk erfoderliche Empfindsamkeit des Geh�rs und des Herzens gegeben hat, dadurch sorgf�ltig werden, keines der zum Ausdruk dienlichen Mittel zu verabs�umen.

1. Da� das schnelle und langsame der Bewegung schon an sich mit den Aeu�erungen der Leidenschaften genau verbunden sey, d�rf hier kaum wiederholt werden. Man kennet die Leidenschaften, die sich durch schnelle und lebhafte W�rkungen �u�ern, und die, welche langsam, auch wol gar mit Tr�gheit fortschleichend sind. Der Tonsezer mu� ihre Natur kennen; dieses wird hier vorausgesezt. Aber um den eigentlichen Grad der Geschwindigkeit der Bewegung f�r jede Leidenschaft, so gar f�r jeden Grad derselben zu treffen, mu� er sehr flei�ig den Einflus der Bewegung auf den Charakter der melodischen S�ze, erforschen, und zu dem Ende einerley Saz, nach verschiedenen Bewegungen singen, und darauf lauschen, was dadurch in dem Charakter ver�ndert wird. Wir wollen Beyspiele davon anf�hren. Folgender melodischer Saz

Melodie

in m��iger Bewegung vorgetragen, schiket sich sehr wol zum Ausdruk der Ruh und Zufriedenheit; ist die Bewegung etwas geschwinde, so verlieret sich dieser Ausdruk ganz, und wird fr�hlich: ganz langsam, w�rde diese Stelle gar nichts mehr sagen. Folgendes ist der Anfang einer h�chst z�rtlichen und r�hrenden Melodie von Graun:

Melodie

Man singe es geschwinde, so wird es vollkommen t�ndelnd. So sehr kann die Bewegung den Ausdruk �ndern.

Man ist gewohnt, jeder Melodie eine durchaus gleiche Bewegung zu geben, und h�lt es deswegen f�r einen Fehler, wenn S�nger oder Spiehler allm�hlig darin nachlassen, oder, welches noch �fterer geschieht, schneller werden. Aber wie wenn der Ausdruk es erfoderte, da� die Leidenschaft allm�hlig nachlie�e, oder stiege? W�ren da nicht jene Ab�nderungen in der Bewegung nothwendig? Vielleicht [751] hat man es nur deswegen nicht versucht, weil es den Spiehlern gar zu schweer seyn w�rde, aus Ueberlegung das zu treffen, was aus Mangel der geh�rigen Aufmerksamkeit von selbst k�mmt. Aber dieses w�rde ich f�r ein Meisterst�k halten, wenn der Tonsezer seine Melodie so einzurichten w��te, da� die Spiehler von selbst verleitet w�rden, in der Bewegung, wo es der Ausdruk erfodert, etwas nachzulassen, oder damit zu eilen.

2. Das zweyte worauf bey der Melodie, wegen des Charakters und des Ausdruks zu sehen ist, betrift die Art des Vortrages, die bey einerley Bewegung sehr verschieden seyn kann. Auch hier kommt es auf eine genaue Kenntnis der Leidenschaften an. Einige sto�en die T�ne einzeln und abgebrochen, andre schleifen sie und spinnen gleichsam einen aus dem andern heraus; einige reden stark, oder gar heftig, andre geben nur schwache T�ne von sich. Einige �u�ern sich in hohen, andre in tiefen T�nen. Dies alles mu� der Tonsezer genau �berlegen. Es sind verschiedene Zeichen eingef�hrt, wodurch der Tonsezer die Art des Vortrages andeutet. Er mu�, so viel ihm m�glich ist, hierin genau und sorgf�ltig seyn. Denn manche Melodie, wobey der Tonsezer starke T�ne gedacht hat, verliehrt ihren Charakter v�llig, wenn sie schwach vorgetragen wird. Jeder Mensch empfindet, da� geschleifte T�ne zu sanften, kurz abgesto�ene zu heftigen Leidenschaften sich schiken. Werden die in den Niederschlag fallende T�ne schwach, und die in Aufschlag kommende stark angegeben, als:

Melodie

so empfindet man etwas wildes, oder tobendes dabey, und wenn durch Bindungen zugleich der nat�rliche Gang des Takts verkehrt wird, so kann dieses Gef�hl sehr weit getrieben werden. Auch andre Abwechslungen, dergleichen die Bebungen, Triller, die Vor- und Nachschl�ge sind, k�nnen dem Ausdruk sehr aufhelfen. Alle diese Kleinigkeiten mu� der Tonsezer zu nuzen wissen. In Ansehung der H�he mu� er bedenken, da� heftige Leidenschaften sich in hohen, sanfte, auch finstere, in tiefen T�nen sprechen. Dieses leitet ihn, wenn es die �brigen Umst�nde zulassen, f�r den Affekt die schiklichste H�he im ganzen Umfang der singbaren T�ne zu nehmen. So wie es l�cherlich w�re einen pr�chtigen Marsch f�r Violine zu sezen, so w�rde es auch ungereimt seyn, einen h�chst freudigen Gesang in den tiefsten Ba�t�nen h�ren zu lassen, oder etwas recht finsteres in dem h�chsten Discant. Dieses betrift die H�he des ganzen St�ks. Aber auch in einer Melodie, wozu eine der vier Stimmen schon bestimmt worden, m�ssen die T�ne da, wo die Leidenschaft heftiger wird, h�her; wo sie nachl��t, tiefer genommen werden.

3. Drittens kommt bey dem Ausdruk auch viel auf die Harmonie der Intervalle an, durch welche man fortschreitet. Die Fortschreitung durch diatonische Stufen hat etwas leichtes und gef�lliges; die chromatische Fortschreitung durch halbe T�ne etwas schmerzhaftes, auch bisweilen etwas f�rchterliches. Wir haben anderswo schon einige hieher geh�rige Beobachtungen angef�hrt.12 Da� die vollkommen consonirenden Intervalle im Aufsteigen �berhaupt sich zu lebhaftern, die weniger consonirenden und dissonirenden aufsteigend, zu z�rtlichen, auch traurigen und finstern Empfindungen schiken, ist bekannt. Da� �berhaupt kleinere Intervalle ruhige, gro�e unruhige, oder lebhafte Empfindungen ausdr�ken, und die �ftere Abwechslung der gro�en und kleinen unruhige, verdienet ebenfalls bemerkt zu werden.

In dem auf der vorhergehenden Seite aus einer Arie von dem Capellmeister Graun angef�hrten Beyspiele, kommt das sehr R�hrende gr��tentheils daher, da� gleich im Anfange dieser Arie eine Dissonanz vorkommt, die durch den Sprung einer kleinen Terz, die aber nicht die Mediante, sondern die Septime des Haupttones ist, verursachet wird.

4. Viertens hat der Tonsezer zur Wahrheit des Ausdruks n�thig, den verschiedenen Charakter der beyden Gattungen des Takts, in Erw�gung zu ziehen. Der gerade Takt schiket sich zum gesezten, ernsthaften und pathetischen Ausdruk; der ungerade hat etwas leichtes, das nach Beschaffenheit der andern Umst�nde, zum fr�lichem, oder t�ndelnden, oder auch wol zum leichteren z�rtlichen kann gebraucht werden. Aber er kann wegen der Ungleichheit seiner Theile auch zu heftigen, gleichsam durch St��e sich �u�ernden Leidenschaften dienen. Man findet zwar Melodien von einerley Charakter, sowol in geradem, als ungeradem Takt; und dieses k�nnte leicht auf den Irrthum verleiten, da� die Gattung des Taktes wenig zum Ausdruk beytrage. Allein man wird finden, da� in solchen F�llen der Fehler, in der Wahl des Taktes, da z.B. der ungerade, [752] anstatt des geraden genommen worden ist, durch andre Mittel nur unvollkommen verbessert worden, und da� daher dem Gesange doch noch eine merkliche Unvollkommenheit anklebt. Sollte es einem in allen K�nsten des Sazes erfahrnen Tonsezer gelingen, in 3/8 Takt, der seiner Natur nach fr�hlich ist, den traurigen Ausdruk zu erreichen; so wird ein feines Ohr den Zwang wol merken, und der Ausdruk wird immer schw�cher seyn, als wenn ein gerader Takt w�re gew�hlt worden. Erst wenn alles �brige, was zum metrischen des Gesanges geh�ret, mit der Gattung des Takts �bereinstimmt, thut dieser seine rechte W�rkung.

5. Allerdings aber thut die besondere Art des Taktes, welches der f�nfte Punkt ist, der hier in Betrachtung kommt, noch mehr zum Ausdruk. Es macht in dem Gang eines Menschen einen gro�en Unterschied, wenn seine Schritte durch mehr, oder durch weniger kleine R�kungen geschehen. Von den geraden Takten ist der von 2/4 sanfter und ruhiger, als der von 4/4, der, nach Beschaffenheit der Bewegung mehr Ernsthaftigkeit und auch mehr Fr�hlichkeit ausdruken kann, als jener. Von ungeraden Takten kann der von 3/4 zu mancherley Ausdruk, vom edlen Anstand sanfter, bis zum Ungest�hm heftiger Leidenschaften gebraucht werden, nachdem die �brigen Umst�nde besonders die R�kungen, die L�ngen und die Accente der T�ne, damit verbunden werden. Der von 3/8 ist der gr��ten Fr�hlichkeit f�hig, und hat allezeit etwas lustiges. Deswegen sind auch die meisten fr�hlichen T�nze aller V�lker in dieser Taktart gesezt. Der von 6/8 schiket sich vorz�glich zum Ausdruk eines sanften unschuldigen Vergn�gens, weil er in das Lustige des 3/8 Takts durch Verdoppelung der Anzahl der kleineren R�kungen auf jedem Schritt, wieder etwas von dem Ernst des geraden Takts einmischt.

6. Die gr��te Kraft aber scheinet doch in dem rhythmischen des Taktes zu liegen, wodurch er bey derselben Anzahl der kleinen Haupttheile, vermittelst der verschiedenen Stellung der langen und kurzen, der nachdr�klichen und leichten T�ne, und der untergemischten kleinern Eintheilungen, eine erstaunliche Mannigfaltigkeit bekommt, und wodurch ein und eben dieselbe Taktart in ihren F��en eine gro�e Ungleichheit der Charakter erh�lt, welches der sechste von den zum Ausdruke n�thigen Punkte ist. Was f�r betr�chtliche Ver�nderungen des Charakters daher entstehen, sieht man am deutlichsten, wenn man die verschiedenen Tanzmelodien von 3/4 Takt mit einander vergleicht. Darum ist dem Tonsezer zur Wahrheit des Ausdruks nichts so wesentlich n�thig, als das feine Gef�hl von der W�rkung der rhythmischen Ver�nderungen des Taktes. Hier w�ren sehr viele Beobachtungen zu machen; wir wollen nur wenige zum Beyspiele anf�hren, die uns von einem Meister in der Kunst mitgetheilt worden sind. Gleiche Takttheile, wie: Melodie, da der erste allezeit seinen nat�rlichen Accent, der andere seine Leichtigkeit beh�lt, unterscheiden sich durch mehr Ernst und W�rde, als ungleiche, wie: Melodieoder: Melodie. Dieser Schritt Melodieist lebhaft; aber noch weit mehr dieser: Melodieund wenn drey oder gar vier kurze T�ne zwischen l�ngern stehen, so hat der Schritt gro�en Nachdruk zur Fr�hlichkeit, wie diese: Melodie, oder Melodie. Eine oder zwey kurze und leichte T�ne, vor einem langen und durch den Accent nachdr�klichen, als: Melodieoder Melodie, dr�ken etwas wildes und ungest�hmes aus; sehr schwerf�llig aber ist diese Eintheilung Melodie. Wenn wesentlich kurze T�ne sehr lang gemacht werden, wie hier: Melodieso giebt dieses dem Gang etwas wiederspenstiges, und anfahrendes. Es ist sehr zu w�nschen, da� ein Tonsezer, der, bey recht feinem Gef�hl, eine weniger ausschweifende Phantasie besizet, als Vo�ius, sich die M�he gebe die besten Melodien in der Absicht zu untersuchen, seine Beobachtungen �ber die Kraft des Rhythmus bekannt zu machen.

7. Endlich kommt in Absicht auf den Ausdruk auch der siebende Punkt, oder die Behandlung der rhythmischen Einschnitte in Betrachtung. Das Wesentlichste, was in Absicht auf die Sch�nheit hier�ber zu sagen ist, kann aus dem, was in dem Art. Glied angemerkt worden, hergeleitet werden. Wir �berlassen dem, der sich vorgenommen hat, den Melodiensaz nach �chten Grunds�zen zu studiren, die Anwendung jener Anmerkungen, auf den Gesang zu machen. Sie wird ihm, bey dem geh�rigen Nachdenken nicht schweer werden. Hier merken wir nur noch �berhaupt an, da� ganz kleine Glieder, oder Einschnitte, sich besser zu leichten und t�ndelnden, [753] auch nach Beschaffenheit der �brigen Umst�nde zu ungest�hmen, heftigen Leidenschaften, gr�ssere zu ernsthaften, schiken. Alles was pathetisch, ernsthaft, betrachtend und and�chtig ist, erfodert lange, und wol in einander geschlungenen Glieder, oder Einschnitte. Sowol das Lustige, als das Tobende sehr kurze, und merklicher von einander Abgesonderte. Es ist ein sehr wichtiger Fehler, wenn Tonsezer, durch den Beyfall, den unerfahrne und unge�bte Ohren, gewissen sehr gef�lligen so genannten Gallanteriest�ken geben, verf�hret, auch bey ernsthaften Sachen und so gar in Kirchenst�ken, eine in so kleine, mehr niedliche, als sch�ne S�ze zerschnittenen Gesang h�ren lassen. Hingegen w�r es auch allemal ein Fehler, wann die Einschnitte so weit ged�hnt w�ren, da� sie unvernehmlich w�rden; oder wenn gar der ganze Gesang, ohne merkliche Einschnitte, wie ein ununterbrochener Strohm wegfl��e. Dieses geht nur in besondern F�llen an, da der Gesang mehr ein fortrauschendes Geschrey, als einen w�rklichen Gesang vorstellen soll. Uebrigens werden wir noch an einem andern Orte Gelegenheit haben, verschiedene Beobachtungen �ber diesen Punkt, besonders �ber das Ebenmaa� der Glieder zu machen.13

Dieses aber mu� in Absicht auf den Ausdruk noch gemerkt werden, da� durch Abwechslung l�ngerer und k�rzerer Einschnitte sehr merklich k�nne gemacht werden, wie eine Leidenschaft allm�hlig heftiger und ungest�hmer wird, oder wenn sie mit Ungest�hm anf�ngt, nach und nach sinket. Wir wollen hier nur noch einige besondere Beyspiele anf�hren, an denen man f�hlen wird, wie ein und eben dieselbe Folge von T�nen, durch Verschiedenheit des metrischen und rhythmischen, ganz verschiedene Charaktere annihmt. Man versuche, den schon oben angef�hrten melodischen Saz auf die verschiedenen nachstehenden Arten abge�ndert, zu singen:

Melodie
Melodie
Melodie
Melodie
Melodie

Hiebey gebe man bey jeder Ver�nderung auf den Charakter dieses Sazes genau Achtung; so wird man ohne Weitl�uftigkeit und ohne alle Zweydeutigkeit empfinden, was f�r gro�e Ver�nderungen in dem Charakter und Ausdruk bey einerley Folge von T�nen, die Ver�nderung des metrischen und rhythmischen verursachet, und begreifen, da� dieses das meiste zum Ausdruk beytrage.

Uebrigens w�rde es ein l�cherliches Unternehmen seyn, dem Tonsezer besondere Formeln, oder kleine melodische S�ze vorschreiben zu wollen, die f�r jede [754] Empfindung den wahren Ausdruk haben, oder gar zu sagen, wie er solche erfinden soll. Wem die Natur das Gef�hl dazu versagt hat, der lernt es nie. Aber wer Gef�hl hat, dem werden bey flei�iger Uebung im Singen und Spiehlen, beym Phantasieren, bey H�rung guter Sachen und guter S�nger, welches alles nicht zu ofte geschehen kann, einzele melodische S�ze von sehr bestimmten und sch�nen Ausdruk genug vorkommen. Diese mu� er flei�ig sammlen, und zu erforschen suchen, woher ihre Kraft kommt. Er kann zu dem Ende sich �ben verschiedene Ver�nderungen in Versezungen, im Metrischen und Rhythmischen damit zu machen, und denn Achtung geben, in wie weit der Ausdruk dadurch verliehrt, oder gar seine Natur ver�ndert. Durch dergleichen Uebungen wird sich sein Genie zur Erfindung guter Sachen allm�hlig entwikeln.

Bevor ich diesen Hauptpunkt der guten Melodie verlasse, kann ich mich nicht enthalten gegen einen sehr gew�hnlichen Mi�brauch, von dem sich leider auch die besten Sezer zu unsern Zeiten hinreissen lassen, ernstliche Erinnerungen zu thun. Man trift nur gar zu ofte unter richtigen und sch�nen S�zen, andre an, die au�er dem Charakter des Tonst�ks liegen, und gar nichts ausdr�ken, sondern blos da sind, da� der S�nger die Fertigkeit seiner Kehle, der Spiehler die Fl�chtigkeit seiner Finger zeigen k�nne. Und denn giebt es Tonsezer, die sich von solchen S�zen gar nicht wieder loswikeln k�nnen, ehe sie dieselben durch alle Versezungen durchgef�hret, izt in der H�he, denn in der Tiefe, izt stark und dann schwach, bald mit geschleiften und denn mit gesto�enen T�nen haben h�ren lassen. Ein wahrer Unsinn, wodurch alles, was uns die guten Sachen haben empfinden lassen, v�llig ausgel�scht und zerst�hrt, und wodurch der S�nger aus einen Gef�hlvollen und Empfindung-erwekenden Virtuosen in einem Luftspringer verwandelt wird. Nichts beweiset den frevelvollen Geschmak unsrer Zeit so unwiedersprechlich, als der allgemeine Beyfall, den eine so abgeschmakte Sache, wie diese, gefunden hat, wodurch auch die besten Meister sich in solche Kindereyen haben hinreissen lassen.

Nicht viel besser, als dieses, sind die �bel angebrachten Mahlereyen nat�rlicher Dinge aus der k�rperlichen Welt, davon wir aber schon in einem eigenen Artikel das N�thige erinnert haben.

IV. Ueber alles, was bereits von den Eigenschaften der Melodie gesagt worden, mu� auch noch dieses hinzukommen, da� sie singbar, oder spielbar, und, nach Beschaffenheit ihrer Art, leicht und ins Geh�r fallend sey: wo diese Eigenschaft fehlet, da werden die andern verdunkelt. Dazu wird erfodert, da� der Tonsezer selbst ein S�nger sey, oder da� er es gewesen sey, und da� er einige Uebung in den meisten Instrumenten habe, um zu wissen, was in jeder Stimme leicht oder schweer sey. Denn au�erdem, da� gewisse Sachen an sich, des starken Dissonirens halber, jeder Stimm und jedem Instrument schweer sind, werden es andere, weil die Tonsezer die Natur des Instruments, wof�r sie gesezt sind, oder die Art, wie man darauf spielt, nicht genug gekannt, oder �berlegt hat.

Die Leichtigkeit, das Gef�llige und Flie�ende des Gesanges kommt gar ofte von der Art der Fortschreitung her, und hier�ber hat ein Meister der Kunst14 mir mancherley Beobachtungen mitgetheilet, davon ich die vornehmsten jungen Tonsezern zu gefallen hier einr�ken will.

Leicht und fa�lich wird eine Melodie vornehmlich schon dadurch, da� man bey der Tonleiter des angenommenen Tones, so lange man nicht ausweichen will, bleibet, und nirgend einen durch Melodieoder b. erh�hten oder erniedrigten Ton anbringet. Denn die diatonische Tonleiter ist in jedem Intervall, jedem Ohr fa�lich. Es versteht sich von selbst, da� dieses nur von den F�llen gelte, wo der Ausdruk nicht nothwendig das Gegentheil erfodert. Die Regel dienet zur Warnung der Unerfahrnen, die kaum ihren Ton angegeben haben, da sie schon T�ne einer andern Tonart h�ren lassen; vermuthlich, weil sie sich einbilden, es sey gelehrter, wenn sie oft etwas fremdes einmischen.

Aber auch dabey mu� man sich in Acht nehmen, da� man nicht auf gewissen T�nen, die wir Leitt�ne genennt haben15, stehen bleibe, oder von da gegen ihre Natur fortschreite. So kann man z.B. wenn man in der gro�en Tonart Stufenweise von dem Grundton, oder von der Quinte aus auf die gro�e Septime der Tonica gekommen ist, nicht stehen bleiben, noch davon r�kw�rts gehen; die Octave mu� nothwendig darauf folgen. Ist man in der weichen Tonart vom Hauptton Stufenweis bis auf die Sexte gekommen, so mu� man nothwendig von da wieder einen Grad zur�ktreten, welches [755] auch von der kleinen Septime der Dominante gilt, auf die man so gekommen ist; ingleichen mu� man in der harten Tonart, wenn man von der Sexte noch um einen halben Ton steiget, von da wieder in den n�chsten halben Ton unter sich zur�k.

Hiern�chst sind in Absicht auf das Leichte und Gef�llige des Gesanges die W�rkungen der verschiedenen Arten gleichf�rmiger Fortschreitungen in Erwegung zu ziehen. Diesen Namen geben wir den Fortschreitungen, die eine Zeitlang durch gleichnahmige Intervalle, n�mlich durch Secunden, Terzen, Quarten u.s.f. geschehen. Diese sind allemal leichter, als die ungleichf�rmigen, oder springenden, da man jeden Schritt durch ein anderes Intervall thut.

Die Fortschreitung durch diatonische Stuffen giebt dem Gesange die gr��te Fa�lichkeit, und ist jedem Ohr angenehm. Sie hat auch f�r die Fugen besonders den Vortheil, da� der Hauptsaz dadurch von einem Gegensaz sich leicht auszeichnet, wie z.B.

Melodie

Nur wird das herauf und herunter Rauschen von einen Ton bis in seine Octave, und von dieser zur Prime, als:

Melodie

worin viele eine Sch�nheit zu suchen scheinen, zum Ekel. Aber Octavenl�ufe, die Stuffenweis wiederholt werden, gefallen, wie z.B.

Melodie

Nach der Stufenweis gehenden Fortschreitung kommt die, da die zweyte Stuffe wiederholt wird, als:

Melodie

Auch dieses findet jeder Liebhaber gef�llig. Aus solchen Secundenweis gehenden Fortschreitungen, die man auf unz�hlige Weisen ver�ndern kann, entstehen tausenderley Arten von gef�lligen Melodien, davon wir nur wenige F�lle anf�hren wollen.

Melodie
Melodie

Aber Stufenweis chromatisch fortzuschreiten, hat f�r blo�e Liebhaber etwas mi�f�lliges, und mu� nur da angebracht werden, wo der Ausdruk etwas finsteres, oder gar schmerzhaftes erfodert: in St�ken von vergn�gtem Charakter mu� dieses g�nzlich vermieden werden. Hingegen zum Po�irlichen in comischen St�ken, kann eine solche Fortschreitung, unter angenehme vermischt, gute W�rkung thun.

Nach den Secunden sind die Terzenfortschreitungen angenehm und leicht, auch zur schnellen Bestimmung der Tonart, wenn man von der Tonica eine Terz steigt, oder von ihrer Dominante eine Terz f�llt, sehr dienlich. Man kann eine ganze [756] Folge von Terzenspr�ngen Stufenweise herauf oder heruntergehend anbringen, wie hier:

Melodie

Aber zwey gro�e Terzen nach einander sind nicht nur unangenehm, sondern auch kaum zu singen. Auch Terzenspr�nge wodurch man allm�hlig heruntersteiget, sind auf folgende Art sehr unangenehm und zum Singen unbequ�m.

Melodie

Gut aber sind sie auf nachstehende Weise:

Melodie

Der hier durch einen Queerstrich angezeigte Tritonus hat im Absteigen nichts Wiedriges. Man d�rf nur beyde Arten nach einander singen, um die Richtigkeit dieser Bemerkung zu empfinden.

Auch �bereinander in eine Reyhe gesezte Terzen sind angenehm und leicht, nur m�ssen sie alle aus der Harmonie des Ba�tones seyn. Z.B.

Melodie

Ueberhaupt kann man die Fortschreitung durch Terzen unter die leichtesten und gef�lligsten rechnen.

Man hat sch�ne Melodien, in welchen keine gr��ere Fortschreitungen, als durch Secunden und Terzen vorkommen, und die dennoch Abwechslung und Mannigfaltigkeit genug haben.

Bey Fortschreitungen durch gr��ere Intervalle hat man immer darauf zu sehen, da� sie mit dem Ba�ton consoniren, damit sie im Singen leicht zu treffen seyen. Man kann sie alsdenn wie Stuffen brauchen, durch die man mit Leichtigkeit auf sehr schweere Intervalle herabsteiget. N�mlich die Terz, die Quinte, die Sexte, die Septime und die Octave dienen dieMelodie die Melodiedie Melodiedie Melodieund die gro�e Septime zu treffen, deren jede, als das Subsemitonium einer von jenen Consonanzen ist, folglich durch das Absteigen von ihr leicht getroffen wird. Nur die None wird als Secunde der Octav angesehen, und auf diese Weise vom S�nger gefunden. Dieses wird durch folgende Beyspiele erl�utert.

Melodie

Quartenspr�nge, die Stufenweis h�her steigen, k�nnen auf folgende Weise angebracht werden.

Melodie

Aber durch eine Folge von Quarten herunterzusteigen, oder eine Stuffenweis h�her gehende Folge von fallenden Quarten, ist selten gut. Dar�ber kann folgendes zur Lehre dienen.

Melodie

Ohne Unterbrechung durch Quarten zu steigen, geht auch an; aber der Tritonus mu� nicht dabey vorkommen. Folgendes ist gut:

Melodie

Aber r�kwerts herunter giengen diese zwey Quarten nicht an.

[757] Zwey kleine Quinten k�nnen nicht unmittelbar auf einander folgen, es sey denn, da� einmal die �berm��ige Quarte dazwischen liege, wie in folgendem Beyspiel:

Melodie

Von kleinen Sexten k�nnen nicht �ber zwey nach einander folgen, ohne da� die Tonart dadurch verlezt w�rde. Aber gro�e Sexten k�nnen viel nach einander folgen, zumal bey �fterer Ab�nderung der Modulation. Z. E.

Melodie

Aber folgende Sexten hintereinander w�ren gar nicht zu singen.

Melodie

Mehrere Septimen aber k�nnen nicht unmittelbar auf einander folgen; doch geht es an, wenn consonirende Spr�nge dazwischen kommen.

In Ansehung der gef�lligen Fortschreitung verdienet auch noch angemerkt zu werden, da� die kleinern Intervalle den Gesang angenehmer machen, als die gr�ssern: sie m�ssen also, wenn nicht der Ausdruk das Gegentheil erfodert, am �ftersten gebraucht werden. Dadurch erh�lt man auch den Vortheil, da� die seltenen vorkommenden gr�ssern Spr�nge eine desto bessere W�rkung thun. Aber aus dem was wir schon anderswo angemerkt haben,16 ist auch begreiflich, warum f�r den tiefsten Ba�gesang gr�ssere Intervalle den kleinen vorzuziehen sind. Wo der Gesang vielstimmig ist, da geh�ret es wesentlich zur Fa�lichkeit des Ganzen, da� die Stimmen nicht gegen ihre Natur mit T�nen �berladen werden. Es geht nicht allezeit an, da� man hierin das beste und leichteste Verh�ltnis beobachte, welches darin best�nde, da� wenn der Ba� durch halbe Takte fortr�ket, der Tenor Viertel, der Alt Achtel, und der Discant Sechszehntel h�tte. Aber gut ist es, wenn der Tonsezer, wenigstens so weit es die Umst�nde erlauben, sich diesen Verh�ltnissen zu n�hern sucht. Es ist offenbar, da� hohe T�ne weniger Nachklang haben, als tiefe, und da� sie eben deswegen weniger Nachdruk und Schattirungen, wodurch der Ausdruk unterst�zt wird, f�hig sind. Dieses mu� also durch Ab�nderung der T�ne in hohen Stimmen erreicht werden. Und eben des Nachklanges halber, vertr�gt der Ba� Brechungen, oder sogenannte Diminutionen einzeler T�ne in der tiefern Octave gar nicht, weil sie ein unverst�ndliches Gewirre verursachen. Je h�her aber eine Stimme ist, je mehr vertr�gt sie solche, besonders schaden die daher im Durchgang entstehenden Dissonanzen der h�chsten Stimme gar nichts.

Auch dieses ist zur Vernehmlichkeit sehr gut, und ofte nothwendig, da� wenigstens eine Stimme blos durch ganze Takttheile vorschreitet, durch Viertel in Vierteltakt, und durch Achtel im Achteltakt.

Zulezt m�chte es, besonders in unsern Tagen, da die Melodien gar zu sehr mit unn�zen T�nen �berladen werden, nicht undienlich seyn, auf Einfalt des Gesanges zu dringen. Aber es ist zu bef�rchten, da� die Tonsezer wenig darauf achten. Mancher scheinet in der Meinung zu stehen, da� er um einen so viel geschiktern Tonsezer werde gehalten werden, je mehr T�ne er in einen Takt hereinzwingt. Es w�r �bertrieben, wenn man darauf dringen wollte, da� jede Sylbe des Textes, oder jeder Takttheil nur einen Ton haben sollte. Aber dieses ist gewi� nicht �bertrieben, wenn man behauptet, da� ein Ton auf jeder Sylbe und auf jedem Takttheil, sich besonders auszeichnen m�sse; da� die ganze Kraft der Melodie allemal auf diesen Hauptt�nen beruhe, und da� alle, durch die sogenannte Diminution, oder Brechung dieses Tones, hineingekommene T�ne, als blo�e Ausziehrungen dieses Haupttones anzusehen sind. Da nun alles, was mit Zierrathen �berladen ist, den guten Geschmak [758] beleidiget, so ist auch von der mit Nebent�nen �berladenen Melodie dasselbe Urtheil zu f�llen.

Zu der Einfalt der Melodie rechnen wir auch noch dieses, da� dieselbe durch die begleitenden Stimmen nicht verdunkelt werde. Man wird finden, da� jeder T�nzer lieber und leichter nach einer Melodie tanzt, die nicht durch mehrere Mittelstimmen verdunkelt wird. Dieses beweiset, da� die Mittelstimmen dem Gesang seine Fa�lichkeit benehmen k�nnen. Daher trift man in �ltern Werken, wie z.B. in H�ndels Opern viel Arien an, die keine andre Begleitung, als den Ba� haben. Diese nehmen sich unstreitig am besten aus: aber der S�nger mu� seiner Kunst alsdenn gewi� seyn. Es giebt freylich F�lle, wo, selbst rauschende Mittelstimmen, nothwendig sind, wie z.B. wenn der Ausdruk wild und rauschend seyn mu�, die Melodie aber in einem hohen Discant steht: da thun sehr geschwind rauschende T�ne der Violinen in den begleitenden Stimmen die W�rkung, die von der d�nnen Stimme des S�ngers nicht konnte erwartet werden.

Aber darin mu� der Tonsezer auch die Einfalt der Melodie nicht suchen, da� er die Singestimme im Unisonus von Fl�ten, Violinen oder andern Instrumenten begleiten l��t. Dieses ist vermuthlich schwacher S�nger halber aufgekommen, welche ohne solche H�lfe die Melodie nicht treffen w�rden. Auch will man durch Empfehlung der Einfalt eben nicht sagen, da� man etliche Takte nach einander ganz einf�rmig seyn, oder allezeit nur die T�ne sezen soll, die schlechterdings wesentlich sind. Es w�rde auf diese Weise dem Gesang an der so n�thigen Abwechslung und Mannigfaltigkeit fehlen: wiewol man auch in Tonst�ken gro�er Meister bisweilen Folgen von Takten antrift, da dieselben T�ne wiederholt werden. Alsdenn aber wird durch die Mannigfaltigkeit der Harmonie und viel sch�ne Modulationen, die Abwechslung die der Melodie zu fehlen scheinet, hervorgebracht, welches auch bey lange aushaltenden T�nen zu beobachten ist.

V. Nun bleibet uns noch �brig von der f�nften Eigenschaft einer guten Melodie zu sprechen, wenn sie w�rklich zum Singen, oder wie man sich ausdr�kt, �ber einen Text gemacht wird.

Da� der Ausdruk des Gesanges mit dem, der in dem Text herrschet �bereinkommen m�sse, verstehet sich von selbst. Deswegen ist das erste, was der Tonsezer zu thun hat, dieses, da� er die eigentliche Art der Empfindung, die im Texte liegt, und so viel m�glich den Grad derselben bestimmt f�hle; da� er suche sich gerade in die Empfindung zu sezen, die den Dichter beherrscht hat, da er schrieb. Er mu� zu dem Ende bisweilen den Text ofte lesen, und die Gelegenheit, wozu er gemacht ist, sich so bestimmt als m�glich ist, vorstellen. Ist er sicher die eigentliche Gem�thsfassung, die der Text erfodert, getroffen zu haben, so versuche er ihn auf das richtigste und nachdr�klichste zu declamiren. Eine schweere Kunst17 die dem Tonsezer h�chst n�thig ist. Alsdenn suche er vor allen Dingen in der Melodie die vollkommenste Declamation zu treffen. Denn Fehler gegen den Vortrag der W�rter geh�ren unter die wichtigsten Fehler des Sazes. Er bemerke genau die Worte und Sylben, wo die Empfindung so eindringend wird, da� man sich etwas dabey zu verweilen w�nschet. Dort ist die Gelegenheit, die r�hrendsten Manieren, auch allenfalls kurze L�ufe, (denn lange sollten gar nicht gemacht werden) anzubringen. Hat er Gef�hl und Uebung im Saz, so werden ihm Bewegung und Takt, wie sie sich schiken, ohne langes Suchen einfallen. Aber den schiklichsten Rhythmus und die besten Einschnitte zu treffen, wird ihm, wo der Dichter nicht vollkommen musicalisch gewesen ist, ofte sehr schweer werden.

Es bedarf kaum der Erinnerung, da� die Einschnitte und Perioden, mit denen die im Texte sind �bereinkommen m�ssen. Aber wenn diese gegen das Ebenmaa� der Musik streiten? Alsdenn mu� der Sezer sich mit Wiederholungen, und mit Versezungen einzeler W�rter zu helfen suchen. H�chst ungereimt sind die Schilderungen k�rperlicher Dinge in der Melodie, welche der Dichter nur dem Verstand, nicht der Empfindung vorlegt. Davon aber ist schon anderswo das N�thige erinnert worden.18 Noch unverzeihlicher und w�rklich. abgeschmakt sind Schilderungen einzeler Worte nach ihrem leidenschaftlichen Sinn, der dem Ausdruk des Textes v�llig entgegen ist. Wie wenn der Dichter sagte: weinet nicht, und der Tonsezer wollte auf dem ersten Worte weinerlich thun. Und doch trift man solche Ungereimtheiten nur zu ofte an.

Endlich ist auch noch anzumerken, da� gewisse Fehler gegen die Natur des Taktes, die Melodien h�chst unangenehm und wiedrig machen. Dergleichen Fehler sind die, da die Dissonanzen auf Takttheilen, die sie nicht vertragen, angebracht werden. [759] Im 3/4 Takt, wo die R�kungen durch Viertel geschehen, k�nnen die Vorhalte oder zuf�lligen Dissonanzen nur auf dem ersten Viertel angebracht werden; geschehen aber in diesem Takt die R�kungen durch Achtel, so k�nnen diese Dissonanzen auf dem ersten, dritten und f�nften Achtel stehen: hingegen im 6/8 Takt, fallen sie auf das erste und vierte Achtel, und werden mit dem zweyten, oder dritten, f�nften oder sechsten vorbereitet. Dieses sind sehr wesentliche Regeln, die man ohne Beleidigung des Geh�res nicht �bertreten kann.

1S. Gesang.
2Art. Musik.
3S. Ton, Tonart.
4S. Leitton.
5 Ton, Tonart.
6S. Metrum.
7S. Einf�rmigkeit.
8S. Accent.
9S. Takt.
10 Glied; Gruppe; Anordnung, in welchen Artikeln dieses deutlich bewiesen worden.
11S. Einschnitt Periode.
12Im Art. Lied. S. 716.
13S. Rhythmus.
14Hr. Kirnberger.
15S. Leitton.
16S. Eng.
17S. Vortrag in redenden K�nsten.
18S. Mahlerey in der Musik.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Sch�nen K�nste, Band 2. Leipzig 1774.
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