In der mathematischen Fachliteratur werden die Bernoulli-Zahlen als drei unterschiedliche Folgen definiert, die aber sehr eng zusammenhängen. Da ist einmal die ältere Notation (bis ins 20. Jahrhundert im Wesentlichen genutzt), die hier mit bezeichnet wird, und die beiden neueren Formen, die in diesem Artikel mit und bezeichnet und seit circa Mitte des 20. Jahrhunderts meistens benutzt werden. Eine genauere Verbreitung oder der historische Übergang der Konventionen lässt sich schwer objektivieren, da dies stark vom jeweiligen Mathematiker und dem Verbreitungsgebiet seiner Schriften abhing bzw. abhängt. Eine heutzutage gängige implizite Definition der Bernoulli-Zahlen ist, sie über die Koeffizienten folgender Taylorreihen entweder als
oder (durch Spiegelung an der y-Achse) als
bzw. früher als
einzuführen. Hierbei sind die Zahlen und die Koeffizienten der Reihenentwicklung bzw. die Glieder der Bernoulli-Zahlenfolge. Die Reihenentwicklungen konvergieren für alle x mit Ersetzt man durch , so erkennt man die Gültigkeit von , d. h., die beiden erstgenannten Definitionen unterscheiden sich lediglich für den Index 1, alle anderen bzw. mit ungeradem Index sind null. Zur sicheren Unterscheidung können die Glieder als die der ersten Art (mit ) und die als die der zweiten Art (mit ) bezeichnet werden.
Auf der zuletzt aufgeführten Reihe fußt die ältere Definition; bei dieser kommen nur Glieder mit Indizes vor, d. h. die Glieder mit Index 0 und 1 müssen separat betrachtet werden. Für die verbleibenden Koeffizienten mit geradem Index (genau diese sind nicht null) wählt man eine eigene Definition, so dass diese alle positiv sind. Daher gilt
Genau dies hatte auch Jakob I Bernoulli bei seiner Erstbestimmung gemacht und so die ältere Notation begründet, er hatte sie allerdings noch nicht durchnummeriert. Er entdeckte diese Zahlen durch die Betrachtung der Polynome, welche die Summe der Potenzennatürlicher Zahlen von 1 bis zu einem gegebenen mit kleinen ganzzahligen Exponenten beschreiben. Z. B.
Dies führt letztlich über die Faulhaberschen Formeln auf die Euler-Maclaurin-Formel, in der die Bernoulli-Zahlen eine zentrale Rolle spielen. Bewiesen hat er ihre allgemeinen Werte nicht, nur die der kleineren Koeffizienten korrekt errechnet – seine entsprechenden Aufzeichnungen wurden postum veröffentlicht.
Die Zahlen bilden eine streng konvexe (ihre Differenzen wachsen) Folge.
Die Nenner der sind stets ein Vielfaches von 6, denn es gilt
der Satz von Clausen und von-Staudt, auch Staudt-Clausen’scher Satz[1] genannt:
Er ist benannt nach der unabhängigen Entdeckung von Thomas Clausen und Karl von Staudt 1840.
Der Nenner der ist also das Produkt aller Primzahlen, für die gilt, dass den Index teilt. Unter Nutzung des kleinen Fermatschen Satzes folgt somit, dass der Faktor diese rationalen Zahlen in ganze Zahlen überführt.
Auch wenn die Folge der zunächst betragsmäßig relativ kleine Zahlenwerte annimmt, geht mit wachsendem doch schneller gegen Unendlich als jede Exponentialfunktion. So ist z. B.
Möchte man die Bernoulli-Zahlen der ersten Art beschreiben, also , so ergeben sich diese Bernoulli-Zahlen aus der Rekursionsformel mit
und dem Startwert . Für ungerade Indizes folgt daraus wieder . Diese Formel entstammt der impliziten Definition der Bernoulli-Zahlen erster Art, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts auch die gebräuchlichste Definition war, da sie eine leicht zu merkende Gestalt hat:
die auch in der weniger verbreiteten Form geschrieben werden kann als
wobei in diesen Darstellungen Potenzen von als die entsprechend indizierten Bernoulli-Zahlen zu interpretieren sind. Für die Bernoulli-Zahlen der zweiten Art lässt sich analog sowohl
als auch
oder eleganter
schreiben und als induktive Definition der Bernoulli-Zahlen zweiter Art verwenden mit zu
Ein möglicher Algorithmus zur Berechnung der Bernoullizahlen in der Programmiersprache Julia nach den oben angegebenen Rekursionsformeln für vorgegebenen Wert ist:
und die des natürlichen Logarithmus der Gammafunktion
die als Logarithmus der Stirlingformel bekannt ist. Diese lässt sich einfach aus der asymptotischen Form der Euler-Maclaurin-Formel ableiten, die in ihrer symmetrischen Schreibweise
lautet – wobei hier der Ausdruck die -te Ableitung (speziell für das Integral) der Funktion ausgewertet an der Stelle bedeutet –, wenn man dort setzt, die untere Summationsgrenze zu wählt und die obere Summationsgrenze mit variabel hält.
Dies ist eine der bekanntesten Anwendungen der Bernoulli-Zahlen und gilt für alle analytischen Funktionen , auch wenn diese asymptotische Entwicklung in den meisten Fällen nicht konvergiert.
Die folgenden Reihenentwicklungen liefern die (im oben genannten Sinne) „klassischen“ Bernoulli-Zahlen:
Für die „modernen“ Bernoulli-Zahlen gilt
wobei im Fall der neueren Definition für n=1 undefinierte Ausdrücke der Form entstehen, die aber gemäß der Regel von de L’Hospital wegen den Pol erster Ordnung der Riemannschen Zetafunktion bei 1 (bzw. in der letzten Darstellung den Term im Nenner) aufheben und somit korrekt den Wert liefern.
Für die Bernoulli-Zahlen zweiter Art gibt es noch die prägnante Darstellung
so dass die gesamte Theorie der Riemannschen Zetafunktion zur Charakterisierung der Bernoulli-Zahlen bereitsteht.
Beispielsweise geht aus der Produktdarstellung der Riemannschen Zeta-Funktion und obigen Reihenentwicklungen der Bernoulli-Zahlen die folgende Darstellung hervor:
.
Hierbei erstreckt sich das Produkt über alle Primzahlen (siehe auch Eulerprodukt der Riemannschen Zetafunktion).
Es gibt viele uneigentliche Integrale mit Summen oder Differenzen von zwei Exponentialfunktionen im Nenner des Integranden, deren Werte durch Bernoulli-Zahlen gegeben sind. Einige einfache Beispiele sind
Für jedes ist das Bernoulli-Polynom eine Abbildung und durch folgende Rekursionsgleichungen vollständig charakterisiert: Für setzen wir
und für ergibt sich das -te Bernoulli-Polynom eindeutig durch die beiden Bedingungen
und
rekursiv aus dem vorherigen.
Als Summe der Potenzen von geschrieben lautet der Ausdruck für das -te Polynom
wobei hier wieder die die Bernoulli-Zahlen erster Art bezeichnen. Diese Form
folgt direkt aus der symbolischen Formel
worin man die Potenzen von als die entsprechende n-te Bernoulli-Zahl interpretiert.
Die ersten Bernoulli-Polynome lauten
Diese Polynome sind symmetrisch um , genauer
Ihre konstanten Terme sind die Bernoulli-Zahlen erster Art, also
die Bernoulli-Zahlen zweiter Art erhält man aus
und schließlich gilt
in der Intervallmitte.
Das k-te Bernoulli-Polynom hat für k > 5 weniger als k Nullstellen in ganz und für gerades n ≠ 0 zwei und für ungerades n ≠ 1 die drei Nullstellen im Intervall .
Sei die Nullstellenmenge dieser Polynome. Dann ist
für alle n ≠ 5 und n ≠ 2 und es gilt
wobei die Funktion angewandt auf eine Menge deren Elementanzahl angibt.
Die Funktionswerte der Bernoulli-Polynome im Intervall [0,1] sind für geraden Index durch
und für ungeraden Index (aber nicht scharf) durch
beschränkt.
Ferner genügen sie der Gleichung
,
falls man sie auf ganz analytisch fortsetzt, und die Summe der Potenz der ersten natürlichen Zahlen lässt sich mit ihnen als
beschreiben. Die Indexverschiebung von zu auf der rechten Seite der Gleichung ist hier notwendig, da man historisch die Bernoulli-Poynome an den Bernoulli-Zahlen erster Art (und nicht zweiter Art) „fälschlicherweise“ festmachte[3] und somit statt den Summanden in obigen Bernoulli-Poynomen erhält, was hier genau den Wert zu wenig ergibt (den letzten Term der Summe auf der linken Seite), und daher auf der rechten Seite dieser Index noch „eins weiter“ laufen muss.
Bernoulli-Zahlen in der algebraischen Zahlentheorie
bekannt, die etwas stärker ist als der vorherige Satz von Clausen und von-Staudt zur Charakterisierung der Nenner. Die Folge der so bestimmten ganzen Zahlen für geradzahligen Index lautet .
Kummersche Kongruenz:
Eine ungerade Zahl heißt reguläre Primzahl, wenn sie keinen der Zähler der Bernoulli-Zahlen mit teilt. Kummer zeigte, dass diese Bedingung äquivalent dazu ist, dass nicht die Klassenzahl des p-ten Kreisteilungskörpers teilt. Er konnte so 1850 beweisen, dass der große Fermatsche Satz, nämlich hat für keine Lösungen in , für alle Exponenten gilt, die eine reguläre Primzahl sind. Damit war beispielsweise durch das Überprüfen der Bernoulli-Zahlen bis Index 94 der große Fermatsche Satz mit Ausnahme der Exponenten 37, 59, 67 und 74 für alle anderen Exponenten ≤ 100 bewiesen.
Tangentenzahlen und Anwendungen in der Kombinatorik
Betrachtet man die Eulerschen Zahlen und die Taylorentwicklung der Tangens-Funktion, so kann man die Tangenten-Zahlen[4] implizit definieren zu
und für Index Null noch setzen. Man hat somit die Transformation
die aus den Bernoulli-Zahlen erster Art diese Folge ganzer Zahlen erzeugt:
Da die Vorzeichenwahl in der impliziten Definition völlig willkürlich ist, kann man genauso berechtigt mittels
die Tangentenzahlen definieren, mit der Konsequenz
und hat für alle Indizes
In jedem Fall sind mit Ausnahme von alle Zahlen mit geradem Index Null und die mit ungeradem Index haben alternierendes Vorzeichen.
Die Werte sind nun genau die Anzahl alternierender Permutationen einer elementigen Menge. Weitere Informationen zur direkten Bestimmung der Tangentenzahlen findet man im Artikel Eulersche Zahlen.
In der Kombinatorik lassen sich die Bernoulli-Zahlen zweiter Art auch durch die Stirling-Zahlen zweiter Art darstellen als
Die Werte werden auch als Worpitzky-Zahlen bezeichnet.[5]
Ein weiterer Zusammenhang ergibt sich über die erzeugende Potenzreihe der Stirling-Polynome mit wegen
mit den Stirling-Zahlen erster Art zu
die man so für negatives definieren könnte.
Daher sind die Bernoulli-Zahlen zweiter Art auch die Werte der Stirling-Polynome bei Null
Hier im Artikel sind die Bernoulli-Zahlen zu Anfang willkürlich mittels erzeugender Potenzreihen definiert worden. Die formale Potenzreihe von tritt aber auch direkt bei der Bestimmung der Todd-Klasse eines Vektorbündels auf einem topologischen Raum auf:
wobei die die Kohomologieklassen von sind. Wenn endlich-dimensional ist, dann ist ein Polynom. Die Bernoulli-Zahlen zweiter Art „zählen“ hier also ganz natürlich gewisse topologische Objekte. Diese formale Potenzreihe schlägt sich genauso im L-Geschlecht bzw. Todd-Geschlecht der charakteristischen Potenzreihe einer orientierbarenMannigfaltigkeit nieder.[6]
Jürgen Neukirch: Algebraische Zahlentheorie. Springer-Verlag, 1992.
Kenneth F. Ireland, Michael Rosen: A Classical Introduction to Modern Number Theory. Graduate Texts in Mathematics, Bd. 84, Springer-Verlag, 2. Auflage 1990, Kap. 15, S. 228–248.