1919
Erscheinungsbild
- [75] 1919
- Dem Andenken Gustav Landauers
- Mai 1919
- Die das Volk bisher geleitet,
- folgend dem gewohnten Lichte,
- waren nicht drauf vorbereitet:
- es begibt sich Weltgeschichte.
- 5Wild schlägt der Empörung Welle
- an des Staates morsche Fugen.
- Krachend bersten die Gestelle,
- die die alte Ordnung trugen.
- Ja, ja, ihr Herrn, so geht's,
- 10hört man die Demokraten.
- Wir sagten es ja stets:
- es kann nicht wohl geraten,
- wenn man nach eignem Willen tut
- und fragt nicht das Parteistatut.
- 15Fürsten gleiten von den Thronen,
- Völker lösen ihre Bande,
- und es reiben sich Millionen
- aus den Augen Schmerz und Schande.
- Sie erwachen und begreifen
- 20Gegenwart und Zukunft — beides,
- und sie sehn Befreiung reifen
- aus den Wurzeln ihres Leides.
- Halt, liebe Leute, halt!
- Vertraut bewährten Führern.
- 25Sonst kommt ihr in Gewalt
- von skrupellosen Schürern.
- Folgt uns, so hilft euch gern der Staat,
- wie er euch stets geholfen hat.
- [76] Finstre Mächte, die gewaltsam
- 30Völker unter Fäuste preßten,
- flüchten scheu, — und unaufhaltsam
- strömt die Menge zu den Besten.
- Und sie hört die neuen Lehren,
- formt des Glückes Traumgebäude;
- 35Leid scheint sich in Lust zu kehren
- und die Arbeitslast in Freude.
- Gewiß — nun ja — auch wir
- sind Revolutionäre —
- und schwingen das Panier.
- 40Doch Umsturz ist Chimäre.
- Besänftigt euern Seelenschwung
- und stört nicht die Entwickelung.
- Stimmen, die erst leise riefen,
- tönen jubelnd wie Posaunen,
- 45uud[1] das Volk aus seinen Tiefen
- reckt die Arme hoch voll Staunen.
- Wie an unsichtbaren Drähten
- zieht die Wahrheit in die Geister,
- und das Volk in seinen Räten
- 50fühlt sich seines Schicksals Meister.
- Arbeiter-, Bauernrat?
- Wir ziehn ihn schon, den Bankert.
- Er sei im Bürgerstaat
- genehmigt und verankert!
- 55Jetzt zeigt sich's doch wohl jedem Kind,
- was wir für Sozialisten sind.
- [77] Das Errungene zu wahren,
- neue Freiheit zu gewinnen,
- sammeln sich des Volkes Scharen
- 60zu gewaltigem Beginnen.
- Die ihr Werk sich selber bauen,
- fürchten keine Widerstände,
- denn es stützt sich ihr Vertrauen
- auf die Kraft der eignen Hände.
- 65Nein, mit Verlaub: dies jetzt
- ist nicht mehr zu gestatten.
- Mit solchem Vorgehn setzt
- ihr uns ja in den Schatten.
- Und wir sind da, euch zu erziehn
- 70zu Ruhe, Ordnung, Disziplin.
- Stein auf Stein nach kühnen Plänen
- wird das stolze Haus errichtet,
- plaudernd unter Freudentränen
- künftiges Glück hineingedichtet.
- 75Aber denen, die geschäftig
- ränkevoll den Bau umlauern,
- drohen ein paar Fäuste kräftig,
- sie verscheuchend von den Mauern.
- Wir üben nur Kritik.
- 80Ihr werdet's noch erfahren:
- Ihr Recht der Republik,
- doch auch sein Recht dem Zaren.
- Drum halten wir's zu jeder Zeit
- gesetzlich mit der Obrigkeit.
- 85[78] Trotzig stehen auf den Stufen
- vor dem Eingang die Genossen:
- Rührt am Werk nicht, das wir schufen!
- Euch ist dieses Tor verschlossen.
- Unser Herzblut hält die Quadern,
- 90die das Dach des Hauses stützen.
- Wagt's! — Das Blut aus unsern Adern
- soll der Kinder Wohnhaus schützen!
- Oho! Da hilft man schon.
- Habt ihr für euern Tempel
- 95denn auch die Konzession
- und den Regierungsstempel? —
- Wir sind Regierung, — sind erwählt.
- Man hat die Stimmen ausgezählt.
- Eignen Willens Wort zu hören,
- 100drängt das Volk zu den Erkornen:
- Zu den Waffen! Sie zerstören
- uns das Heim der Ungebornen!
- Wer's versucht, den soll's gereuen!
- Freier Zukunft frei die Bahnen! –
- 105Und es eilen die Getreuen
- kampffroh zu den roten Fahnen.
- Zu Hilfe, Bürger, schnell!
- Ein Aufruhr tobt, ein frecher.
- Wer selber kein Rebell,
- 110hilft gegen die Verbrecher.
- Mit Dolch und Flinte kommt zuhauf
- und fahrt auch die Haubitzen auf!
- [79] In dem Glauben an das Gute,
- in dem Wissen um das Rechte
- 115steht das Volk, mit seinem Blute
- Trotz zu bieten im Gefechte.
- Der Berater Stimmen schallen;
- aus den Augen blitzen Strahle.
- Aufrecht! — Siegen oder fallen!
- 120Hoch die Internationale!
- Seht die Banditenschar
- mit ihren großen Mündern,
- jedweder Ehre bar,
- begierig nur zu plündern!
- 125Schuft! Räuber! Mörder! Trunkenbold!
- Ein jeder käuflich nur für Gold!
- Auf von ihren Schmerzensbetten
- zu den Brüdern treibt's die Bleichen,
- hinkend aus den Lazaretten,
- 130die geblutet für die Reichen.
- Letzte Kraft will sich ermannen.
- Frauen selbst stehn auf zum Kampfe,
- daß die Machtgier der Tyrannen
- nicht der Kinder Glück zerstampfe.
- 135Herbei, ihr Leut zumal,
- ihr Heiden, Juden, Christen!
- Es geht fürs Kapital, —
- und wir sind Sozialisten!
- Pennäler! Bauer! Offizier!
- 140Ran! Keiner zahlt so gut wie wir!
- [80] Rauch wölkt auf. Geschosse fliegen.
- Gruppen gehen vor und weichen.
- Vor dem Bau der Freiheit liegen
- Kämpfer, — Leichen über Leichen.
- 145Die sich nicht ergeben wollen,
- drängen sterbend sich zusammen.
- Donner der Geschütze rollen, —
- und der Tempel steht in Flammen.
- Heil, weiße Garde, heil!
- 150Da liegt die ekle Horde.
- Stoßt sie vors Hinterteil
- für ihre feigen Morde!
- Und zuckt noch wo ein solcher Wicht, —
- packt ihn — und vor das Standgericht!
- 155Jubel übertönt das Trauern.
- Fahnen wehn und Salven krachen.
- An der Kerkerhöfe Mauern
- staut sich Blut in breiten Lachen.
- Zwischen Zellenwänden siechen
- 160die von Haß und Blei Verschonten ...
- Doch aus ihren Winkeln kriechen
- die schon längst vom Volk Entthronten.
- Willkommen, hohe Herrn!
- Soziale Demokraten
- 165stehn wir zu Diensten gern
- für Sie mit Wort und Taten. —
- Doch machen Sie sich nicht so breit,
- nachdem wir grade Sie befreit.
- [81] Stück für Stück bricht vom Gefüge,
- 170das des Volkes Tat geschaffen.
- Knebelung, Gewalt und Lüge
- sind wie je des Staates Waffen.
- Und dem armen Volke fehlen
- die der Rede Gabe hatten. —
- 175Doch der Toten bleiche Seelen
- halten Rat im Reich der Schatten.
- Weh! Teuflischer Verrat!
- Die wir erlöst aus Banden,
- die schlagen jetzt den Staat
- 180und schlagen uns zu Schanden!
- Hilf du uns, Volk, hilft uns nicht Gott,
- vom Untergang und vom Bankrott.
- Eines Tages in den Quellen
- scheinbar ausgedorrter Bäche
- 185brodeln neue Lebenswellen,
- flutend an die Oberfläche.
- Aller Völker Hände greifen
- zueinander wie zum Beten, —
- und der Morgensonne Streifen
- 190übergolden den Planeten.
Anmerkungen:
- ↑ Fehler im Original