Lili Pollatz
P. war eine deutsche Reformpädagogin, die in den 1920er-Jahren zusammen mit ihrem Ehemann Manfred Pollatz in Klotzsche eine eigene Schule gründete und betrieb. Von den Nationalsozialisten verfolgt, emigrierten beide in die Niederlande wo sie für jüdische Flüchtlingskinder ein Heim und eine Schule eröffneten. – P. stammt aus einer Kaufmannsfamilie und verbrachte ihre Jugendjahre in Wiesental (Schwarzwald), Hamburg, Augsburg, Fourmies (Frankreich) und London. Nach dem Abschluss des Higher Certificate Examination 1901 in London, besuchte sie das Städtische Gymnasium in Leipzig und wechselte dann an eine Privatschule des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, an der sie im Juli 1905 die Abiturprüfung ablegte. Ab dem 21.4.1906 war P. an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig eingeschrieben. Sie gehörte damit zu den ersten Leipziger Studentinnen, die sich regulär immatrikulieren konnten. Zu dieser Zeit schlossen sich Leipziger Kommilitoninnen, darunter P., in einem „Verein immatrikulierter Studentinnen“ zusammen, der dem übergeordneten „Verband der studierenden Frauen Deutschlands“ (später: „Verband der Studentinnenvereine Deutschlands“) angehörte. Dessen Zweck war eine engere Verbindung studierender Frauen, finanzielle Unterstützung und politische Partizipation. P. war dann während ihres gesamten Studiums Schriftführerin dieses Vereins sowie Vorstandsmitglied und einige Jahre auch Vorsitzende. Sie studierte bis zum Wintersemester 1910/11 Englisch, Deutsch und Geschichte und legte in diesen Fächern die Lehramtsprüfung ab. Anschließend absolvierte sie an der Ersten Städtischen Höheren Schule für Mädchen in Leipzig das Probejahr. 1911 beantragte P. eine Versetzung an die Städtische Höhere Mädchenschule nach Dresden, um ihrem zukünftigen Ehemann Manfred Pollatz nahe zu sein. Am 6.5.1914 wurde sie dort als ständige Lehrerin verpflichtet, doch schon kurz darauf kam es zu einem Skandal, da sie sich nach Kriegsbeginn öffentlich für England einsetzte. Infolge dieser Auseinandersetzung, die bis zum Oberbürgermeister Gustav Otto Beutler gelangte, kündigte P. am 17.4.1915 zu Ostern 1916 den Schuldienst. Dazwischen heiratete sie am 27.12.1915 in Dresden Manfred Pollatz, den sie während ihres Studiums in Leipzig kennengelernt hatte. Es erfolgte der Umzug in eine Villa im Vorort Klotzsche, wo das Paar zu Ostern 1916 eine gemeinsame Schule nach den Grundsätzen der Reformpädagogik, des Arbeitsschulgedankens und der Gemeinschaftserziehung nach Hugo Gaudig und
Georg Kerschensteiner eröffnete. Es handelte sich hierbei um eine koedukative Privatschule nach dem Lehrplan des Dresdner König-Georg-Gymnasiums mit einem Schwerpunkt auf Sport und Kunst. P. unterrichtete an dieser Schule bis zu deren Schließung zu Ostern 1920 vornehmlich Sprachen. – Während der kurzen Zeit an der Privatschule und dann in den 1920er-Jahren war P. hauptsächlich mit dem Aufziehen ihrer Kinder beschäftigt. Ab 1916 begann sie zudem, in Klotzsche Vormittagskurse für Mädchen und junge Frauen anzubieten, um diese in Sprachen, Volkswirtschaftslehre und Bürgerkunde weiterzubilden. Später bot sie in Zusammenarbeit mit den örtlichen Gewerkschaften auch Abend- und Hauskurse für Erwerbslose an. – In den 1920er-Jahren fand P. zu den Quäkern, die sie über die örtliche „Quäkerspeisung“ kennenlernte, an der auch ihre Kinder teilnahmen. Die gesamte Familie trat um 1923 aus der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen aus und 1929 der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) bei. Ab Juli 1930 fanden Andachten und Vortragstreffen in der Villa der Familie statt, wozu eigens ein Raum eingerichtet wurde. 1931 fand die Jahresversammlung der deutschen Quäker auf Initiative von P. und ihrem Ehemann in der Reformsiedlung Hellerau statt. – P. hielt, wie auch ihr Mann, in Dresden und Umgebung bei zahlreichen sozialpolitischen Vereinen Vorträge zu religiösen und politischen Themen, u.a. bei der „Deutschen Friedensgesellschaft“, bei der „Frauenliga für Frieden und Freiheit“, bei der „Staatlichen Wohlfahrtsschule Hellerau“ oder im „Weltfriedensbund der Mütter und Erzieherinnen“. – 1932 bis 1940 gab P. zusammen mit ihrem Mann die pazifistische Jugendzeitschrift „Die weiße Feder“ heraus, wofür sie eine umfangreiche Korrespondenz führte, da die Zeitschrift von P. in über 20 Länder verschickt wurde. Ebenso gab sie mit ihrem Mann 1933 bis 1940 die monatliche Mitgliederzeitschrift „Der Quäker“ heraus. In dieser Mitgliederzeitschrift veröffentlichte P. zahlreiche Übersetzungen aus dem Englischen zu religionspädagogischen Themen, zur Rassen- und zur Arbeiterfrage sowie Buchbesprechungen zu Frauenfragen, etwa zu
Jane Addams, zur Situation der Frauen in Indien oder im Islam. Im Zusammenhang mit den Quäkern reiste P. oft nach England. 1932, 1934 und erneut 1938 nahm sie an der Londoner Jahresversammlung der Quäker teil. Gemeinsam mit ihrem Mann war P. als Redakteurin auch Mitglied des „Literatur- und Bücherei-Ausschusses“. Hier arbeiteten beide mit einer ganzen Reihe bedeutender Personen des öffentlichen Lebens eng zusammen, wie etwa mit dem Frankfurter Journalisten
Alfons Paquet, dem Theologen Emil Fuchs oder dem Fastenmediziner
Otto Buchinger. – Zu Beginn der 1930er-Jahre geriet P. in Deutschland zusehends in gesellschaftliche Isolation. Die Familie wurde von der SA beobachtet, während einer kurzzeitigen Verhaftung ihres Mannes im August 1933 musste sie um die Existenz ihrer Familie bangen. Um ihre Kinder frei von nationalsozialistischer Ideologie aufziehen zu können, emigrierte das Ehepaar nach Haarlem (Niederlande), wo sie in der Straße Westerhoutpark 14 ein neues Haus erwarben. – In Haarlem wurde P. Mitbegründerin der dortigen Quäkergruppe. Wie auch ihr Mann besaß P. nach 1934 eine Doppelmitgliedschaft bei den deutschen und bei den niederländischen Quäkern. – In ihrem Haarlemer Haus wurde ab Februar 1934 das „Institut Pollatz“ eingerichtet, das aus einem Kinderheim und einer Schule für Kinder jüdischer Herkunft bestand. Die Schule war offiziell von den holländischen Behörde als Quäkerschule anerkannt, neben der Internationalen Schule Eerde in Ommen in der niederländischen Provinz Overijssel. Beide Schulen konnten auf Vorplanungen zurückgreifen, die in Deutschland um 1930 entstanden waren. – Die jüngeren Kinder wurden in der neuen Schule von P. und ihrem Ehemann sowie von vier Hilfskräften aus Haarlem unterrichtet, wobei P. vornehmlich für Englisch, Mathematik und Religion zuständig war. – Getragen wurde das Institut Pollatz zum größten Teil durch Spenden internationaler Quäkerorganisationen, durch Unterstützungszahlungen des „Jewish Christian Refugee Fund“ und durch den „Ausschuss für Flüchtlingshilfe“ der holländischen Quäker. 1938 setzten die Zahlungen der Schulgelder fast alle aus, ebenso auch die Pensionszahlungen für den Ehemann. Nach der Besetzung Hollands 1940 unterstützte v.a. der holländische Widerstand das Institut, u.a. der Bankier
Eduard Vis, die Sozialarbeiterin
A. H. Loeff-Bokma und die Lehrerin
Emilie Charlotte Knappert. Die Hilfe verschiedener Einrichtungen und Personen ermöglichte das Retten von etwa 20 Kindern und Jugendlichen meist jüdischer Herkunft aus Deutschland und Österreich. P.s Mitarbeit an dem Institut wurde v.a. durch schwere gesundheitliche Probleme, die sich schon nach einer Fehlgeburt 1926 eingestellt hatten, mehr und mehr eingeschränkt. 1937 wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert, sodass sie im Diaconessenhuis operiert werden musste. Hinzu kamen schwere Herzprobleme. Die schweren Schicksalsschläge der Inhaftierung ihres Mannes 1943/44 und die Zwangsschließung des Instituts im Frühjahr 1945 ließen die Krebserkrankung, die vielleicht nie ganz verschwunden war, wieder ausbrechen. Die letzten Lebensmonate zum Pflegefall geworden, verstarb P. am 1.3.1946 in Haarlem. Sie wurde feuerbestattet und ihre Asche auf der Nordsee verstreut. – 2013 wurde das Ehepaar Pollatz unter die „Gerechten der Völker“ (Yad Vashem) aufgenommen, und 2014 wurde P. zu Ehren an ihrem ehemaligen Haarlemer Wohnort ein Denkmal eingeweiht.
Quellen Nederlands Instituut voor Oorlogsdocmentatie Amsterdam, Quäkerarchiv; Stadtarchiv Augsburg; Internationaler Suchdienst Bad Arolsen; Bundesarchiv Berlin; Evangelisches Zentralarchiv Berlin; Humboldt-Universitätsarchiv Berlin; Pfarrarchiv Kreuzkirchgemeinde Dresden; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden; Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden; Stadtarchiv Dresden; The Quaker College Library Haverford; Noord-Hollands Archief Haarlem; Universitätsarchiv Leipzig; American Friends Service Committee; Archive Philadelphia.
Literatur L. Jacob, A Quaker Home-School in Haarlem, in: The Wayfarer 15/1936, S. 81f.; R. Drucker, Zur Vorgeschichte des Frauenstudiums an der Universität Leipzig, in: H. Kretzschmar (Hg.), Vom Mittelalter zur Neuzeit, Berlin 1956, S. 278-290; J. Sutters (Hg.), American Friends Service Committee, New York 1990; K. Tacke, Manfred und Lili P., in: Lebensbilder deutscher Quäker während der NS-Herrschaft 1933-1945, hrsg. von der Religiösen Gesellschaft der Freunde, Bad Pyrmont 1992, S. 83f.; H. Schmitt, Quakers and Nazis, Columbia 1997; A. Franzke, Von den Anfängen, in: I. Nagelschmidt (Hg.), 100 Jahre Frauenstudium an der Alma Mater Lipsiensis, Leipzig 2007, S. 73-91; A. Hollaender, Gedenkteken voor de familie P., in: De Vriendenkring 84/2013, H. 9, S. 15-19; I. Wijnberg, Een monument voor P., in: Wijkkrant van de Koninginnebuurt Willemien 3.7.2013, S. 8-10; dies., A. Hollaender, Er wacht nog een kind, Diemen 2014. – BBKL 33, Sp. 1046-1053.
Porträt Haverford College Quaker Collection, PYMIC, Photographs, 1908-1964, AA66; Lili Engelsmann als Studentin, 1909, Fotografie, Privatarchiv Cordula Tollmien (Bildquelle) [CC-BY-SA-3.0, This work is licensed under a Creative Commons Attribution 3.0 Unported License].
Claus Bernet
19.8.2016
Empfohlene Zitierweise:
Claus Bernet, Artikel: Lili Pollatz,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27099 [Zugriff 18.11.2024].
Lili Pollatz
Quellen Nederlands Instituut voor Oorlogsdocmentatie Amsterdam, Quäkerarchiv; Stadtarchiv Augsburg; Internationaler Suchdienst Bad Arolsen; Bundesarchiv Berlin; Evangelisches Zentralarchiv Berlin; Humboldt-Universitätsarchiv Berlin; Pfarrarchiv Kreuzkirchgemeinde Dresden; Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden; Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden; Stadtarchiv Dresden; The Quaker College Library Haverford; Noord-Hollands Archief Haarlem; Universitätsarchiv Leipzig; American Friends Service Committee; Archive Philadelphia.
Literatur L. Jacob, A Quaker Home-School in Haarlem, in: The Wayfarer 15/1936, S. 81f.; R. Drucker, Zur Vorgeschichte des Frauenstudiums an der Universität Leipzig, in: H. Kretzschmar (Hg.), Vom Mittelalter zur Neuzeit, Berlin 1956, S. 278-290; J. Sutters (Hg.), American Friends Service Committee, New York 1990; K. Tacke, Manfred und Lili P., in: Lebensbilder deutscher Quäker während der NS-Herrschaft 1933-1945, hrsg. von der Religiösen Gesellschaft der Freunde, Bad Pyrmont 1992, S. 83f.; H. Schmitt, Quakers and Nazis, Columbia 1997; A. Franzke, Von den Anfängen, in: I. Nagelschmidt (Hg.), 100 Jahre Frauenstudium an der Alma Mater Lipsiensis, Leipzig 2007, S. 73-91; A. Hollaender, Gedenkteken voor de familie P., in: De Vriendenkring 84/2013, H. 9, S. 15-19; I. Wijnberg, Een monument voor P., in: Wijkkrant van de Koninginnebuurt Willemien 3.7.2013, S. 8-10; dies., A. Hollaender, Er wacht nog een kind, Diemen 2014. – BBKL 33, Sp. 1046-1053.
Porträt Haverford College Quaker Collection, PYMIC, Photographs, 1908-1964, AA66; Lili Engelsmann als Studentin, 1909, Fotografie, Privatarchiv Cordula Tollmien (Bildquelle) [CC-BY-SA-3.0, This work is licensed under a Creative Commons Attribution 3.0 Unported License].
Claus Bernet
19.8.2016
Empfohlene Zitierweise:
Claus Bernet, Artikel: Lili Pollatz,
in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde,
https://saebi.isgv.de/biografie/27099 [Zugriff 18.11.2024].