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Blaubart (Marlitt)

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Textdaten
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Autor: E. Marlitt
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Titel: Blaubart
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–31/32
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[417]
Blaubart.
Von E. Marlitt.


Vor der kleinen Thür, deren eisernes Gitter einen schmalen Einblick in den Garten gewährte, hielt ein Einspänner. Das elende Fuhrwerk war eben in fliegender Eile die Chaussee herabgerasselt und hatte somit bewiesen, daß der häßliche, alte Gaul an der Deichsel und der gelb angestrichene Kutschkasten doch noch nicht so mürbe und lebensmüde seien, wie es den Anschein hatte. Für das verschrumpfte, staubige Lederverdeck war der Gewitterregen, der unaufhaltsam herniederströmte, augenscheinlich eine lange nicht genossene Wohlthat; der hinten aufgebundene elegante Koffer dagegen gewann sicher nicht durch die schwarzgefärbten Bäche, die aus den steifen Lederfalten auf seinen hellen Deckel herabrannen, und der Gaul protestirte durch Schnauben und ohnmächtiges Stampfen gegen das unfreiwillige Bad. Er hätte von seinem Lenker lernen können, wie man sich mit Ruhe und Würde in das Unvermeidliche fügt; der dickköpfige Bursche auf dem Kutschersitz klatschte energisch mit der Peitsche und wartete dann geduldig unter der triefenden Mütze auf den Effect seiner Armbewegung. Aber auch die Insassen des Wagens schienen nicht zu harmoniren mit diesem wahrhaft spartanischen Gleichmuth gegen äußere Unbill; denn als auch die letzte Schwingung des Peitschenknalles drüben an dem Berge verhallt war und hinter der Gartenthür nichts sich rührte und bewegte, als der Regen, der klatschend auf die riesigen Rhabarberstauden niederfiel, da erschien eine schmale Damenhand unter dem Lederbehang, der die Fensteröffnung des Wagens bedeckte. Die feinen Finger, die ein silbergrauer Handschuh so elfenbeinglatt umschloß, daß selbst die zierliche Mandelform der Nägel sich abzeichnete, wurden offenbar von Ungeduld dirigirt; sie gaben sich alle erdenkliche Mühe, den steifen Riemen zu lösen, mittels dessen draußen das Lederstück befestigt war – vergebens. Die Hand zog sich endlich wieder zurück und die Art und Weise, wie sie sich blitzschnell zu einer allerliebsten kleinen Faust zusammenbog, ließ auf einen bedeutenden Grad von Unmuth schließen.

Zu gleicher Zeit hielt es aber auch der Kutscher für angezeigt, sein Signal zu wiederholen, und diesmal blieb es nicht ohne Erfolg. Eine feine Thürklingel ertönte, dann näherten sich rasche Schritte über den knirschenden Kies; ein rother, baumwollener Regenschirm erschien hinter der Gartenthür und unter demselben ein hagerer, alter Mann in gestreifter Weste, einem altmodischen, bis auf die Fersen reichenden Rock und das eigenthümlich breitgedrückte, grundhäßliche Gesicht zwischen zwei steife Vatermörder geklemmt, die ihn zwangen, gleich dem Krokodil, jeder Kopfschwenkung seine gesammte Persönlichkeit hinzuzufügen. Nach einem prüfenden Blick durch das Gitter öffnete er die Thür, nahm sogleich den widerspenstigen Riemen in Angriff und rief in respectvollem Ton nach dem Garten zurück: „Ja, ja, es ist richtig, Frau Hofräthin, es ist der Christian aus Neudorf.“

Sofort trat eine große, stattliche Frau in die Thür. Ihre starken, dunkelgefärbten Züge zeigten unverkennbar freudige Erregung und Erwartung, aber beim Anblick des kläglichen Fuhrwerkes verschwand dieser Ausdruck augenblicklich. Die geröthete Stirn wurde noch dunkler und um den Mund, den der Anflug eines schwarzen Bärtchens beschattete, flog ein Zug heftigen Verdrusses.

„Ei, da soll mich doch Gott bewahren!“ fuhr sie den erschrockenen Burschen auf dem Kutschersitz an. „Ist denn Dein Herr verrückt? Schämt er sich nicht, eine junge Dame von Stande in solch’ einen erbärmlichen Rumpelkasten zu stecken? In solch’ eine Mäuseherberge?“

Während dieses Zornausbruchs hatte der Mann mit dem rothen Regenschirm den widerspenstigen Riemen gelöst, der Lederbehang und die Wagenthür wurde zurückgeschlagen. Ein reizendes Füßchen erschien, aber es vermied den Wagentritt; wie aus der häßlichen Puppe der Schmetterling, so flog eine leichte Mädchengestalt aus der altfränkischen Kutsche auf den Boden, und sogleich schlangen sich zwei Arme, um den Hals der scheltenden Frau Hofräthin.

„Sei nicht böse auf den guten, alten Postmeister, Tante Bärbchen!“ bat das junge Mädchen, und in seiner Stimme mischte sich mit dem Schluchzen der Wiedersehensfreude ein Anflug von Schalkheit. „Er wollte mich durchaus nicht weiter befördern, weil sein ganzes vierfüßiges Regiment in Begleitung sämmtlicher respectablen Postkutschen ausgerückt war; aber ich sehnte mich fast zu Tode hierher zu kommen und bat und bettelte so lange, bis er brummend dies Prachtstück aus der Remise brachte, wo es seit vielen Jahren seine verlorene Jugend betrauert. Tantchen, liebes, gutes Tantchen – und Mäuse sind ganz gewiß nicht drin, sonst wäre ich doch lieber zu Fuße nebenher gelaufen.“

Und Tante Bärbchen lachte und umschlang das junge Mädchen. Bei dieser Gelegenheit sehen wir, daß ein Aermel ihres derben, carrirten Gingham-Hauskleides schlaff an der Seite niederhängt, der linke Arm fehlt; doch mit der Rechten, die zugleich einen triefenden Regenschirm hielt, drückte sie die zarte Gestalt innig an ihre Brust und es sah merkwürdig genug aus, als sich ihr großer, kräftig geformter Kopf mit den fast männlich kühnen Zügen über das sonnige, weiße Gesichtchen neigte, das unter Thränen lachend emporblickte.

„Na, nur schnell hinein in’s Haus!“ mahnte sie. „Da hat mein Schirm schöne Straßen über Dein Kleid laufen lassen! Muß es denn aber auch gerade Seide sein auf der Reise? Und noch dazu Seide über einen so fürchterlichen Luftballon gespannt! [418] Und wie willst Du denn über den nassen Kies kommen mit den Papiersöhlchen an den Füßen? … Sauer wird Dich tragen müssen.“

Der Mann mit dem rothen Regenschirm näherte sich sofort und breitete mit dem tiefsten Ernst seine langen Arme aus, aber das junge Mädchen floh lachend in den Garten.

In demselben Augenblick brauste eine elegante Equipage heran. Hinter den Spiegelscheiben des Wagenfensters hingen fest zugezogene, seidene Gardinen und auf dem Bock neben dem Kutscher saß ein Neger in Livree. Der Kutscher fuhr mit der ganzen Rücksichtslosigkeit seiner Classe, sobald sie einen reichen oder vornehmen Herrn hinter sich im Wagen weiß. Offenbar hatte er das Gefühl eines Souverains auf der breiten Chaussee, denn er fuhr so dicht an der altersschwachen Postkutsche vorüber, als existire sie ebensowenig wie der Bauernknecht, der mittlerweile vom Bock herabgestiegen war und sich bei seinem Pferd zu schaffen machte. Nur mittels eines gewaltigen Sprunges rettete der entsetzte Bursch seine gesunden Glieder vor den Pferdehufen und Rädern der vornehmen Equipage. Er brachte vor Schrecken kein Wort heraus, aber es war auch gar nicht nöthig, die Frau Hofräthin stand bereits neben ihm und schien den Kampf für ihn aufnehmen zu wollen.

„Ist das auch eine Art?“ rief sie mit kräftiger, weithin schallender Stimme dem Kutscher nach. „Ich werde Ihm die Polizei auf den Hals schicken für seine Unverschämtheit!“

Der Kutscher fuhr unbeirrt weiter; der Neger jedoch wandte sich um und zeigte hohnlachend seine zwei Reihen blendend weißer Zähne. Gleich darauf verschwand der Wagen in der Einfahrt der angrenzenden Besitzung.

„Das hat man davon, wenn solch’ ein erbärmlicher Kasten vor der Thür hält!“ wandte sich die Dame grimmig an ihren Diener, dem ein Paar kleiner, rother Flecken der Entrüstung über den Vatermördern glühten. „Das war wieder einmal Wasser auf die Mühle da drüben! … Mach’ Er, daß Er in’s Haus kommt, Sauer,“ fuhr sie beruhigter fort, „und hole Er dem Burschen da ein Glas Wein; der Schreck ist ihm in die Glieder gefahren, er sieht ja fast noch wackeliger aus, als seine alte Kalesche.“

Sauer eilte fort und auch die Hofräthin trat in den Garten zurück. Der Regen hatte plötzlich nachgelassen; es rieselte fein hernieder und nur noch von den Zweigen tropfte es klatschend und schwerfällig. Die eben angekommene junge Dame hatte sich während des Vorfalls auf der Chaussee unter einen dichtbelaubten Baum geflüchtet und sah mit großen, erstaunten Augen auf ein neues Haus, das seine glänzend weißen Mauern jenseit des hohen Gartenzauns erhob.

„Lilli, Du bist und bleibst doch ein Leichtsinn!“ schalt die Tante. „Weißt Du denn nicht, daß das der zugigste Platz im ganzen Garten ist? … Ich bitte Dich, Kind,“ fuhr sie erregt fort, indem sie den Blick des jungen Mädchens auffing, „sieh nicht dort hinüber. Ich stelle Dir die eine Bedingung – aber in allem Ernst – daß Du während Deines Hierseins thust, als höre da drüben mit dem Zaun die Welt auf. … Was dort lärmt, schwatzt und geigt, darf nicht für Dich existiren, wenn wir gute Freunde bleiben wollen; hast Du mich verstanden, Lilli?“

Die junge Dame öffnete ihre Augen noch weiter, aber sogleich flog ein reizendes Lächeln um ihre Lippen, sie verbeugte sich und legte die Hände auf Augen und Ohren, zum Zeichen, daß sie blind und taub sein wolle.

„Vorläufig sollst Du wissen,“ sagte die Hofräthin und deutete mit dem Schirm nach dem neuen Haus, „daß da drüben täglich ein neuer Nagel zu meinem Sarg geschmiedet wird. … Jetzt laufe, daß Du in’s Haus kommst… Nimm doch Dein Kleid in die Höhe; siehst Du denn nicht, daß der Buchsbaum schwimmt und den Firlefanz auf Deinem Rock jämmerlich zurichtet?“

Lilli warf einen schelmischen Seitenblick auf die stattliche, kernfeste Gestalt der Tante – die Sargarbeit derer da drüben gedieh anscheinend nicht besonders – dann schürzte sie ihr Kleid, sprang den ziemlich steilen Kiesweg hinauf, der nach dem Hause führte, nahm eine dicke, wohlgenährte Katze, die eben träge durch die Hausflur schlich, bei den Vorderpfoten und tanzte so lange mit ihr herum, bis die Tante lachend, aber mit drohend gehobenem Zeigefinger in der Thür erschien und eine alte Köchin entsetzt aus der Küche stürzte, um ihren am Asthma leidenden Liebling der übermüthigen Tänzerin zu entreißen.

Die Hofräthin Falk hatte bei den Bewohnern der Stadt R. einen großen Stein im Bret. War auch die Art und Weise, wie sie den Leuten die Wahrheit in’s Gesicht zu sagen pflegte, nicht gerade die feinste und schmeichelhafteste und hatte sie die üble Gewohnheit, sich stets mit großer Energie und Entschiedenheit Derjenigen anzunehmen, deren guter Leumund auf dem Marterrost kleinstädtischer Klatschzungen lag, so fielen diese Schattenseiten doch nur leicht in’s Gewicht der seltenen Großmuth gegenüber, mit der diese Frau von ihrem bedeutenden Reichthum Gebrauch machte. Der Bedrückte fand stets ihre Hand und Thür offen, ihre Freunde konnten in Verlegenheit und übler Lage unverrückbar auf ihre Hülfe und ihr Schweigen zählen, und weil in der ganzen Stadt kein Kind zu finden war, das nicht wenigstens einmal Obst und Kuchen bei der Frau Hofräthin gegessen und sich auf den Rasenplätzen ihres Gartens herumgetummelt hatte, so war es wohl sehr natürlich, daß sie eine Allerweltstante wurde. Der vornehm klingende Titel wollte durchaus nicht über die Lippen der Kleinen, desto leichter aber wurde ihnen das traute „Tante Bärbchen“.

Und diese Frau mit dem Herzen voll Liebe und Erbarmen, mit dem starken, unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn, sie hatte diese Welt betreten, lieblos verkürzt in ihren natürlichsten Rechten: sie wurde nur mit einem Arm geboren. Die böse Welt suchte diese Missethat der Natur in Einklang zu bringen mit dem göttlichen Gesetz: „Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern.“ Man raunte sich zu, der Vater der Unglücklichen habe einem armen Mädchen die Ehe versprochen und sich dabei vermessen, der Allmächtige solle ihn an Armen und Beinen strafen, wenn er sein Wort nicht halte. Er habe den Schwur gebrochen und das einarmige Kind sei die nothwendige Erfüllung des göttlichen Drohwortes. Beschwören konnte indeß Niemand dies Gerücht, das auch niemals bis zu den Ohren der armen Verkürzten gedrungen war. Sie blieb das einzige Kind ihres Vaters, der sie vergötterte und dem auch sie anhing mit der ganzen Liebe, deren ihr Herz fähig war. Um ihn über ihre Zukunft zu beruhigen, reichte sie an seinem Sterbebette in ziemlich vorgerückten Jahren dem Hofrath Falk, einem alten Hausfreund, ihre Hand. Aber auch er starb nach einer kurzen, glücklichen Ehe und fortan lebte sie als Wittwe in ihrem väterlichen Hause, umgeben von zwei musterhaften Inventarstücken desselben, dem alten Bedienten Sauer und der sechszigjährigen Köchin Dorte.

Das Haus lag außerhalb der Stadt. Die Chaussee, die hart an dem alten, mit einem häßlichen Thurm gekrönten Stadtthor begann, mußte eine beträchtliche Strecke laufen, bevor sie den Berg erreichte, der, droben jäh emporsteigend, seinen greisenhaften, unbedeckten Scheitel aus einem Kranz prächtiger Buchenwaldung hob, während er drunten gleichsam ein Knie vorbog, auf welchem das Haus der Hofräthin lag. Es war alt und unschön. Ein ungeheures Ziegeldach mit zwei mächtigen Schornsteinen saß so anspruchsvoll auf der einstöckigen Fronte, als sei sie lediglich um seinetwillen da. Einige dickstämmige Weinstöcke umspannen zwar die Wände, aber sie vermochten nicht ganz, einzelne Streifen der schmucklosen, weißen Tünche und die vom Alter braungefärbten Holzrahmen der Fenster zu verstecken. Und doch lag es so traut und heimlich da, gleichsam auf den grünen Pfühl des Waldes gebettet, der seinen Athem darüber hinwehte, jenen Hauch der Romantik, in den sich auch alte, versteckte Jagdschlösser einspinnen… Trat man auf der Thalsohle weit zurück, so daß man die ganze untere Breite des Berges übersehen konnte, dann erhielt freilich das alte Haus einen Gegner, der höhnisch alle Schattenseiten des verunglückten Baues, alle Sünden seines Schöpfers hervorhob. Auf demselben Vorsprung des Berges, nur durch einen hohen lebendigen Zaun von Tante Bärbchens Besitzung getrennt, erhob sich die brillante Façade eines neuen Hauses. Ein viereckiger, stumpfer Thurm an der Südseite überragte das beinahe flache Dach des Hauptgebäudes um eines Stockwerkes Höhe. Droben schwebte zart durchsichtig wie Spinnengewebe eine zierliche Galerie um die Zinne, und die vier Fenster, die fast die ganzen Wandbreiten des Thurmes einnahmen, zeigten in blendendem Farbenschmelz kostbare Schildereien aus buntem Glas. Fast schien es, als verhauche die nordische Luft ihre ganze Kühle und Schärfe an der trennenden grünen Hecke. In Tante Bärbchens Garten strich sie über ehrliche deutsche Kraut- und Kohlhäupter, über ungekünstelten Graswuchs [419] voller hochaufgeschossener Wiesenblumen, und drüben flüsterte sie in den verlockenden Zweigen des Lorbeers, in den Kronen dunkler Granat- und Orangenbäume, die ihre leuchtenden Blüthen auf die Terrasse vor dem Hause und die in den Garten hinabführende breite Steintreppe schüttelten. Drüben rauschte das Brunnenwasser aus der einfachen Holzröhre in eine uralte, grünbemooste Steinmulde, und hier sprangen Fontainen und spritzten ihre Silbertropfen auf den duftig grünen Flaum des englischen Rasens, auf eine wahrhaft orientalische Rosenpracht… Man meinte, auf jenes alte Dach, das sich vertraulich an die Buchenwipfel schmiegte, auf dessen Ziegeln große Büschel Hauswurz nisteten und das zahllose Schwalbennester beschirmten, den ernsten Schatten der deutschen Sage gleiten zu sehen, während drüben ein Stück heiterer, südlicher Poesie waltete.

Früher stand da, wo sich jetzt das neue Haus erhob, ein Gebäude, das dem Haus der Hofräthin glich, wie ein Ei dem andern. Vor Zeiten existirte auch die grüne Hecke nicht. An ihrer Stelle lief eine schöne Kastanienallee den Berg hinab und mündete drunten vor einem hohen Thor, dem einzigen in der ganzen, großen Umfangsmauer. In den Häusern wohnten zwei Vettern, Hubert und Erich Dorn mit ihren Familien. Sie waren sehr angesehen in der Stadt und galten für steinreich. Ihr musterhaftes Zusammenleben war zum Sprüchwort geworden; nie fiel ein Wort des Streites zwischen den zwei Männern. Die Kinder liebten und zankten sich, und die Mütter waren weise genug, Kläger und Beklagte allein fertig werden zu lassen. Der Garten wurde gemeinschaftlich benutzt und zur Sommerzeit aß man stets vereint in dem großen Pavillon, der zu Anfang der Allee stand… Da trat plötzlich eine schwarze Wolke über die beiden Häuser der Eintracht. Ein neuer Geist zog ein und ein fahles Gespenst, der Neid, heftete sich an seine Fersen und folgte ihm unhörbar, als er über die Schwelle schritt. Es war die Sammelleidenschaft, von der die beiden Familienoberhäupter mit einem Mal besessen wurden. Sie nahm liebe Familienbilder von den Wänden und hing dafür alte, verdunkelte Oelgemälde auf; die geliebten Leinenschränke der Hausfrauen wurden in entfernte Winkel gerückt, an ihre Stelle traten hohe Glaskästen mit Mordwaffen aller Arten und Zeiten, vor denen sich die Frauen- und Kinderseelen entsetzlich fürchteten. Das alte Aegypten kehrte ein unter den gemüthlichen Thüringer Dächern, und über seinen unverstandenen Hieroglyphen vergaßen die Sammler, weiter zu forschen im Reich der lebendigen Zungen, in ihren wohlausgestatteten Bibliotheken.

Anfänglich lachten die beiden Frauen über die urplötzliche Sammelwuth ihrer Eheherren. Allmählich aber überschlich Bangigkeit ihr Herz, wenn die sonst so friedliebenden Männer heftig wurden im Streit über den Werth oder Unwerth einer neuen Acquisition; wenn der blasse Neid in den Zügen des Einen und Schadenfreude triumphirend in denen des Anderen erschien; wenn Jeder bei Erlangung einer heißersehnten Antiquität sofort frohlockend in den Ausruf ausbrach: „Was der da drüben wohl dazu sagen wird!“ Die Zänkereien wurden immer heftiger und erbitterter und die Versöhnungsmomente seltener und kürzer. Es geschah auch wohl, daß beide Männer im leidenschaftlichen Wortwechsel beim Mittagstisch aufsprangen. Dann schlug der leicht aufbrausende Erich, die bleichen, entsetzten Gesichter der Frauen und Kinder nicht beachtend, mit der Faust auf den Tisch, daß Teller und Gläser klirrten, und stürzte zornsprühend aus dem Pavillon… Der Schatten der ausgestoßenen Eintracht irrte noch eine Zeitlang wehklagend durch den Garten und entfloh dann für immer… Es ereignete sich nämlich, daß ein entfernter Verwandter von Hubert’s Frau starb; sie war Universalerbin. Nebst vielen Capitalien und Kostbarkeiten fiel ihr auch ein Oelbild zu, ein herrlicher van Dyk. Sie machte es ihrem Mann zum Geschenk, der es stolz und frohlockend seiner Sammlung einreihte. Aber gerade diese Sammlung war der Zankapfel zwischen den beiden Vettern; ihre Zusammenstellung zeigte von keinem besonderen Kennerblick, es war viel Spreu darunter. Diese Schwächen hob Erich, der selbst nicht übel malte, stets mit bitterem Hohn hervor; seine Sammlung verrieth freilich ein feines, kritisches Auge. Nun aber stürzte sein Triumph zusammen wie ein Kartenhaus, als da drüben unter den so oft angefochtenen Copieen plötzlich das kostbare Original erschien; er selbst besaß keinen van Dyk. Mit erblichenem Gesicht – Hubert behauptete stets, es sei von Wuth und Ingrimm verzerrt gewesen – stand er vor dem Bilde; all’ sein Forschen und Prüfen führte immer wieder zu der schmerzlichen Ueberzeugung, daß es echt sei. Mit verdunkeltem Auge sah er Freunde und Bekannte in das Haus da drüben strömen, Jeder wollte das wunderholde Mädchenantlitz sehen, das die längst erstarrte Meisterhand auf die Leinwand gezaubert hatte. Er aß und schlief nicht mehr. Jede Begegnung mit dem Vetter, der stets von dem Bild zu reden anfing, versetzte ihn in fieberhafte Aufregung; er floh zuletzt scheu seinen Anblick, es war ihm unmöglich, jenem Auge zu begegnen, aus welchem der Triumph glänzte…

Eines Morgens scholl ein Schrei des Schreckens und der Erbitterung durch Hubert’s Haus. Da, wo noch gestern zwei süße Mädchenaugen gestrahlt hatten, starrte jetzt die leere Wandfläche hernieder – das Bild war verschwunden. Hubert war außer sich. Er schwur darauf, daß sein Kleinod sich nur um ein Haus weiter verirrt habe, und forderte es geradezu von Erich zurück. Es kam zwischen den beiden Männern zu einem fürchterlichen Auftritt, der nun auch die Leidenschaft in den weiblichen Gemüthern aufrüttelte. Noch nie hatte die Furie der Zwietracht so fessellos durch die zwei Häuser getobt, als in dieser unheilvollen Stunde. Die Streitenden stoben, nachdem von beiden Seiten entsetzliche Worte gefallen waren, auseinander. Zum letzten Mal für dieses Leben, und zwar in einem zornfunkelnden Blick, begegneten sich die Augen, klangen in gegenseitigen Schmähungen die Stimmen aneinander… Noch an demselben Tage erschienen Arbeiter in der Allee; sie rammten genau in der Mitte derselben Pfähle in die Erde ein, die Kastanienbäume fielen unter der Axt; es wurden Sträucher dicht aneinander gepflanzt, und von diesem Moment an liefen die Kinder von beiden Seiten täglich mit der Gießkanne herzu und gossen fleißig und beharrlich, damit die Reiser wachsen sollten, „wachsen bis in den Himmel,“ meinten sie. So entstand die grüne Hecke, und wie sie ihre Wurzeln tief in die Erde senkte und droben ausschlug und trieb, so klammerte sich der Haß um die Herzen der Kinder und wuchs mit ihnen. Es änderte auch nichts an diesem unnatürlichen Verhältniß, als Erich wenige Jahre nach jenen Vorfällen, vom Schlag getroffen, plötzlich starb. Seine Witwe, die ihn leidenschaftlich geliebt hatte, sah man nach seinem Tode nie wieder lächeln. Mit der tiefsten Erbitterung gedachte sie stets „Derer da drüben“, die seine letzten Lebensjahre umdüstert und seine Ehrenhaftigkeit mit einem Makel zu behaften gesucht hatten. Noch im hohen Alter war diese Wunde nicht verharscht; ihre Augen, die längst keine Thränen mehr hatten, sprühten unversöhnlichen Haß, wenn sie ihrem einzigen Enkelkind – das war Tante Bärbchen – die Unglücksgeschichte immer und immer wieder erzählte. Das Kind lernte schon mit seinen ersten Gedanken das „Drüben hinter der Hecke“ fürchten, und daß auch dort der Haß im Athem blieb und forterbte, davon erhielt die Kleine eines Tages einen eclatanten Beweis.

Auch Hubert hatte Enkel; sie wurden vornehm erzogen und hatten eine französische Gouvernante. Der Lärm der spielenden Kinder scholl hinüber in den stillen Garten, wo das einsame Bärbchen seine Puppen herzte, oder den Schmetterlingen nachlief, selbst bis an den gefürchteten Gartenzaun, über den sie, zu des Kindes Erstaunen, sorglos hinflogen. Dann verweilte sie auch wohl einen Augenblick und horchte verwundert den fremdklingenden Lauten, in denen sich die Kinder unterhielten. Einmal stand sie auch da und lauschte. Da rauschte es über ihr; die oberen Zweige der Hecke bogen sich auseinander, und ein trotziges Knabengesicht, aus dem zwei dunkle Augen übermüthig auf sie niederfunkelten, drängte sich durch das Grün. Er starrte die erschrockene Kleine einen Augenblick an, dann schnitt er eine abscheuliche Grimasse.

„Ach, bist Du ein häßliches Mädchen!“ rief er. „Hast ja nur einen Arm! Das ist Gottes Gericht, sagt meine Großmama immer… Ihr habt ja doch das Bild drüben… Bilderdieb, Bilderdieb!“

Tante Bärbchen erröthete noch in ihren alten Tagen, wenn sie daran dachte, daß sie in jenem Augenblick zornig einen Stein aufgehoben und ihn nach dem Knabenkopf geschleudert hatte, der hohnlachend, aber blitzschnell bei der drohenden Gefahr hinter der Hecke verschwunden war. Dieser Vorfall hatte einen unauslöschlichen Eindruck auf sie gemacht; auch in ihrem Gemüth faßte die Erbitterung jetzt Wurzel; der Groll rückte abermals um eine Generation weiter, und die Enkel neigten so wenig zur Versöhnung, wie ehemals die erzürnten Großväter.

[420] Die Jahre vergingen. Hubert’s Nachkommenschaft sank im blühenden Alter in’s Grab bis auf den Einen, der Tante Bärbchens Kinderherz so tief verwundet hatte. Er heirathete eine junge Dame aus vornehmer Familie und siedelte nach siebenjähriger Ehe auf den Wunsch seiner geld- und adelstolzen Frau aus der kleinen Stadt in eine große Residenz über. Haus und Garten wurden vermiethet, und nun faltete der finstere Dämon, der so lange die beiden Häuser umkreist hatte, seine Flügel zusammen; es war, als müßten selbst Bäume und Sträucher aufathmen, als drüben der letzte Koffer aus dem Hause getragen wurde. Eine lange Zeit der ungestörten Ruhe folgte jetzt für Tante Bärbchen, bis auf einmal das moderne Haus jenseit der Hecke aufstieg und, eine neue Quelle des Aergers und Streits, höhnend herübersah.

Die Hofräthin verlor stets ihre gute Laune auf mehrere Stunden, sobald sie an die verhaßte Nachbarschaft erinnert wurde; heute aber war selbst die Unverschämtheit der Dienstleute von drüben sofort vergessen und ein strahlendes Lächeln des Wohlgefallens glitt über die Züge der alten Dame, als ihre Augen dem jungen Mädchen folgten, das leichtfüßig vor ihr her nach dem Hause zuflog. Lilli war das Kind ihrer liebsten Jugendfreundin, die sich nach Berlin verheirathet hatte. Soweit das junge Mädchen zurückdenken konnte, hatte sie stets die Sommermonate bei der Hofräthin zugebracht; denn ihre Gesundheit war immer eine äußerst zarte gewesen und hatte in der kräftigen Thüringer Luft erstarken sollen. Seit drei Jahren waren indeß diese Reisen unterblieben. Lilli’s Mutter starb, und in der ersten Zeit des Schmerzes wollte sich der Vater von seinem Kind nicht trennen. Erst jetzt hatte er auf Lilli’s inständige Bitten nachgegeben; sie empfand tiefe Sehnsucht nach der Tante, die ihr stets einen größeren Fond von Liebe entgegengebracht, als die eigene Mutter. Daher ihre Ungeduld, ihre Todesverachtung, mit der sie auf der letzten Eisenbahnstation die sogenannte Mäuseherberge bestiegen hatte.

Jetzt lag das junge Mädchen in einem altmodischen, aber bequemen Lehnstuhl. Statt des schwarzseidenen Reisekleides flossen die weichen Falten eines hellen Muslins um die Gestalt, an der augenscheinlich die Thüringer Luft ihre gerühmte Kraft und Stärke umsonst versucht hatte. Man konnte nichts Zarteres sehen, als diese feinen Glieder, die, eben in sich zusammensinkend, schmal und klein zwischen den Polstern ruhten, scheinbar, ohne dieselben zu drücken. Sah es doch fast aus, als ob selbst die dunklen Flechten am Hinterkopf zu schwer seien für den schlanken Hals; denn das Haupt bog sich stets leicht hintenüber, als zöge es die Wucht der allerdings unglaublichen Haarfülle zurück. In solchen Momenten der Ruhe und Hingebung ahnte wohl Niemand, daß diese weichen Glieder urplötzlich wie mittels Stahlfederkraft Bewegungen voller Energie annehmen konnten, während jene sanfte Neigung des Kopfes zum Ausdruck jugendlichen Uebermuthes und Eigenwillens wurde. Ebensowenig ließ sich hinter der leichtgewölbten Kinderstirn, die wie ein weißes Blumenblatt unter den zurückfließenden Haarströmen leuchtete, jener aufgeweckte, willenskräftige Geist vermuthen, welcher eine so wunderbare Herrschaft über die zartgebaute Hülle ausübte.

Ihre Blicke glitten in diesem Moment langsam und prüfend durch das Zimmer. Sie nickte dann und wann befriedigt mit dem Kopfe und lächelte naiv und vergnügt wie ein Kind, das seine liebsten Spielsachen nach einer Trennung wiedersieht. Ja, es war Alles noch beim Alten! Da stand das wunderliche Kanapee mit den hohen Beinen und den dicken Federkissen. Sie wußte genau, daß diese vier kolossalen Polster eigentlich in einem Ueberzug von schwerer, grüner Seide steckten, aber Kappen von nicht zu vertilgendem, derbem Gingham bedeckten die veraltete Pracht. Die rothen und blauen Hyacinthen dort auf den zwei blankgebohnten Kommoden hatten nichts von ihrer Schönheit eingebüßt – kein Wunder, sie waren ja genau von demselben Stoffe wie der kleine Dorfcantor, der mitten unter ihnen geigte, wie das zarte Schäfermädchen, das mit vieljährigem Lächeln unter dem blumengeschmückten Strohhütchen hervorsah – sie waren von Meißner Porcellan. Ach, und die Zeit war auch schonend an den beiden Pfauenfedern vorübergegangen, die hinter dem großen Spiegel steckten! Er selbst warf noch immer das ihm gegenüberhängende Oelbild der mit Schminkpflästerchen bedeckten Großmutter zurück, und unten in den Ecken seiner versilberten Fassung steckten verschiedene Karten mit Verlobungsanzeigen und Neujahrsgratulationen. Und da trat eben der alte Sauer herein. Sein Rock war nicht um Haarbreite kürzer geworden; Vatermörder und Nacken hielten sich stocksteif in unverminderter Harmonie, und sein Fuß machte genau die wohlbekannte, groteske Schwenkung, mittels welcher er zunächst den langen Rockflügel zurückwarf und dann die Thür hinter sich zutrat, wenn er etwas in den Händen trug. Er brachte die altmodische, silberne Theekanne und zwei wohlbekannte kostbare Täßchen von chinesischem Porcellan; der Farbenschmelz ihrer abnormen Gebilde war noch derselbe, aber die Kittadern in den Untertassen hatten sich wohl um einige vermehrt… Welche Fülle von Erinnerungen aus der Kinderzeit stieg in Lilli’s Seele auf, als ein liebliches Aroma dem langgebogenen, häßlichen Schnabel der Theekanne entquoll und das Zimmer durchduftete! Das war freilich nicht der kostbare Blumenthee, den Seine Majestät von China Höchstselbst zu schlürfen pflegt, nicht der feine Pecco, den das verwöhnte Kind der großen Stadt daheim trank, die Blätter der heimischen Walderdbeere waren es, die unter dem siedenden Wasser ihre Duftadern öffneten und gesunde, kräftige Säfte ausströmten. Bei Tante Bärbchen wurde nur dieser Thee getrunken, und wenn die alte Dorte gute Laune hatte, dann steckte sie auch noch einen Zimmetstengel hinein… Ja, und da drüben neben dem alterthümlichen Uhrgehäuse hingen richtig der Kalender und die altersbraune Elle, und hinter der Glasscheibe des wandhohen Holzkastens schwang der Perpendikel sein breites Sonnengesicht in sehr moderirtem Tempo; er ließ sich Zeit, der alte bequeme Herr, er konnte es ja haben in dem stillen, einförmigen Hause und hätte seinen gravitätischen Gang wohl auch nicht geändert, schon aus alter Freundschaft für Tante Bärbchens Spinnrad, das, ein verblichenes rosa Seidenband um die Flachslocken geschlungen, dort auf der Estrade am mittelsten Fenster stand. Es summte und schnurrte Jahr aus, Jahr ein, Sommer und Winter, und der Perpendikel meinte mit Recht, sein Tiktak und das Gesumme gäben eine schönere Harmonie, als ein Zwiegespräch zwischen ihm und Seinesgleichen.

[433] „Tante, kennst Du die Geschichte von Adam und Eva?“ fragte Lilli plötzlich. Ihr Blick hing unverwandt an dem südlichen Eckfenster, durch welches der Thurm des Nachbarhauses hereinsah. Die Hofräthin saß auf der Estrade und spann. Mit einer raschen Wendung des Kopfes sah sie auf das junge Mädchen hinab, während ein verhaltenes Lachen um ihre Mundwinkel zuckte.

„Närrchen Du!“ sagte sie kopfschüttelnd, tauchte den Finger in das Netzbecken und spann weiter.

„Die Aepfel haben ihnen nur so gut geschmeckt, weil sie verboten waren,“ fuhr Lilli mit unzerstörbarem Ernst fort. „Tante Bärbchen, ich habe eben meine Augen wieder ertappt, wie sie nach dem Thurmfenster hinübersahen und gar zu gern herausgebracht hätten, was das Glasgemälde vorstellt. Es ist schlecht von ihnen, sehr schlecht, denn Du hast es verboten; aber man muß ihnen auch ein wenig zu Hülfe kommen, hast Du nicht irgend einen alten, dicken Teppich, den man vor das Fenster nageln könnte, oder –“

„Ei, das fehlte noch, daß ich mir Licht und Luft absperrte, um Derer da drüben willen!“ unterbrach sie Tante Bärbchen halb lachend, halb ärgerlich. „Kind,“ fuhr sie fort, und das Summen des Spinnrades schwieg, „Du nimmst wieder einmal eine sehr ernste Sache von der spaßigen Seite; aber ich kann Dir versichern, daß sie ganz und gar nicht spaßhaft ist… Ich habe unter den Impertinenzen der Huberts jetzt noch mehr zu leiden, als dazumal, wo mir der unverschämte Junge meinen ganzen Kinderfrieden zerstörte.“

„Wie, ist der wieder da und guckt über den Zaun?“

„Lilli, sei kein solcher Kindskopf!“ sagte die Hofräthin mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. „Der wäre jetzt seine wohlgezählten sechszig Jahre alt und da klettert man nicht mehr an den Zäunen herum. Der ist todt und seine Frau auch, und ich hätte mir in meinem ganzen Leben nicht träumen lassen, daß da drüben noch einmal Einer herumhantieren würde mit dem Hubert’schen Starrkopf und Hochmuth. Aber da kam er doch eines Tages dahergebraust, wie das böse Wetter, der Letzte der schlimmen Familie… Da drüben blieb kein Stein auf dem andern und kein Grashälmchen durfte mehr wachsen, wie es wollte. Nun meinetwegen, das ging mich weiter nichts an und um ungelegte Eier hab’ ich mich mein Lebtag nicht gekümmert. Daß ich aber meine gehörige Portion Aerger von der neuen Nachbarschaft haben würde, das sagte ich mir alle Tage, und da kam’s auch richtig… Kommt da auf einmal ein Commissionär zu mir und fragt im Auftrag des jungen Herrn da drüben, ob ich ihm nicht Haus und Garten käuflich überlassen wolle. Da hab’ ich aber geantwortet, wie mir um’s Herz war, und der Herr Commissionär war schneller draußen vor der Thür, als er hereingekommen ist.“

„Tantchen, ich fürchte, Du bist nicht sehr höflich gewesen.“

„Ei, da soll ich wohl auch noch meine Worte auf die Goldwage legen, wenn man mir mein väterliches Erbe feil machen will? … Der junge Herr denkt vermuthlich, weil er den Krieg in Schleswig-Holstein mitgemacht hat, da darf er nun auch Annexionsgelüste haben… Er hat übrigens meine Aufrichtigkeit sehr übel vermerkt, denn von dem Augenblick an sucht er mich zu chicaniren… Dazumal, als der Zaun angelegt worden ist, da hat es Anstoß gegeben wegen der Theilung, die Linie ist gerade durch den Pavillon gelaufen. Aber mein Großvater und der alte Hubert Dorn sind darin übereingekommen, daß er stehen bleiben solle, und weil er zur größeren Hälfte in meines Großvaters Garten gestanden und auch an der Seite die Thür gehabt hat, so ist er uns verblieben. Jetzt meint nun auf einmal der hochgeborne Herr, seine verwöhnten Augen würden durch die Rückwand des alten, einfachen Häuschens beleidigt, und will durchaus die Hälfte entfernt wissen, die auf seinem Territorium steht.“

„Wie, an dem lieben, alten Pavillon will er sich vergreifen?“ rief Lilli erregt und sprang auf. Sie hatte bis dahin, ruhig im Sessel. liegend, einen ihrer kleinen Saffianschuhe auf der Fußspitze balanciren lassen. Für den alten Familienhaß mit seinen ziemlich verblichenen Traditionen hatte sie nie ein rechtes Verständniß gehabt. Alle die Reibungen zwischen den späteren Generationen, deren Tante Bärbchen oft so entrüstet gedachte, waren ihr immer sehr abgeschmackt und kleinlich vorgekommen, deshalb hatte sie auch den vermeintlichen neuen Kummer und Aerger der Hofräthin anfänglich humoristisch behandelt. Jetzt aber erhielt sie einen schlagenden Beweis von der Böswilligkeit der unseligen Nachbarschaft, der ihr selbst in das Herz schnitt. Sie liebte den Pavillon, wie ein Kind einen alten Hausfreund seiner Eltern liebt, der es auf den Knieen schaukelt, ihm ergötzliche Geschichtchen erzählt und die schützende Hand abwehrend ausstreckt, wenn es gestraft werden soll. Sie hatte sich stets in dem alten, achteckigen Häuschen lieber aufgehalten, als drüben im großen Wohnhaus. Hier hatten sich die interessanten Lebensläufe ihrer Puppen abgewickelt, in dem gemüthlichen Salon war das kindliche Herz erfüllt gewesen von dem Selbstbewußtsein der gebietenden Hausfrau, denn sie durfte ihn benutzen als Empfangszimmer für ihre kleinen Besuche aus der Stadt, deshalb hieß er auch „Lilli’s Haus“. Die alten Wände waren Zeugen ihrer ganzen Kindesglückseligkeit gewesen, aber sie [434] hatten auch ihr leidenschaftliches Weinen und Klagen gehört, wenn im Wohnhause gepackt worden war zur Heimreise.

„Du hast dem gestrengen Herrn natürlich ebenso energisch seinen Standpunkt klar gemacht, wie bei dem Annexionsversuch, Tante?“ fragte sie hastig.

„I nu freilich. Ich habe ihm erklärt, der Pavillon stände ganz gut an seinem Platz und mit meinem Willen würde nicht ein Ziegel daran weitergerückt; darauf hin hat er mich gerichtlich verklagt.“

„Der Unhold!“

„Und das Recht ist ihm zugesprochen worden. Ich habe die Weisung erhalten, binnen acht Tagen mein Besitzthum von dem fremden Grund und Boden zu entfernen.“

„Abscheulich! … Und Du kannst es über’s Herz bringen, Tante Bärbchen?“

„Ich lasse nicht einen Stein anrühren.“ Sie deutete nach dem Bild der Großmutter. „Die müßte sich im Grabe umdrehen, wenn das mit meinem Willen geschähe… Mag der saubere Herr höchsteigenhändig das Niederreißen besorgen, dagegen kann ich freilich nichts thun.“

„Und damit wird er nicht viel Federlesens machen, passen Sie nur auf, Frau Hofräthin!“ sagte Dorte, die vor wenig Augenblicken eingetreten war und einen Teller voll frischgebackener Waffeln auf den Tisch gestellt hatte. „Er hat’s eilig. Ja, wär’ das Fenster nicht, das ‘nüber in seinen Garten geht, da ständ’ ihm das Häuschen noch lange nicht im Wege. Aber da könnte ja der alte Sauer einmal den Laden aufmachen und hinübergucken nach der schönen Dame, das wär’ erst gefährlich!“

„Wer ist denn die Dame?“ fragte Lilli lachend.

„Wahrscheinlich seine Frau,“ meinte Tante Bärbchen zögernd.

„Ach, glauben Sie doch das nicht, Frau Hofräthin,“ eiferte Dorte, ohne die verweisenden Blicke ihrer Herrin zu bemerken, „seine Liebste ist’s… Fräulein Lilli, da drüben geht es zu wie bei den Heiden, und eifersüchtig ist er wie ein Türke. Keine Menschenseele in der ganzen Stadt weiß, wie die Person aussieht, die bei ihm wohnt, nicht einmal sein eigener Kutscher und Bedienter sollen es wissen. Der Mohr steht Schildwache vor ihrer Thür und trägt ihr auch das Essen hinein… Gott verzeih’ mir’s, wie nur ein Christenmensch solch’ ein schwarzes Ungethier um sich leiden mag! Ich erschrecke immer zu Tode, wenn der den Mund aufmacht, und denke an den Walfisch, der den Jonas verschluckt hat… Die Dame muß immerfort einen dicken Schleier vor dem Gesicht tragen, und wenn sie spazieren fährt, da sind die Vorhänge an den Wagenfenstern fest zugemacht. Ich hab’ einmal draußen vor der Gartenthür gestanden, da fuhr der Wagen vorbei, und in dem Augenblick zog und zerrte drinnen eine Hand an dem Vorhang; das waren Fingerchen, wie von Marzipan, und Ringe haben d’ran gesteckt, die haben geblitzt, wie lauter Karfunkel. Er muß ein wahrer Unmensch sein, daß er das arme Weib so einsperrt; er sieht aber auch danach aus. Wenn er auf sein Gut reitet – das schöne, große Liebenberg hat er doch gekauft – da kommt er auf seinem pechschwarzen Rappen die Chaussee hergebraust, daß es einem himmelangst wird, so trotzig und befehlshaberisch sieht er aus.“

„Er ist wie sein Vater,“ sagte Tante Bärbchen zu Lilli, „dem war auch die Welt zu eng und der Platz, auf dem er stand, zu niedrig. Er pfropfte auf den alten, ehrenhaften Stamm der Dorns ein adliges Reis; das befand sich aber sehr übel in der bürgerlichen Atmosphäre, und da hat er sich flugs auch den Adel gekauft… Gekaufter Adel! Das heißt, in den ursprünglichen Begriff übersetzt, gekauftes Verdienst… Unsinn, Unsinn! Gemahnt mich an den sauberen Ablaßkram, nur in umgekehrter Weise, allein die Welt will nun einmal solchen Firlefanz und Hocuspocus, und Schlauköpfe giebt’s zu allen Zeiten, die ernsthafte, gläubige Gesichter dazu machen und ihren Nutzen daraus ziehen.“

Sie schob das Spinnrad von sich und schüttelte die Spelzen von dem weißen Tuch, das auf ihren Knieen gelegen hatte.

„Ich bin da auf ein ärgerliches Thema gekommen,“ sagte sie aufstehend; „Unfruchtbare Gedanken, mit denen sich ein alter Weiberkopf, der sich auf die Ewigkeit vorzubereiten hat, gar nicht mehr befassen sollte… Stürzt heute alle die alten Götzen um, morgen wird, die Welt um ein neues goldenes Kalb tanzen. … Komm’, Lilli, schenke mir eine Tasse Thee ein. Gelt, der riecht frisch und unverdorben? … Hab’ die Blätter selbst im Walde zusammengesucht; der macht gesundes Blut und rothe Backen, und die kannst Du brauchen, kleines Mondscheingesicht.“

Sie saßen lange beisammen und plauderten. Das letzte Duftwölkchen aus der Theekanne war längst in der Luft zerflossen, die Schatten der Nacht ballten sich in den Ecken der Stube, dann huschten sie über das leuchtende Zifferblatt der Wanduhr und hingen zuletzt einen schwarzen Flor über den goldenen Rahmen des Großmutterbildes, und es ward endlich so still, daß der kleine Dorfcantor getrost sein zartes Geigensolo hätte beginnen können, zu welchem er seit so vielen Jahren den Bogen angesetzt hielt. Draußen schmolzen die Millionen Blätter und Blüthen wunderliche Gestalten zusammen und kein Lufthauch wagte, an die von den Händen der Nacht gezeichneten Contouren zu rühren.

Plötzlich glühte es auf über den Wipfeln einer Akaziengruppe und die weißen, träumerisch hängenden Blüthen waren überschüttet von buntfarbigen Lichtströmen. An der Decke des Thurmzimmers brannte eine Hängelampe. Das schöne, zarte Weib im weißen Atlasgewande da droben, dem die schwarzen Haarwellen über den Busen flutheten, es hatte einst seine himmlischen Worte der Liebe unter dem schützenden Dunkel der Nacht gestammelt, und hier bog es sich von Licht umflossen verlangend hernieder und keine rosige Flamme der Scham flog über ihr bleiches Liliengesicht. Die weißen Arme umschlangen ihn, der kühn den Balcon erklommen hatte und der über ihrem berauschenden Geflüster die Todesgefahr vergaß; süßer aber hatte wohl die unglückliche Tochter der Capulets ihrem Romeo nicht zugelächelt, als hier ihr zartes Conterfei auf den zerbrechlichen Glasplatten. Hinter den Gestalten des Fensters glitt rastlos ein Schatten hin. Ein Mann, wie es schien, ging mit raschen Schritten auf und ab… War das der tückische Nachbar, der Blaubart, der ein unglückliches Weib gefangen hielt, damit kein anderes Auge, als das seine, auf ihr schönes Antlitz falle?

Lilli wagte nicht, diese Frage laut werden zu lassen, sie wollte heute nicht mehr an die Seelenwunde der Tante rühren. In dem Augenblick trat auch der alte Sauer mit der Lampe herein. Seine knarrenden Stiefeln weckten die Hofräthin aus einem leichten Schlummer; sie fuhr lächelnd in die Höhe und setzte die Brille vor die verschlafenen Augen, um noch ein wenig zu lesen. Währenddem schloß Sauer die Fensterläden; der alte Junggeselle nahm in beinahe hastiger Weise zuerst das südliche Eckfenster in Angriff, wobei er mit einem scheuen Rückblick nach Lilli etwas von „sündhaftem Spectakel“ murmelte. Noch einmal glühten die herrlichen Gebilde des Glasgemäldes auf, dann verschwanden sie hinter dem unerbittlichen, grauen Fensterladen. Lilli nahm der Tante die Zeitungen aus der Hand und las vor, bis die Wanduhr zehn brummte. Die Hofräthin richtete sich streng nach der heiseren Stimme der alten Mahnerin, mit dem letzten Schlag erhob sie sich und führte Lilli nach der Gaststube, wo sie ihr mit einem Kuß auf die Stirn gute Nacht sagte.

Hier war der Laden noch nicht geschlossen, die Fensterflügel standen offen, das Zimmer war erfüllt von dem Duft der Nachtviolen, die draußen auf den Rabatten standen, und über das weiße Bett hin floß ein bleicher Schimmer. Der Mond war aufgegangen, aber wie verirrte Nachtschwärmer zogen die letzten dunkeln Wolken des Gewitters über seine volle Scheibe hin. Da droben wandelte der Schatten noch immer einsam auf und ab. Der einzelne dünne Mondstrahl, der durch einen Wolkenriß zuckte, irrte noch machtlos an den glühenden Tinten des Glasfensters vorüber, doch allmählich löste sich die dräuende Schicht am Himmel, wie ein unaufhaltsamer Lavastrom floß das bleiche Licht über die Wolkenränder und plötzlich lag es drunten über die Erde gebreitet, ein verklärender Schleier, der ihr Antlitz fremdartig und räthselhaft macht, wie das einer Sphinx, der unlösbare Fragen weckt in der Menschenbrust; wir fassen sie zusammen in das einzige Wort: Sehnsucht.

Die Hängelampe im Thurmzimmer erlosch. Das war aber nicht der Moment, den Laden zu schließen und die schlaflosen Augen in die Kissen zu stecken, meinte Lilli. Der Blaubart da drüben ging sicher jetzt zur Ruhe, und sein schwarzer und weißer Hofstaat auch, und da konnte man wohl ungestraft einen Blick thun in die verbotenen, gefürchteten und doch so anziehenden Herrlichkeiten jenseits des Zaunes. Sie schlüpfte geräuschlos in die Hausflur und huschte, ohne von Dorte, die in der Küche noch mit dem alten Sauer aufsaß, bemerkt zu werden, zur Thür, die nach [435] dem Garten führte… Horch, war das nicht der volle, tiefe Klang einer unbeschreiblich rührenden Menschenstimme, der durch die Lüfte zitterte? … und noch einmal – und abermals! Die Töne reihten sich aneinander, in himmlischer Ruhe an- und abschwellend. War die melancholische Weise der Nachklang eines überwundenen Schmerzes, oder sang sie von verschwiegenem, unbeglücktem Sehnen? … Es war übrigens keine menschliche Stimme, sondern ein Cello, und die Töne quollen aus den jetzt geöffneten Thurmfenstern. Lilli lauschte bewegungslos. Sie dachte nicht daran, daß sie in ihren dünnen Pantöffelchen auf dem feuchten Kies stand und daß der Saum ihres hellen Muslinkleides morgen zum Verräther an ihr werden mußte… Das Wesen, das dem Instrument so sympathische Töne zu entlocken wußte, das in schweigender Nacht die Tiefen einer bewegten Seele im Lied öffnete – es konnte doch unmöglich jener Mann sein, der so wild und herrisch auf seinem Pferd einherbrauste, daß man sich fürchten mußte, der wehrlose Frauen einsperrte und sie wie ein Cerberus bewachte.

Unter den Schlußklängen des Adagios, die leise über ihrem Haupte zerflossen, schritt Lilli unhörbar nach dem Pavillon. Ueber den Zaun zu sehen vermochte sie nicht, das konnte nicht einmal der himmellange, alte Sauer, denn die grüne Wand war sehr hoch und undurchdringlich, aber da war ja das Fenster, um deswillen der alte Pavillon fallen sollte, wie Dorte behauptete. Wie oft war sie früher durch dasselbe geklettert, um mit den Kindern der Familie zu spielen, welche damals die angrenzende Besitzung gemiethet hatte. Es war ja so spät, gesehen wurde sie sicher nicht mehr, auch lag der Pavillon im Schatten. Der Fensterflügel war offenbar nicht mehr berührt worden, seit sie ihn zum letzten Mal geschlossen hatte, denn er war eingerostet, wie auch der Riegel an der Jalousie. Endlich schob sie vorsichtig den Laden zurück. Da lag es vor ihr, das mondbeglänzte Schloß des Blaubarts, und all jener bestrickende, geheimnißvolle Zauber, hinter welchem in dem schauerlichen Märchen Blutströme rieseln, er stieg auch hier aus fremdartigen Blüthenkelchen und webte um die glitzernden Wassergarben, die himmelan sprangen und als silberner Duft wieder herniederstäubten. Dort aus dämmerndem Gebüsch leuchtete ein weißes Marmorbild; der schlanke Frauenleib streckte die Arme gen Himmel, als suche er sich angstvoll den Umarmungen des Epheu zu entziehen, der das Piedestal umstrickte. Das Mondlicht schwamm in Millionen zitternder Funken auf der bewegten Wasserfläche der Bassins, aber es lag auch voll und beharrlich auf den Spiegelscheiben der hohen Fenster; es blickte ungestraft durch die seidenen Gardinen in das Geheimniß des Hauses und lächelte wohl in die zwei schönen Augen, von denen Niemand wußte, ob sie weinten oder in Glück strahlten… Oder wußten es die Fontainen, die fort und fort rauschten und flüsterten? die buntfarbigen Blumenhäupter am Wege, deren verschlossener Mund das Räthsel behütete? Vielleicht streifte der leichte Fuß der eifersüchtig Bewachten an ihnen vorüber und sie blickten hinauf in das gesenkte Auge…

Lilli hatte mechanisch den Laden immer weiter zurückgeschoben. An ihre Schulter legten sich riesige Aristolochia-Blätter, die zum Theil die Rückwand des Pavillons bedeckten und in deren grünen Schalen die letzten Tropfen des Gewitterregens rollten und blitzten, und da huschte es von den Zweigen des Baumes, den der Laden berührt hatte; ein aufgescheuchter Pfau flog auf die Erde nieder und schritt, das wundervolle Gefieder ausbreitend, majestätisch und geräuschlos über den mondbeleuchteten Rasenplatz. Wohl flutheten betäubende Duftströme durch die Lüfte, wohl rauschten die Springbrunnen und der schimmernde Vogel durchirrte lebend und athmend den Garten, und doch schien das Alles so geisterhaft und wesenlos, als müsse es, durch einen Zauberspruch berührt, sofort verschwinden.

Und jetzt hob die Melodie im Thurmzimmer von Neuem an. Lilli setzte sich auf die Fensterbrüstung, legte die gefalteten Hände auf die Kniee und blickte wie berauscht in die abgeschlossene fremdartige Welt hinein… Aber schien es nicht, als sei die Marmorstatue plötzlich vom Piedestal herabgestiegen und wandele durch den stillen Laubgang? Nein, die weißen, kalten Arme dort streckten sich fort und fort unbeweglich in die Luft, und der Mondstrahl und die laue Nachtluft glitten erfolglos über das starre Steingesicht! In jenem Wesen jedoch, das immer näher kam, pulsirte Leben – ein Seufzer schwebte zu Lilli hinüber. Das war sicher das schöne, junge Weib des Blaubartes. Es hemmte einen Augenblick seine Schritte und lauschte dem Adagio. Es war eine hohe, fast königliche Gestalt, aber das duftige, langherabfallende Gewand floß um überaus zarte, schlanke Formen. Die rechte Hand lag unter dem Busen, als wolle sie das stürmisch bewegte Herz beschwichtigen, während der linke Arm nachlässig an der Seite niederhing. In dieser Haltung lag eine unbeschreibliche Anmuth, aber auch etwas von der Hingebung und Hülflosigkeit der Trauerweide, die ihre schwachen Zweige zu Boden sinken läßt. Sicherlich flossen in diesem Augenblick Thränen über das tiefgesenkte Antlitz; welche Form, welchen Ausdruck hatten diese Züge, die sich, wie es schien, selbst der Mondbeleuchtung zu entziehen suchten? Das ließ sich nicht bestimmen; ein schwarzer Schleier fiel wie eine dunkle Mähne vom Haupt über den Nacken und zu beiden Seiten nieder und verdeckte das Gesicht.

In Lilli’s Kopfe wirbelten noch einen Moment Märchen und Wirklichkeit durcheinander; sie fühlte instinctmäßig, daß sie um keinen Preis gesehen werden dürfe, und versuchte, geräuschlos vom Fensterbret herniederzugleiten; allein ihr Blick heftete sich immer wieder wie gebannt an die Erscheinung da drüben… Warum, wenn sie sich elend und unglücklich fühlte, entfloh die Gefangene nicht? Ueber den Zaun zu klettern und in Tante Bärbchens Garten und Schutz zu flüchten, das wäre nach Lilli’s Ansicht durchaus kein unausführbares Wagestück gewesen, sie selbst hätte jedenfalls weit Größeres unternommen, um jenem Tyrannen dort in dem Hause Trotz zu bieten … lieber sterben, als in solcher Gefangenschaft leben! Daß jenes gebeugte Weib sein Joch möglicherweise freiwillig trug, weil es seinen Kerkermeister liebte, das fiel Lilli nicht im Entferntesten ein; sie hatte keine Ahnung von den Widersprüchen und Seltsamkeiten der Liebe, einfach darum, weil ihr dies Gefühl noch gänzlich fern lag. Ihr Herz wallte auf bei dem Gedanken, jener Unglücklichen vielleicht beistehen und ihr helfen zu können, und deshalb verließ sie das Fenster nicht, sondern bog ihr wunderfeines Köpfchen voll heldenmüthiger Entschlüsse weit hinaus und ließ ihre leichte Gestalt, die wie ein schaukelndes Elfenkind aus den breitblätterigen Schlingpflanzen auftauchte, vom Mondschein voll beleuchten… Ein markerschütternder Schrei bebte in diesem Augenblick durch die Lüfte. Die Fremde riß den Schleier über das Gesicht, hielt ihn mit gekreuzten Händen auf der Brust fest und floh wie gehetzt querfeldein über den Rasenplatz und die äußere Steintreppe des Hauses hinauf. Eine nach der Terrasse mündende Thür wurde von innen aufgerissen, und von dem Licht mehrerer Lampen grell überstrahlt, erschien der Neger auf der Schwelle. Die Dame brach neben ihm fast zusammen; aber sie raffte sich wieder auf, deutete mit dem Arm zurück nach dem Pavillon und verschwand im Hintergrund der Halle.

Dies Alles hatte Lilli wie erstarrt mit angesehen; aber nun haschte sie angstvoll nach den Flügeln der Jalousie und zog sie heran, denn der Schwarze stürzte wie wüthend die Terrassentreppe herab. Sie hatte eben mit unsicheren Händen die Riegel vorgeschoben, als draußen der Kies unter seinen Schritten kreischte; er schlug mit der Faust gegen den Laden, daß das alte Holz dröhnte, und stieß in gebrochenem Deutsch einen Schwall von Flüchen und Verwünschungen hervor. Die Finger des jungen Mädchens umschlossen krampfhaft den untern Riegel und drückten ihn nieder. Dicht neben ihrem Ohr, durch die Spalten der Jalousie klang die heisere Stimme des zornigen Schwarzen, sie meinte, seinen Athem im Gesicht zu fühlen. Ein unsägliches Grauen bemächtigte sich ihrer, aber sie harrte bewegungslos aus auf ihrem Vertheidigungsposten. Zum Glück wurde ihr Heldenmuth auf keine weitere Probe gestellt. Eine befehlende Männerstimme, die aus den Lüften, vermuthlich vom Thurm herab scholl, berief den Neger in das Haus; er verstummte sofort und entfernte sich mit hastigen Schritten.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sich das junge Mädchen sagen mußte, es habe eine Unannehmlichkeit für Tante Bärbchen herbeigeführt. Jeder Nerv an ihr hatte gezittert bei dem Geschrei des Tobenden, das sicher bis in das Schlafzimmer der Hofräthin gedrungen war, … und morgen, ja morgen rächte sich der Blaubart voraussichtlich auf eclatante Weise, weil man versucht hatte, in sein Geheimniß einzudringen… Sie verließ den Pavillon unter bitteren Selbstvorwürfen und huschte nach dem Hause zurück. Sauer und Dorte standen mit nicht zu verkennender Wißbegierde und langen Hälsen auf einer Gartenbank und versuchten, dem unüberwindlichen Zaun ein Stückchen Einblick abzuringen; [436] der Lärm in Nachbars Garten war offenbar sehr interessant für die beiden alten Lauscher gewesen. Sie kehrten Lilli den Rücken zu, und so konnte sie ungesehen durch die Hausflur in ihr Zimmer gelangen. Jetzt schloß sie freilich schnell Laden und Fenster, steckte sogar die buntkattunenen Vorhänge übereinander und vergrub die Augen tief in die Kissen. Der Angstschrei der fliehenden Frau und die Verwünschungen des fürchterlichen Schwarzen drängten sich noch in ihre Träume; sie hatte vorläufig genug von den Herrlichkeiten da drüben.

Wo aber waren sie hin, alle die Schreckbilder der Nacht, als Lilli am anderen Morgen in den Garten trat? Geflohen vor dem Sonnenlicht, das unerbittlich wie die ewige Wahrheit mit feurigem Schwert die Ausgeburten des Dunkels, die zweifelhaften Gebilde des halben Lichts verjagt. Da drüben hob der Thurm sein Zinnengeländer wie eine klare, goldgewebte Spitze in das tiefe Blau des Morgenhimmels. Der Sonnenstrahl tummelte sich auf den bunten Glasscheiben so lustig und harmlos wie auf Tante Bärbchens Stubenfenstern; das sah nicht aus wie Kerkerwände, in denen das Verbrechen haust. Jenseit des Zaunes, wie hier funkelten die Thautropfen sonnenklar und rein an den Blattspitzen, und der Buchenwald hauchte seinen herzstärkenden, morgenfrischen Duft unparteiisch über beide Gärten… Ach, wie erquickend strömte es durch die weit offene Thür in die Hausflur, und wenn man hinausschritt auf die tief ausgetretenen Steinstufen vor der Thür, wie lag das Thal paradiesisch drunten, tief eingebettet zwischen den waldigen Bergen, blühend, und rosig angehaucht vom Frühlicht, wie ein Kind in der Wiege, das seine jungen Augen nach süßem Schlummer lächelnd öffnet! Alle Befürchtungen und Aengste waren wie weggewischt aus Lilli’s Seele; nur die wundervollen Cellotöne klangen noch nach in ihr, sie hatten ihr den Eindruck gemacht, wie ein Blick aus tiefen, schwermüthigen Augen.

Sie ging nach der Laube, in der bei schönem Wetter stets gefrühstückt wurde. Auf dem langen Kiesweg vor dem Eingang derselben wandelte Tante Bärbchen langsam auf und ab. Sie zupfte hier und da ein naseweises Unkraut aus den Gemüsebeeten, oder hob den Zweig eines Johannisbeerstrauches in die Höhe und betrachtete die Träubchen, die noch ziemlich unentwickelt, aber in unglaublichen Massen daran hingen; ihr Johannisbeerwein war berühmt bei Freunden und Bekannten. Drin auf dem weißen Gartentisch der Laube lag das aufgeschlagene neue Testament; sie hatte also, wie sie seit vielen Jahren gewohnt war, ihr Morgencapitel hier gelesen. Den nächtlichen Vorfall erwähnte sie mit keiner Silbe, wahrscheinlich hatte sie ihn verschlafen, desto besser; aber da kam Dorte mit dem Frühstück … wehe, die steifen Bindebänder ihrer weißen Leinwandhaube hingen aufgelöst über dem Rücken! Das war stets ein Zeichen, daß es ihr von innen heraus warm geworden war; das heißt, sobald sie sich ärgerte und ereiferte, riß sie die zierlich geknüpfte Schleife unter dem Kinn auf, warf die Bänder kühn nach hinten, stemmte den rechten Arm auf die Hüfte, und die Sturmcolonne war fertig. Ihr Morgengruß klang so alterirt, daß die Hofräthin sich lächelnd erkundigte, ob sie schlecht geschlafen habe.

„Ach, Sauer ist wieder einmal so bockbeinig!“ entgegnete sie grollend und stellte mit unsicherer Hand die Tassen klirrend auf den Tisch. „Der denkt auch, weil er die Dorfzeitung mithält, er ist nun auch der Gescheidteste, und ein Anderes darf nicht mucksen. … Und wahr ist’s doch, das laß ich mir nicht nehmen! Die Geschichte ist in Erfurt passirt, und meine Frau Pathe war aus Erfurt, die hat sie mir erzählt, und die log nicht. Das war eine Frau, so resolut, vor der konnten zehn Männer wie Sauer nicht aufkommen… Da soll in Erfurt ein General gewesen sein, das war ein wahrer Unmensch. Er hat von früh bis in die Nacht gespielt und getrunken, und sonst noch viel schlechte Streiche gemacht, die ein ordentlicher Mensch gar nicht nacherzählen kann. Der hat einmal einen Ball gegeben, da ist’s wild und wüst zugegangen, und wie in der Nacht die Glocke Zwölfe gebrummt hat, da steht draußen vor der Saalthür ein ganz schwarzer Herr – keine Menschenseele hat gewußt, wie er hereingekommen ist – und läßt den General hinausrufen. Auf einmal ist ein fürchterlicher Spectakel; die Fenster sind von selbst aufgeflogen, es hat gestampft und getrabt, als ob wilde Pferde über Dielen und Treppen liefen, und der General hat jämmerlich geschrieen; und wie die Anderen hinausgekommen sind, da waren die Beiden weg und sind auch nie wiedergekommen. Der kohlschwarze Herr war, mit Erlaubniß zu sagen, der Teufel, und hat den General geholt… Die Geschichte hab’ ich in aller Unschuld dem Sauer erzählt; da wird doch der Mensch ganz grob, wirft seinen Stiefel, den er gerade wichst, auf die Erde und sagt, ich solle nur gleich in den Spittel ziehen; dort glaubten sie noch solches Zeug.“

Die Hofräthin unterdrückte mit Mühe ein Lächeln, denn Dorte war sehr leicht beleidigt.

„Wie bist Du denn aber auch auf ein so entsetzliches Thema gekommen, Dorte?“ fragte sie.

„Ja, ich meinte,“ entgegnete die alte Köchin, indem sie mit dem Zipfel ihrer blauen Leinenschürze kühlend über ihr erhitztes Gesicht strich, „der Lärm heute Nacht sei doch gerade so gewesen, als ob der Böse eines arme Seele hole.“

„Welcher Lärm?“ fragte die Hofräthin verwundert. Lilli bog das Gesicht über ihre Tasse; die Wetterwolke war im Begriff, sich über ihrem Haupt zu entladen. Den Verweis der Tante fürchtete sie nicht, gern hätte sie ihn hingenommen, denn sie war schuldig; allein der Gedanke war ihr überaus peinlich, daß ihre mütterliche Freundin um ihretwillen Verdruß haben werde.

„Daß Gott erbarm, Frau Hofräthin,“ rief Dorte und schlug die Hände über den Kopf zusammen, „haben Sie denn den Heidenrumor nicht gehört? Drüben ist’s ja d’runter und d’rüber gegangen, Sauer meint, die Liebste habe vielleicht ausreißen wollen und sie hätten sie dabei erwischt… Du lieber Gott, in der armen Person ihren Schuhen möchte ich auch nicht stecken! Mit dem da drüben ist nicht gut Kirschen essen.“

„Ist er denn wirklich ein solcher Bösewicht?“ fragte Lilli aufathmend, und innerlich lachend über die verschiedenartige Auffassung der nächtlichen Scene.

„Na, den sollten Sie einmal hören, wenn er seine Leute auszankt; ich hör’s bis in meine Küche. Aber am Zanken hat der auch noch lange nicht genug, Blut muß er sehen; Sie können mir’s glauben, der hat nur deswegen im vorigen Jahr den Krieg mitgemacht – Sauer meint’s auch.“

„Nun, da mag er doch wohl andere Gründe gehabt haben,“ sagte die Hofräthin. „Er ist ja selbst bei Oeversee verwundet worden und soll in einem sehr elenden Zustand wieder hierhergekommen sein… Uebrigens, Dorte,“ fügte sie streng hinzu, „der heutige Zank zwischen Dir und Sauer ist eine gerechte Strafe für euch Beide gewesen. Wie oft soll ich denn wiederholen, daß ihr euch durchaus nicht um das kümmern sollt, was drüben vorgeht?“

Dorte meinte niedergeschlagen, man könne doch nicht immer Baumwolle in die Ohren stecken, und entfernte sich.

[449] Später ging die Hofräthin in die Stadt, um einen Krankenbesuch zu machen. Lilli benutzte diese Gelegenheit und durchstreifte Haus und Garten; sie suchte auch den Pavillon wieder auf. Ein Glück, daß Tante Bärbchen ihren Morgenspaziergang auf den Kiesweg drüben beschränkt hatte, denn die Pavillonthür stand noch weit offen, und offene Thüren und Fenster während der Nacht waren der Hofräthin ein Gräuel. Lilli öffnete die Jalousieen der zwei Fenster, die nach Tante Bärbchens Garten gingen. Das helle Licht fiel auf die trauten Wände und Geräthschaften; Alles stand noch unverrückt an seinem Platze, nichts schien berührt worden zu sein während der dreijährigen Abwesenheit des jungen Mädchens. Während ihres letzten Aufenthaltes bei Tante Bärbchen hatte Lilli noch sehr fleißig mit ihren Puppen gespielt. Am Tage vor ihrer damaligen Rückreise nach der Heimath waren sämmtliche Bewohner der großen Puppenstube festlich geschmückt worden, denn es handelte sich um eine Abschiedsfête. Da saßen sie noch mit steif ausgestreckten Armen, mühsam in eine sitzende Stellung gezwängt, um den großen, runden Tisch – eine kurzweilige Gesellschaft. Ein großer Hanswurst kauerte trübselig und aus dem kaffeetrinkenden Damenkreise verbannt in einer Ecke des Pavillons, und das dicke Wickelkind in der Wiege wartete noch ebenso hülfsbedürftig, wie damals, auf pflegende Hände. Das junge Mädchen fühlte sich plötzlich der Gegenwart entrückt. Sie kauerte vor dem Puppenzimmer auf dem Boden nieder und vergegenwärtigte sich lächelnd, was Alles sie diese kleinen, hohlköpfigen Wesen hatte denken und erleben lassen. Sie hatte in der Zwischenzeit lernen, entsetzlich viel lernen müssen, um ihren Geist auszubilden, aber ihr Empfinden war dasselbe geblieben. Und da standen auch noch alle die alten Möbel, die sie so lieb hatte. Sie stammten aus jener Zeit, wo die Mitglieder der zwei Familien sich hier einträchtig versammelt hatten. An den Wänden hingen Oelbilder, sämmtlich von Erich Dorn, Tante Bärbchens Großvater, gemalt. Sie verriethen ein sehr mittelmäßiges Talent und in ihren Motiven das umdüsterte Gemüth des Malers. Er hatte sich vorzugsweise in der Darstellung dunkler, grauenhafter Momente aus der Mythologie und Weltgeschichte gefallen. Gerade über Lilli’s harmloser Spielecke hing ein größeres Gemälde, das in früheren Zeiten manchmal, namentlich bei hereinbrechender Abenddämmerung, ihr kindliches Gemüth mit panischem Schrecken erfüllt hatte. Es war ein Orest, den die Furien verfolgen. Mit flüchtigem Pinsel und einer gewissen Hast gemalt, war es auffallend verzeichnet in den Proportionen, Fehler, die den Eindruck des Bildes zu einem lächerlichen hätten machen können, wäre nicht der Kopf des Orestes gewesen; aber dieses Gesicht hatte etwas Ueberwältigendes in seinem Ausdruck. Nicht das haarsträubende Entsetzen in den Zügen war es allein, was den widerstrebenden Blick des Beschauers immer wieder fesselte; tiefer noch ergriffen die namenlos bittern Schmerzen der Reue, welche der sonst so ungelenke, steife Maler mit wahrer Meisterschaft diesem Antlitz aufgedrückt hatte.

Kurz vor seinem Tode hatte Erich Dorn die Bilder eigenhändig hier aufgehangen. Er weilte gern und viel unter seinen Schöpfungen, und das letzte Wort, das er bei seinem plötzlichen Scheiden aus dieser Welt mühsam hervorgestammelt, war „der Pavillon“ gewesen. Seine Frau betrachtete deshalb auch das kleine Gartenhaus wie ein heiliges Vermächtniß. Sie sah streng darauf, daß die Bilder genau so hängen blieben, wie die geliebte Hand sie geordnet hatte, und ihr Sohn, wie auch Tante Bärbchen, mußten ihr wiederholt versprechen, daß sie das Gebäude sammt seiner kleinen Gemäldesammlung vor dem Untergange behüten wollten. Daran dachte Lilli jetzt, als sie sinnend vor dem Orestesbilde stand. Sie begriff vollkommen, daß die Tante den Mann verabscheuen müsse, der sie zwingen wollte, ihr Gelöbniß zu brechen. Aber vielleicht, wenn die Hofräthin ihren Groll gegen die andere Linie der Dorn’s überwunden und dem jungen Nachbar ruhig vorgestellt hätte, weshalb sie die Erhaltung des Pavillons wünschen müsse, vielleicht wäre er da, trotz seiner Wildheit, doch von der Vernichtungsidee abzubringen gewesen.

Dieser Gedankengang des jungen Mädchens wurde plötzlich unterbrochen durch ein Geräusch drüben im Garten des Nachbars. Sie hörte deutlich, daß mehrere Männer auf den Pavillon zuschritten und plötzlich Halt vor demselben machten. Durch die Lücken der Jalousie sah sie, wenn auch nur bruchstückweise, die Gestalt eines Arbeiters im Schurzfell und mit Handwerksgeräth beladen. Neben ihm standen der Neger und noch ein Anderer in Livree. Was beabsichtigten sie?

„Na, Ihr sollt sehen,“ sagte der Arbeiter lachend zu den Andern, „ich werde ein Loch in das alte Nest machen, daß ihm das Lebenslicht bald ausgehen soll… Da wird ja wohl die Alte da drüben endlich merken, daß Herr von Dorn nicht mit sich spaßen läßt.“

In demselben Moment erdröhnte die Wandseite, an welcher der Orestes hing, unter einem furchtbaren Schlag. Lilli riß das Bild herab und zog die Bank, auf der die Puppengesellschaft residirte, tiefer in’s Zimmer. Fast unmittelbar darauf erfolgte draußen ein zweiter Anprall; unter einem schrecklichen Poltern und Geprassel löste sich ein ungeheures Stück Lehmfachwerk und stürzte herein in [450] den kleinen Salon. Die undurchdringlichen Staubwolken, die zu gleicher Zeit aufwirbelten, nöthigten das junge Mädchen, vor die Thür zu flüchten, aber nur für einen Augenblick wich sie, die Bilder mußten ja gerettet werden, ehe der Vandale draußen sein Zerstörungswerk fortsetzte. Sie war eben im Begriff, in das Zimmer zurückzukehren, als es von fern herüberklang: „Halt, halt, es ist vorläufig genug!“

Es war dieselbe Stimme, die gestern Abend den Neger in’s Haus berufen hatte, eine volltönende, männliche Stimme, der man es anhörte, daß sie gewohnt sei, zu befehlen. Ah, das war sicher der Blaubart gewesen! Er schien das Werk seiner Rache in höchsteigener Person besichtigen zu wollen, denn ein rascher, fester Männerschritt näherte sich dem Pavillon… Sollte sie fliehen? Nein. Sie war tief empört über die Gewaltthätigkeit dieses Mannes, er sollte empfinden, daß er verachtet werde, daß Andere Ruhe genug besäßen, um seiner Brutalität und Anmaßung entgegenzutreten. Sie trat an den Tisch, der inmitten des Salons stand, stellte eine leere Kiste auf denselben und fing an, scheinbar höchst gleichmüthig, das herumliegende Spielzeug einzupacken.

„Jacques,“ sagte die Stimme jetzt dicht hinter dem Fensterladen, sie klang in diesem Augenblick sehr streng und herrisch, „ich hatte befohlen, daß man zuerst dies Fenster öffnen und sich überzeugen solle, ob nicht innerhalb der Wand sich irgend etwas befinde, das beschädigt werden könnte; weshalb ist das unterblieben?“

„Ach, gnädiger Herr,“ entgegnete der Maurer an Stelle des zur Verantwortung gezogenen Dieners, „was soll denn da drin sein? Die Alte wird doch wahrhaftig nicht ihre Kostbarkeiten in der Rumpelkammer aufheben!“

Es erfolgte keine Antwort; statt dessen erschien eine Männergestalt in der Maueröffnung und sah herein. Unwillkürlich hob Lilli die gesenkten Lider. Da standen sie sich gegenüber, Auge in Auge, der fürchterliche Blaubart und die junge Dame, die plötzlich ihre ganze, bedeutende Dosis Trotz und Willensstärke nöthig hatte, um in diesem wichtigen Augenblick nicht aus ihrer Heldenrolle zu fallen. Sie schalt sich innerlich „ein ganz erbärmliches Menschenkind“, weil sie nicht vermochte, den rebellischen Blutwellen zu gebieten, die unter jenem Blick ihr Gesicht überflutheten. Sie überredete sich, nur einen Moment flüchtig hinübergesehen zu haben, und wußte doch ganz genau, daß dort eine kräftig gebaute Gestalt von höchst eleganter Haltung stehe, daß ferner auf dieser Gestalt in der einfachen, braunen Joppe ein auffallend schöner, jugendlicher Männerkopf sitze mit Zügen, die allerdings dämonisch genug aussahen, um den ihm octroyirten, nicht sehr schmeichelhaften Beinamen zu bestätigen.

Er stand einen Augenblick wie angewurzelt vor Ueberraschung; dann aber bog er sich in das Zimmer und betrachtete die Verwüstung, die der Maurer angerichtet. Ohne das Auge wieder zu erheben, bemerkte Lilli doch, daß er leicht mit dem Fuße stampfte.

„Wie ungeschickt!“ murmelte er mit einem Blick nach den Leuten, die verblüfft dastanden. „Ich hoffe, ich bin noch rechtzeitig gekommen, um ein größeres Unglück zu verhüten?“ sagte er mit einer leichten Verbeugung zu Lilli.

Keine Antwort.

Er wandte sich ab und schleuderte die brennende Cigarre, die er zwischen den Fingern hielt, hinüber auf den Rasenplatz. Die Leute entfernten sich stillschweigend. Lilli hoffte, er werde dasselbe thun, denn sie wollte um keinen Preis zuerst das Feld räumen, das hätte wohl am Ende gar ausgesehen wie Flucht, und doch mußte sie sich innerlich eingestehen, daß sie am liebsten so schnell wie möglich auf und davongelaufen wäre.

Aber da stand er schon wieder vor der Mauerlücke. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und lehnte sich mit einer Ruhe und Zuversicht an einen der bloßgelegten Balken, als stehe er hier auf dem Boden freundschaftlichen Verkehrs und nicht an der Schwelle eines feindlichen Gebietes. Lilli fühlte, wie sein Auge unverwandt auf ihr ruhte, sie hätte verzweifeln mögen vor Ungeduld und Verlegenheit, aber nun galt es doppelt, mit sicherer Haltung aus dieser schwierigen Lage hervorzugehen. Sie würdigte ihn keines Blickes und legte eine große Puppe in den Kasten, deren lange, blonde Locken unter einem Kinderm��tzchen hervorquollen.

„Ein reizendes Geschöpfchen!“ unterbrach er plötzlich das peinliche Schweigen. „Es würde mich sehr interessiren, zu wissen, ob es auch schreien kann.“

Welche Ironie lag in dieser Stimme! Er hatte die Absicht, sie zu beleidigen, er behandelte sie wie ein Kind! Tief empört warf sie ihm einen zornsprühenden Blick zu.

„Ah, gut!“ rief er, indem er lächelnd diesen Blick auffing, „Ich wollte einfach wissen, ob Sie des Deutschen mächtig sind. Es bleibt mir in diesem Augenblick kein Zweifel, und so darf ich wohl hoffen, daß Sie mir wenigstens eine Frage beantworten: Wollen Sie mir verzeihen, daß Sie durch mein Verschulden erschreckt und gestört worden sind?“

„Ich erschrecke nicht so leicht, somit bin ich wohl jeder ferneren Antwort überhoben?“

Es zuckte etwas wie ein Wetterleuchten über sein Gesicht, aber er machte nicht die geringste Bewegung, seinen Posten zu verlassen.

„Nothgedrungen muß ich mich damit zufriedengestellt erklären,“ entgegnete er endlich mit Humor. „Aber sagen Sie selbst, ob Moses, nachdem er den ersten süßen Laut der von ihm hervorgelockten Silberquelle gehört, es wohl bei diesem einmaligen Hören hat bewenden lassen? Ich bin in dem gleichen Fall, wenn ich auch eine herbe Beimischung mit in den Kauf nehmen mußte… Ich habe zwar, vielleicht die Ansprüche der allgemeinen Nächstenliebe ausgenommen, Ihnen gegenüber nicht einen Zoll breit Rechtsboden unter meinen Füßen, und dennoch unterfange ich mich, Ihnen einen Vergleich in Güte vorzuschlagen. Seien Sie wie jene freundliche Fee, die dem armen Mann drei Wünsche gewährte und gestatten Sie mir drei Fragen.“

Sie hatte die größte Selbstbeherrschung nöthig, um sich nicht von seinem Humor anstecken zu lassen. Am liebsten hätte sie ihm bei seinem originellen Vorschlag in das Gesicht gelacht, aber das durfte sie um Alles nicht dem feindseligen Nachbar gegenüber. Er mußte mit Ernst und Kälte für immer in die Schranken zurückgewiesen werden. Sie wandte ihm den Rücken, nahm eines der Bilder von der Wand, und während sie den Staub von dem Rahmen zu entfernen suchte, entgegnete sie gleichgültig: „Und was bieten Sie dagegen, wenn ich mich herbeilasse, Ihnen Rede zu stehen?“

„Nun, vielleicht – die Zurückweisung in Ihrem Gesicht läßt mich nicht bezweifeln, was Ihnen zunächst wünschenswerth ist – vielleicht das Versprechen, daß ich dann gehen und Sie allein lassen will!“

„Gut.“

„Das heißt, es bleibt nur für heute in Kraft.“

„Ich sehe die Möglichkeit nicht ein, daß wir uns je wieder begegnen werden.“

„Wollen Sie das nicht meine Sorge sein lassen?“

„Das steht Ihnen frei, ich werde es stets zu vermeiden wissen.“

Die alte Dorte hatte Recht, er war furchtbar jähzornig. Eine flammende Röthe flog über sein Gesicht, während er die Lippen fest aufeinander preßte, als wolle er einen Strom heftiger Worte gewaltsam unterdrücken. Mit einer ungestümen Bewegung trat er einen Schritt in den Garten zurück, riß von einem nahestehenden Rosenstrauch zwei Blüthen ab, zerdrückte sie in der geballten Hand und ließ sie dann auf den Boden fallen.

Lilli sah erschreckt zu ihm hinüber. Sie hatte ihn tief verletzt… Wie thöricht! es kam urplötzlich wie ein Anflug von Reue über sie, daß sie so herb geantwortet hatte, aber der Mann, der Tante Bärbchen so tief kränkte, er verdiente ja ganz und gar keine Schonung. Es war überhaupt, gelind geurtheilt, sehr rücksichtslos von ihm, sie in ein Gespräch verwickeln zu wollen, sie, die doch nothwendig auf Seiten der angefochtenen und beleidigten Nachbarin stehen mußte. Sie hatte sich mittels dieser Raisonnements sehr schnell wieder in ihre abweisende Haltung hineingefunden und nahm jetzt, als denke sie gar nicht mehr daran, daß er noch draußen stehe, geschäftig ein zweites Bild von der Wand. Auch das verscheuchte ihn nicht. Er schien seine Entrüstung bekämpft zu haben, wenigstens war das Auge nicht mehr zornfunkelnd, das einen Moment ihren schnell vorbeihuschenden Blick traf. Er trat wieder näher und betrachtete die innere Fläche seiner kräftigen, aber schöngeformten Hand, ein Tropfen Blut rieselte über die weiße Haut.

„Da sehen Sie,“ sagte er, indem er einen Dorn aus dem Fleisch zog, „die Nutzanwendung bleibt stets neu, wenn auch das abgenutzte Wort: ‚Keine Rose ohne Dornen‘ nicht einmal in dem Aufsatz eines Schulkindes mehr Raum finden mag… Wer denkt aber auch,“ sein Auge glitt bei diesen Worten über die Puppen auf dem Tisch und ein sarkastisches Lächeln zuckte um seinen Mund, „daß bei einer so kindlich lieblichen Beschäftigung der Hände ein [451] verborgener Stachel hinter den Lippen sitzt! … Sie finden es vielleicht unbegreiflich,“ hob er nach einem momentanen Schweigen wieder an, „daß ich nach Ihrer letzten Erklärung noch ein Wort verliere, aber die drei Fragen sind viel zu theuer erkauft, um ihre Erledigung so ohne Weiteres aufzugeben… Ich will billig sein, die erste haben Sie mir bereits beantwortet, aber als Numero zwei möchte ich gern wissen, ob Sie mit der Hofräthin Falk, also auch mit den Dorn’s, verwandt sind?“

„Nein.“

„Nun, warum tragen Sie mir da den unseligen Familienhaß entgegen, als seien Sie der allernächste Abkömmling des alten Erich Dorn?“

Sie sah erstaunt auf. Dieser Barbar begriff nicht einmal, daß er sich vor wenig Augenblicken einer unverzeihlichen Rohheit schuldig gemacht hatte, infolge deren ihn jedes Frauengemüth verurtheilen müsse… Las er auf ihrer Stirn diesen Gedanken, der freilich noch einen besonderen Ausdruck erhielt durch einen indignirten, über den Schutt hinstreifenden Blick des jungen Mädchens? Genug, er streckte ihr die Hand entgegen, als wolle er die Antwort abwehren, die bereits auf ihren Lippen schwebte.

„Nein, nein, sagen Sie nichts!“ rief er hastig und bemüht, seinen Worten abermals einen Anstrich von Humor zu geben, „ich war mit dieser Frage unvorsichtig wie ein Kind, das sich auf einbrechendes Eis wagt! … Sie wollten mir eben antworten, es bedürfe der alten, verschimmelten Traditionen ganz und gar nicht, um in mir ein haarsträubendes Beispiel männlicher Willkür und Brutalität zu sehen; hier liege der Beweis vor Ihren kleinen Füßen u. s. w. u. s. w. … Ich führe eine Art Einsiedlerleben und habe mich bisher auch nie darum gekümmert, was jenseits dieses Zaunes lebt und webt und vorgeht, ich weiß also nicht einmal, in welchen Beziehungen Sie zu dem Haus da drüben stehen.“

Lilli lachte innerlich über die Schlauheit, mit der er sich in Betreff ihrer Person zu orientiren suchte.

„Gehört das in das Bereich Ihrer Fragen?“ fragte sie ohne aufzublicken.

„Nein, um’s Himmelswillen nicht! Ich muß haushälterisch sein … aber Sie würden mir einen großen Theil meiner Vertheidigungsrede ersparen, wenn Sie mir wenigstens sagen wollten, seit wie lange Sie hier sind.“

„Seit gestern.“

„Ah, dann muß ich Sie freilich bitten, mir noch einige Augenblicke Gehör zu schenken! … Ich bin, nach langen Irrfahrten durch die Welt, schließlich zu der Ueberzeugung gekommen, daß ich das beste Theil meines Lebens – d. h. den Moment, wo die Seele mit der ganzen übrigen Welt in vollkommener Harmonie steht, mithin ihren Frieden hat – in den ersten sechs Jahren meines Daseins zu suchen habe. Infolge vielfacher Enttäuschungen verfiel ich endlich dem leidigen Aberglauben und vermuthete im Lande meiner Geburt einen Hort, einen Zauber, der mich sofort in das Glück des ursprünglichen Friedens zurückversetzen müsse. Sie werden begreifen, daß ich mich ohne Weiteres auf den Weg nach Thüringen machte.“

Er hatte in leichtem Scherz gesprochen, aber Lilli’s feinem Ohr entging die Bitterkeit nicht, die leise hindurchklang.

„Das begreife ich vollkommen,“ entgegnete sie, „aber es ist mir ein Räthsel, wie Sie Ihren innern Frieden darin finden können, Andern das Dasein zu verbittern.“

„Das wäre auch für mich selbst eine ebenso unlösbare Aufgabe, wie der Gedanke, daß diese Andern die Annehmlichkeit ihres Daseins auf so viel Hinfälligkeit stützen mögen.“

Er überblickte bei diesen Worten spöttisch die allerdings sehr altersschwachen Wände des Gartenhauses.

„Sie sehen,“ fuhr er in dem früheren humoristischen Tone fort, „ich kam in der friedlichsten Absicht hierher. Ich hatte sogar rein vergessen, daß die alte Frau da drüben, von allen Kindern aus der Stadt schon damals ‚Tante Bärbchen‘ genannt, für mich nur kalte, strenge Blicke hatte, was mich, als kleinen, heißblütigen Jungen, oft so ingrimmig machte, daß ich Steine in ihre Zwetschenbäume warf… Sie hat den Familienhaß treulich festgehalten, ihr Blick ist nicht wärmer geworden. Trotzdem lag es durchaus nicht in meinem Willen,“ sagte er ernster, „ihr feindselig gegenüberzutreten, ich entschloß mich ja sogar, ihre Besitzung zu kaufen, um dies klägliche Zerrbild eines Pavillons aus meinen neuen Anlagen ungehindert entfernen zu können; nicht allein, daß mein Schönheitssinn durch dasselbe stark beleidigt wird, sondern hauptsächlich, weil ein besonderer Umstand es mir zur Pflicht macht, diese Ausschau auf meinen Grund und Boden nicht zu dulden.“

„Dieser besondere Umstand ist uns durchaus kein Geheimniß, verehrtester Herr Blaubart!“ dachte Lilli und ließ zum ersten Mal ihre großen, dunklen Augen voll und fest auf seinem Gesicht ruhen… Hatte sie den dämonischen Zauber jenes Märchenhelden vergessen, der immer und immer wieder die Mädchenseelen hinüberzog in sein Bereich? … Wer mochte auch daran denken! Diese Gefahr lag so fern! Waren auch jene männlich schönen Züge dort unergründlich für ihren unerfahrenen Blick, so schwebte doch in der That, als untrügliches Warnungszeichen, ein tiefer, blauer Hauch um das Kinn und den unteren Theil der Wangen. … Ah, sein Gewissen war doch wohl noch nicht gänzlich verhärtet; denn ihr forschendes Aufblicken hatte eine eigenthümliche Wirkung! Er verstummte plötzlich mitten in seiner Rede; es war, als ob sich sein Auge erweitere und aufflamme … war es die Verwirrung des Schuldbewußtseins? Sie wußte es nicht; aber es lag in diesem Ausdruck Etwas, das beklemmend auf sie zurückwirkte.

„Ah, die Lösung, die Lösung!“ rief er mit gänzlich veränderter Stimme, es klang fast, als erwache er aus einem Traume und spräche mit sich selbst.

„Ja, die Lösung des Räthsels war gar nicht so schwer, das hat selbst die alte Dorte herausgebracht,“ dachte Lilli, schlug aber doch, trotz dieser inneren kühnen Bemerkung, die Augen nieder. Er ging einmal draußen auf und ab und nahm dann seine vorige Stellung wieder ein.

„Ich bin ein schlechter Advocat,“ sagte er lächelnd und bemüht, den leichten Ton wieder aufzunehmen. „Mitten in meiner wohlgesetzten Rede reißt mir der Faden … aber ich machte plötzlich eine wunderbare Entdeckung. Es lag Etwas wie eine dunkle Weissagung in meiner Seele, und ich fand, daß sich dies Etwas mit der Schnelligkeit des Blitzes an einem einzigen Strahl erfüllt habe.“

Er strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er seine Gedanken sammeln; Lilli aber schickte sich an, den Pavillon zu verlassen. Es kam eine unerklärliche Bangigkeit über sie, er war doch zu sonderbar. Auch fiel ihr ein, daß es eigentlich ganz gegen Sitte und Anstand sei, einem ihr gänzlich fremden Herrn, und noch dazu einem ausgesprochenen Widersacher der Tante, ein längeres Gespräch zu gestatten. Sie hatte den Reiz seines originellen Wesens auf sich einwirken lassen, das war thöricht gewesen und mußte nun so schnell wie möglich wieder gut gemacht werden.

„Nun, darf ich meine Vertheidigung nicht zu Ende führen?“ fragte er bittend, als sie sich der Thür näherte.

„Den Schluß kann ich Ihnen selbst sagen,“ entgegnete sie, das Gesicht halb nach ihm zurückwendend. „Sie haben die Hofräthin Falk gerichtlich verklagt; das Recht ist Ihnen zugesprochen worden, und da Ihr leidenschaftlicher Wunsch nicht sofort in Erfüllung gegangen ist, so sind Sie zornig geworden, haben dies Loch in die Wand schlagen lassen und erwarten nun ohne Zweifel eine unvergleichliche Wirkung dieses Gewaltstreichs.“

„Leidenschaftlich, zornig, Gewaltstreich!“ wiederholte er mit persiflirendem Pathos, aber ein tiefer Verdruß ließ sich in Stimme und Gesichtsausdruck nicht verkennen. „Noch einige wenige Striche, und das Portrait eines Wütherichs ist fertig! … Ich kann Ihnen übrigens versichern, daß ich trotz all dieser aufgebürdeten Laster ein Freund der Wahrheit bin, und will deshalb nicht verhehlen, zornig geworden zu sein. Die alte Frau hat mich bitter gereizt. Es sind bereits mehrere Tage über die ihr festgestellte Frist verflossen; aber vielleicht hätte ich doch noch nicht zur Selbsthülfe gegriffen, wären nicht gestern durch nächtliche Erscheinungen an diesem Fenster Aufregung und Schrecken auf meinem Gebiet hervorgerufen worden.“

Also ihr unverantwortlicher Leichtsinn war in der That schuld an der heutigen Katastrophe! Diese Gewißheit wirkte sehr deprimirend auf das junge Mädchen. Der Fehler ließ sich nicht wieder ausgleichen, aber sie konnte ihn wenigstens sühnen dadurch, daß sie frei bekannte, wer die Schuldige gewesen. Sie öffnete eben die Lippen zu einer Entgegnung, als die tiefe, aber weithin schallende Stimme der Hofräthin vom Hause her ihren Namen rief… Wie kam es nur, daß ihr plötzlich der Gedanke überaus peinlich war, [452] die Tante möchte mit ihrem Widersacher hier zusammentreffen und in Wort und Benehmen ihren Groll, ihre Empörung ungescheut und verletzend an den Tag legen? Sie eilte deshalb nach einer leichten Verbeugung zur Thür hinaus und fand richtig die Hofräthin im Begriff, sie im Pavillon aufzusuchen. Mit fliegenden Worten und unterdrückter Stimme erzählte sie sofort das Geschehene. Die kräftige dunkle Hautfarbe der Tante wurde um einen Hauch blässer, und in den etwas grellblauen, scharfblickenden Augen tauchte der innere Grimm auf; aber sie blieb äußerlich ruhig und rief den alten Sauer herbei.

„Hole Er mir gleich die Bilder aus dem Pavillon, aber nehme Er sie fein säuberlich vom Nagel!“ befahl sie. „Sie können einstweilen in die grüne Stube getragen werden, bis ich mir überlegt habe, wo sie für die Zukunft hängen sollen… Sehen will ich sie jetzt nicht, daß Er sie mir nicht etwa vor die Augen bringt, Sauer! … Es ist mir gar zu schrecklich, daß sie nun doch fortmüssen von ihrem alten Platz, und ich kann’s nicht ändern!“

Lilli folgte der Hofräthin in’s Wohnzimmer, schlang die Arme um den Hals derselben und beichtete ihre Schuld. Ihre Augen steckten tief in Tante Bärbchens großer Tüllkrause, und deshalb entging ihr das heimliche Lächeln, das gleich zu Anfang ihres Bekenntnisses um die Mundwinkel der Hofräthin flog.

„Schäme Dich, Lilli!“ sagte sie, als das junge Mädchen zu Ende war mit ihrer Selbstanklage. „Kömmst da her aus der großen Stadt, gebehrdest Dich als völlig erwachsene Dame mit Deinem entsetzlichen Reifrock und den Schleppkleidern, die zu Dortens Aerger den Sand von Flur und Treppen wegfegen; hast Englisch und Französisch gelernt und Deine Nase in Chemie und andere hochgelehrte Sachen gesteckt, und bist so kindisch dabei geblieben, daß ich nächstens die Schulregeln wieder dort neben das Uhrgehäuse werde hängen müssen… Uebrigens – Du verdienst es zwar nicht – will ich Dir einen Trost geben: der saubere Herr hätte auch ohne Dein Zuthun seine Heldenthat heute ausgeführt, ich hab’ es nicht anders erwartet. Dem mag’s wohl in den Fingern gezuckt haben, bis er über das arme, alte Gartenhaus hat herfallen dürfen!“

„Das glaube ich eben nicht, Tante,“ entgegnete das junge Mädchen und hob lebhaft den Kopf in die Höhe. „Er hat mir durchaus nicht den Eindruck eines bösartigen Menschen gemacht; ich bin fest überzeugt, hättest Du ihm ruhig vorgestellt –“

„Ei, da will wieder einmal das Ei klüger sein, als die Henne!“ schalt die Hofräthin, in der That jetzt heftig erzürnt. „Ruhig vorstellen, ich, eine von den Erich’s, dem da drüben! Meine Großmutter hätte eher mit eigener Hand den Pavillon in Brand gesteckt, als den Hubert’s ein gutes Wort d’rum gegeben. … Komme mir nie wieder mit dergleichen Redensarten, Lilli! Ich bin alt geworden in dem Bewußtsein, daß die Hubert’s auf unsere Linie einen Flecken geworfen haben, und den Groll und Schmerz darüber nehme ich mit in’s Grab… Hörst Du, Lilli, ich will nie wieder eine Bemerkung über den da drüben hören, nicht einmal seinen Namen, weder im Scherz, noch im Ernst! … Und noch Eines, Kind! Wenn ich einmal die Augen zugethan habe, dann hast Du hier zu befehlen, und es ist Alles Dein, was den Erich’s gehört hat seit undenklichen Zeiten. Müßte ich mir aber denken, daß nach meinem Tode etwas von meinem Grundbesitz, und sei es auch nur ein Zollbreit Gartenboden, in die Hände Derer da drüben käme, ich stiftete lieber gleich Haus und Garten als Armenspital für ewige Zeiten! … Da hast Du mein unabänderliches Glaubensbekenntniß, und nun will ich Dir schließlich noch sagen, daß ich Dein heutiges Benehmen bitter tadle. Wie kannst Du Dich mit einem völlig fremden Manne in einen Wortwechsel einlassen, noch dazu mit einem Manne, der … hast Du vergessen, was gestern Dorte von ihm sagte? Solch Einer ist nicht werth, daß ein Frauenzimmer von Reputation mit ihm spricht, denn er denkt gewöhnlich schlecht von den Frauen und beurtheilt alle nach einer Sorte.“

Eine tiefe Gluth stieg in Lilli’s weißes Gesicht bis hinauf an die dunkle, graziös geschwungene Linie der Haarwellen; aber sie warf den Kopf zurück, und um ihre Lippen trat der stolze Zug, der dem kindlich weichen Antlitz oft so unerwartet den Ausdruck geistiger Reife und Ueberlegenheit geben konnte. Alles, was sie mit Herrn von Dorn gesprochen, glitt noch einmal an ihrem prüfenden, inneren Auge vorüber. Die von ihrer englischen Gouvernante unzählige Mal wiederholte Anstandsregel, welche ein Gespräch mit einem nicht vorgestellten Herrn verbietet, war ihr freilich ein wenig spät eingefallen; gleichwohl, hatte sie ihn mit ihren Antworten nicht ebenso energisch hinter die Schranken völligen Fremdseins zurückgewiesen, als wenn sie ihm schweigend den Rücken gekehrt hätte? … Der ihr noch vor wenig Augenblicken so peinliche Gedanke, daß sie doch wohl zu rauh und unliebenswürdig gewesen sei, war jetzt ein wahrer Trost für sie. Die vornehme Erscheinung des Blaubartes, die ihr wider Willen imponirt hatte, stand ja nicht mehr vor ihr und deshalb gewann die Warnung und Bemerkung der erfahrenen Tante um so rascher die Oberhand. Sie beschloß unwiderruflich, dem Pavillon nicht nahe kommen zu wollen, so lange keine feste Scheidewand zwischen hier und drüben wieder aufgerichtet sei … sie wollte dem Blaubart beweisen, daß sie in der That jede Begegnung mit ihm vermeide; dann werde er schon merken, daß sie nicht zu der sogenannten „Sorte“ gezählt werden dürfe.

Ueber diese Angelegenheit fiel nun zwischen der Hofräthin und dem jungen Mädchen kein Wort mehr. Die Bilder und Möbel waren geräuschlos in die grüne Stube geschafft worden, und in ihrem kleinen Zimmer hatte Lilli den Puppen eine Ecke eingeräumt. Am Abend kam eine alte Freundin der Tante und blieb zum Thee, der in der sogenannten Frühstückslaube getrunken wurde, und als die Nacht hereindämmerte, da saßen die beiden alten Damen noch und sprachen von längstvergangenen Zeiten, von Träumen und Enttäuschungen, von Hoffen und Entsagen. Lilli saß auf einem niedrigen Gartenstuhl, hatte die Hände um die Kniee gelegt und hörte aufmerksam und bewegt zu, wie da ein erblaßtes Bild um das andere aufstieg, während sie hinaussah in die schweigende Abenddämmerung.

Ihr umherschweifender Blick wurde plötzlich gefesselt durch einen hellen Gegenstand, der sich gleichsam von einem mattschimmernden Nachtviolenbusch ablöste und langsam weiter schritt. Sie erkannte sehr bald die Beschaffenheit des kleinen Nachtwandlers: ein weißes Huhn war dem Hofraum entkommen und spazierte, in völliger Gemüthsruhe hier und da die lockere Erde aufkratzend, über die Gurkenbeete. Zum Glück für Dorte – denn sie hatte die Aufsicht über das Geflügel – bemerkte die Hofräthin die scharrende Missethäterin nicht. Lilli erhob sich leise und unbemerkt, um womöglich das dräuende Ungewitter vom Haupt der pflichtvergessenen, alten Köchin noch rechtzeitig wegzulenken, allein das Thier rannte wie besessen bei ihrer Annäherung über die Beete, huschte durch Gebüsch und Hecken und tauchte binnen Kurzem wie ein höhnender Kobold in der entferntesten Ecke des Gartens wieder auf. Alle Bemühungen, die Henne nach der Richtung des Hauses zu scheuchen, waren vergeblich; plötzlich erhob sie sich, flog schwerfällig eine Strecke weit und setzte sich auf das Dach des Pavillons. Da half kein Rufen und Locken; sie kauerte sich nieder und drehte gravitätisch, in vollkommener Sicherheit, den Kopf hin und her. Ihr weißes Gefieder leuchtete doppelt über der dunklen Thüröffnung. Der innere Raum des Gartenhauses war unheimlich finster, nur durch das Loch in der Wand kam das schwache Dämmerlicht von draußen herein.

Da stand das junge Mädchen nun doch wieder wie festgewurzelt in der Thür. Fahl und gespensterhaft, ein verwischtes Bild, von den gezackten Umrissen der zerstörten Wand umrahmt, lag das weiße Haus drüben; sein Thurm starrte wie ein drohender Riesenfinger in die Lüfte. Die Fontainen plätscherten zwar ununterbrochen fort; aber sie standen dort als unbewegliche, mattglänzende Säulen, ihren zarten Schleier, die Millionen herniederfallender Wasserperlen, sog die Dämmerung auf… Im Hause schien alles Leben ausgestorben, nirgends ein erleuchtetes Fenster, eine offene Thür; vielleicht war der Gebieter in Begleitung seiner Hausgenossen nach dem Gut Liebenberg gefahren und hatte dort sein ängstlich behütetes Kleinod geborgen, um dasselbe vor neuem Schrecken zu bewahren; aber in diesem Augenblick öffnete sich die Thür nach der Terrasse, aus der gestern Abend der Neger gekommen war; ein breiter Lichtstrom quoll aus der hellerleuchteten Halle und legte sich über das Orangengebüsch, die Steintreppe und einen Theil des Rasenplatzes.

Lilli sah plötzlich mit klopfendem Herzen die Fremde auf die Schwelle treten.

[465] Die edle Gestalt der Fremden zeichnete sich wie eine Silhouette von dem lichten Hintergrund ab. Lilli erkannte an den scharf ausgeprägten Linien, daß eine prachtvolle Haarkrone den Hinterkopf schmücken müsse; feine, bunte Strahlen zuckten und blitzten über das Haupt hin, der schwarze Schleier, der auch heute die Erscheinung umfloß, war jedenfalls mit Brillantnadeln am Haar befestigt. Jetzt sah Lilli auch, daß die Dame noch sehr jung sei, ihre Bewegungen waren von mädchenhafter Weiche und Zartheit; aber heute noch auffallender als gestern machte sich eine gewisse Müdigkeit bemerkbar, als sie langsam die Treppe hinabschritt. Vergebens spähte das junge Mädchen auch jetzt nach den Gesichtszügen; das dunkle Gewebe fiel in dichten Falten über Profil und Büste.

Unwillkürlich wich Lilli in diesem Moment zurück, wie ein elektrischer Schlag durchbebte das Gefühl des Schreckens ihr Inneres und jagte ihr das Blut in die klopfenden Schläfe. … Wie thöricht! Was hatte sie zu fürchten von dem Mann, der dort in die Thür trat? Kam er doch jetzt nicht als Rächer und Zerstörer! Seine ganze Aufmerksamkeit schien auf die junge Dame gerichtet zu sein. Mit jenen sicheren, entschiedenen Bewegungen, die ihr heute Morgen an ihm aufgefallen waren, schritt er über die Terrasse und traf mit der Fremden am Fuß der Treppe zusammen. Er sprach mit ihr. Das waren jene vollen sympathischen Klänge, mit denen er Lilli’s Ohr so bestochen hatte, daß sie sogar der Tante gegenüber für seinen Charakter in die Schranken getreten war. Was er sagte, verstand sie nicht; sie hörte ihn nur den Namen Beatrice mit unendlicher Weichheit aussprechen. Er bot der Dame die Hand, allein sie zog die ihre hastig zurück und sprach, den Kopf schüttelnd, einige Worte in leisen, flötenartigen Tönen, sie schienen in Thränen erstickt… Wie genau kannte Lilli bereits die Modulation seiner Stimme! Ohne zu verstehen, was er antwortete, ohne daß er irgend eine äußere Bewegung gemacht hätte, erkannte sie doch sofort, daß er unwillig wurde. Er trat näher an die Dame heran und hob den Arm; wollte er sie umschlingen? Abermals fuhr jenes elektrische Zucken durch Lilli’s Seele, aber diesmal war es wie ein jäher Stich, der sie schmerzte. Ihre Wangen brannten, sie schämte sich plötzlich hier zu lauschen und wollte sich zurückziehen; aber das, was sie in diesem Augenblick sah, fesselte ihren Fuß an die Schwelle. Bei der Annäherung des Blaubartes wich die Fremde zurück und floh mit wankenden Schritten, als schaudere sie vor seiner Berührung… Sie verabscheute ihn, das lag klar vor Augen – war er ein Verbrecher, und sie wußte um seine Schuld? Oder stieß seine Persönlichkeit sie zurück, und er heischte dennoch Gegenliebe von ihr? Warum sie dieser letzteren Vermuthung weniger Raum gab, darüber wurde Lilli sich selbst nicht klar; es blieb ihr auch nicht länger Zeit, zu beobachten und nachzudenken; denn in Tante Bärbchens Garten erhob sich ein lauter Lärm. Wie das junge Mädchen sah, hatte die Henne unvorsichtiger Weise ihren hohen Standpunkt verlassen und war ohne Zweifel in Tante Bärbchens Gesichtskreis gerathen; denn die beiden alten Damen, Sauer und die händeringende Dorte hatten sich zu einem wahren Treibjagen vereinigt, und eben, als Lilli zu ihnen gelangte, stürzte sich das geängstete Huhn in die Hofthür, die eilig hinter ihm geschlossen wurde. Dorte entging ihrem Schicksal nicht; sie erhielt am Schluß des unglückseligen Tages, der mit dem Streit um des Teufels Existenz begonnen hatte, einen tüchtigen Verweis; aber trotz dieser Sühne war nun doch der trauliche Gedankenaustausch zwischen den beiden alten Freundinnen gründlich gestört, dergleichen Unregelmäßigkeiten in ihrem exemplarischen Hauswesen brachten Tante Bärbchen leicht um ihr inneres Gleichgewicht. Man kehrte nicht mehr in die Laube zurück, und der Besuch entfernte sich.

Eine halbe Stunde später lag das alte Haus der Hofräthin im tiefsten Schweigen; aber wenn auch die fest verrammelten Thüren und Fensterladen wacker jeden fremden Eindringling abwehrten, so konnten sie doch nicht verhindern, daß sich die Celloklänge aus dem Thurmzimmer durch ihre Ritzen stahlen und als hinreißende Melodieen durch Lilli’s Stübchen rauschten. Das waren andere Klänge, als die gestern Abend gehörten! Bald erhoben sie sich im wilden Jubel und rissen die Seele des Hörers mit in ihren berauschenden Strudel, dann irrte es wieder klagend durch die Saiten, in jedem Ton aber bebte und glühte die Leidenschaft. … Lilli hatte die Fensterflügel geöffnet und preßte ihre heiße Stirn an den Laden. Sie fühlte fort und fort das große, feurige Auge des Blaubartes auf sich ruhen, und inmitten all der geheimnißvoll flüsternden oder entfesselt dahin brausenden Töne hörte sie seine Stimme in jenem seltsamen Gemisch von Scherz und Bitterkeit, wie sie vom verlorenen Frieden sprach.

Es war gut für Lilli’s eigenthümlich aufgeregten Seelenzustand, über den sie selbst keine Klarheit erlangte, daß nun Tage der Zerstreuung folgten. Visiten in Tante Bärbchens sehr ausgedehntem Bekanntenkreise und Gegenbesuche füllten beinahe den ganzen Tag aus; auch wurden Ausflüge in die Umgegend gemacht. Die öftere Abwesenheit vom Hause, der Verkehr mit Altersgenossinnen und das Wiederbetreten alter, entfernter Lieblingsplätze, all dies schwächte allmählich die Eindrücke der ersten Tage ab und gab ihr [466] wenigstens zum Theil die frühere Unbefangenheit zurück. Das konnte um so leichter geschehen, als sie nicht viel an die Nachbarschaft erinnert wurde. Die Hofräthin hielt unverrückbar fest an ihrem Ausspruch, daß mit ihrem Willen kein Ziegel an dem Pavillon fortgerückt werden solle, betrat nie jenen Theil des Gartens und erwähnte den Vorfall mit keiner Silbe. Sie hatte die Absicht, den Feind sein Zerstörungswerk vollenden zu lassen, so weit das Recht ihm zustand, und dann den Rest des Häuschens durch eine Rückwand zu stützen und zu erhalten, somit meinte sie, nach Kräften der Pietät zu genügen. Aber der alte Sauer, der hier und da nachsah, erzählte Lilli heimlicherweise, daß das Loch in der Wand sich nicht vergrößere; er könne sich gar nicht denken, was daraus werden solle, und dabei käme es ihm vor, als steige öfter Jemand durch die Wandöffnung, denn der Schutt auf dem Fußboden sähe ganz zertreten aus, und draußen auf dem Kiesweg fände er immer frische Kalkspuren, die nur an den Füßen dahin getragen sein könnten. Der Thurm schaute freilich nach wie vor herüber in den Garten, aber hinter den vier Fenstern, die ihn früher völlig durchsichtig gemacht hatten, hingen plötzlich dichte, schwerseidene Vorhänge. Manchmal, wenn die Fensterflügel offen standen, konnte Lilli von der Frühstückslaube aus sehen, wie sich diese Damastfalten leise bewegten; ja es sah aus, als erschiene ein schmaler, dunkler Spalt in Mitte derselben, und das junge Mädchen dachte dann an die verhangenen Fenster im Orient, hinter denen die Augen der Odalisken sprühen, und sah im Geiste jene zwei zarten Hände, „die wie von Marzipan, und an denen es blitzte wie Karfunkel“, die knisternde Seide lauschend und vorsichtig theilen; sie vermuthete, daß die Fremde jetzt den Thurm bewohne. Das Cello hatte sie nicht wieder gehört. Sonderbar, schien es doch fast, als ob sich die Töne vor lautem Geräusch und lebhafterem Menschenverkehr versteckten! Seit Lilli’s Besuchen in der Stadt brachte beinahe jeder Abend eine Schaar junger Freundinnen, die den Thee bei Tante Bärbchen tranken; dann brannte bei einbrechendem Dunkel die Lampe in der Frühstückslaube, und man blieb, ganz gegen die Hausordnung der Hofräthin, meist bis um elf Uhr zusammen. In diesen Kreisen wurde der Name des Nachbars nie genannt, man respectirte streng Tante Bärbchens Wünsche; nur hier und da fragte wohl eines der jungen Mädchen flüsternd, ob Lilli den verrufenen Einsiedler nebenan noch nicht gesehen, eine Frage, deren Beantwortung sie geschickt zu umgehen wußte. Freilich wurde damit auch stets seine Erscheinung vor ihr inneres Auge heraufbeschworen, und obwohl sich ihr Gründe genug aufdrängten, in ihm einen Schuldbelasteten zu sehen, zuckte doch jedes Mal ein geheimes Weh durch ihr Inneres, und sie hatte mit einer Art von schmerzlicher Entrüstung zu kämpfen, wenn ein fremder Mund seinen Namen mit Verachtung nannte. Aber sie grübelte mit Recht nicht über diese ihr neuen, seltsamen Empfindungen, und wer sie sah, wie sie mit dem ganzen Behagen des Kindes ihre kleinen Füße in den hohen Graswuchs der Wiesenplätze versenkte, oder im Wettlauf den Berg hinaufflog, der ahnte nicht, daß im Grunde ihrer Seele ein verschwiegenes Etwas liege, aber so tief, tief drunten, daß nicht einmal die Augen einen Strahl davon wiederspiegelten.

Ein beträchtliches Stück des Buchenwaldes, der hinter dem Hause begann und welcher die von da an ziemlich steil in die Lüfte steigende Bergwand bedeckte, gehörte zu Tante Bärbchens Besitzung. Sauer hatte unter unsäglichen, jahrelangen Mühen einen Schlangenpfad durch das wildverwachsene Unterholz gebahnt, und dieser Weg war mit der Zeit sein Steckenpferd geworden. Wie die Hofräthin behauptete, hatte er die Massen großer, hübsch abgerundeter Bachkiesel, die den Weg befestigten, allmählich in den Rocktaschen hinaufgetragen. Der Pfad mündete hoch droben unter einer schönen Buche, an deren Stamm eine sehr dürftige, aus Aesten zusammengenagelte Bank stand. Dies Gesammtwerk seiner Hände und Ausdauer nannte Sauer stets mit unbeschreiblichem Pathos „die Anlagen“. Sein schmunzelndes Gesicht ließ sich nur schwer wieder in die ursprünglichen, würdevollen Falten bringen, wenn er sah, daß die jungen Damen vor dem Theetrinken erst noch einmal auf seinem Weg den Berg hinaufeilten, um frische Bergluft zu athmen und Jubelrufe hinauszuschicken in die weite Welt.

An einem Sonntagmorgen trat Lilli aus der Thür, die nach dem Walde führte. Sie war bis dahin nie allein droben aus dem Berg gewesen und hatte dies jedes Mal unangenehm empfunden; denn das oft sehr gedankenlose Plaudern und laute Lachen ihrer jugendlichen Begleiterinnen störte häßlich die feierliche Stille, den geheimnißvollen Reiz des Waldes. Heute wollte sie droben sein, wenn die Kirchenglocken der Stadt anhoben; sie hatte sich deshalb von dem sonst unerläßlichen Gang zur Kirche bei Tante Bärbchen frei gemacht. Während sie die Thür hinter sich schloß, fiel ihr Blick unwillkürlich auf das Thurmfenster des Nachbarhauses, die Vorhänge waren in heftiger Bewegung. Offenbar war Jemand bei ihrem Aufblicken rasch vom offenen Fenster zurückgetreten; höchstwahrscheinlich die arme Gefangene, deren Augen vielleicht neidisch dem jungen Mädchen folgten, wie es flinken, ungehemmten Fußes den Berg hinauflief.

Lilli saß bald droben auf der Bank. Die prächtige Rothbuche stand wie ein vorgeschobener Posten ziemlich isolirt außerhalb des Waldes. Kurzer, trockener Graswuchs bedeckte den hier sehr steil abfallenden Berg; aber diese kurze Strecke zu Lilli’s Füßen sah aus wie eine niedrige, von einem verblichenen Teppich bedeckte Stufe, so täuschend schloß sich das blühende Gelände drunten im Thal an seine äußerste Linie. Das Sonnenlicht, ob es auch glühende Tinten über den unbedeckten Himmel, die gewaltigen Bergrücken und das Ackerland voll wogender Halme hinwarf, hatte noch wenig Macht über die thaufunkelnde Frische des Morgens. Drunten auf den Dächern der Stadt lagen noch Schatten und sonntägiges Schweigen; aber auf dem Heerd brodelte wohl der braune, erquickende Morgentrank; in einzelnen, leichten Wolken floh der Rauch aus den Schornsteinen, er zerstob sofort wie geblendet und erschrocken in der sonnenklaren Luft, oder flüchtete sich, von einem feinen Lufthauch getrieben in dünnen, durchsichtigen Streifen nach dem alten, finsteren Kirchthurm; allein auch da blitzte es eben hell auf über dem dunklen Schieferdach, ein Sonnenstrahl hatte den Thurmknopf erreicht und schlüpfte zugleich in die Luken der Glockenstube, und, als solle sich das tausendjährige ägyptische Wunder der Tonerweckung hier erneuen, schwebte in diesem Augenblick der erste Glockenklang hinaus in die Lüfte. Tauben und Dohlen verließen, entsetzt aufkreischend, das Thurmdach; noch einen Moment kreisten sie ängstlich über der Stadt und rauschten dann nahe an Lilli’s Füßen vorüber weit, weit hinaus, wo sie als sonnenbeschienene Pünktchen auf das Feld niedersanken. Lilli hatte ihren Flug verfolgt, aber dann kehrte ihr Blick geblendet zurück und haftete auf ihrer nächsten Umgebung. Neben der Bank lag ein großer Felsblock, vor Zeiten mochte ihn das Schneewasser vom Berggipfel herabgerissen haben; er hatte es in seiner isolirten, Wind und Wetter preisgegebenen Stellung für geeignet gehalten, sich in eine dicke, warme Moosdecke zu hüllen. Lange Brombeerranken kletterten über seinen Rücken, und an seiner Basis, da, wo die Sonne sich nicht breit machen durfte, zog sich ein Streifen frischgrüner Halme hin, zwischen denen sogar einige versprengte, zarte Waldblumen nickten. Die Moosdecke wimmelte von Käfern und anderem kleinen Gethier, das blutwenig von der Sabbathfeier zu wissen schien und sich rührig unter dem Urwaldsdunkel der Brombeerblätter tummelte. Lilli bog sich nieder und beobachtete sinnend und ergötzt diese kleine Welt voll wichtiger Geschäfte und Sorgen. Sie überhörte dabei, daß es plötzlich hinter ihr rauschte und knisterte, als ob ein starker Arm das Gestrüpp theile, zudem dämpfte der weiche Waldboden die sich nähernden raschen Schritte.

„Forschen Sie nicht nach Runenzügen; die alten Germanen haben einen Zauber hineingelegt, er könnte verderblich auf Sie zurückwirken!“ sagte plötzlich die Stimme des Blaubartes scherzend hinter ihr.

Hätte sich in diesem Augenblick die Erde vor ihr aufgethan, um unterirdische Gestalten emporsteigen zu lassen, sie hätte in keine größere Aufregung versetzt werden können, als durch die unerwartete Nähe dieses Mannes; aber trotz des heftigen Schreckens, der sie durchzuckte, blieb sie doch im ersten Moment unbeweglich.

„Ich gebe gern zu,“ fuhr er fort – die schwache Lehne der Bank erzitterte leicht unter seiner Hand – „daß auch die Steine reden können; muß man aber deshalb einer bittenden menschlichen Stimme sein Ohr verschließen?“

Welches Ausdrucks war doch gerade diese bittende menschliche Stimme fähig! Lilli hatte den Kopf noch nicht nach ihm umgewendet, und doch zweifelte sie nicht, daß, während seine Lippen zu scherzen versuchten, ein Blick voll Groll und Weichheit zugleich auf ihr ruhe. Aber jetzt galt es, diesen unerklärlichen Zauber für alle Zeiten abzuwehren. Die Warnung der Tante und ihre eigenen [467] kühnen Vorsätze standen mit einem Mal wie in riesengroßen Lettern vor ihr; sie erhob sich und wollte, ohne zu antworten, mit einer Verbeugung an ihm vorüberschreiten; ohne es zu wollen, sah sie dabei flüchtig zu ihm auf. Er stand, die Hand noch auf die Banklehne stützend, ernst und hoch aufgerichtet da; er machte nicht die geringste Bewegung, das junge Mädchen zurückzuhalten; allein in seiner ganzen Haltung lag plötzlich eine solche Hoheit, so viel Männerstolz, daß sie unwillkürlich ihre Schritte hemmte und den Blick senkte vor seinen sprühenden Augen, die weit eher strafend, als entrüstet auf sie niedersahen, während er mit beherrschter Stimme sagte:

„Ich habe nicht an unsere allgemeinen Umgangsformen appellirt, die, echt deutsch, pflichtschuldigst fremde Grimassen nachäffen, ich sage, nicht an sie habe ich appellirt, wohl aber an die Höflichkeit des Herzens, als ich abermals wagte, Sie anzureden. … Ich würde mich bescheiden und einen neuen Irrthum in meinem Leben beklagen, wüßte ich nicht zu viel von Ihnen… Aber ich weiß, daß Sie dem Alten, der allwöchentlich sein Almosen bei der Hofräthin Falk holt, mit liebenswürdigem Lächeln seine kindischen Fragen beantworten und in unerschöpflicher Geduld sein Klagen anhören und ihn zu trösten suchen; ich weiß, daß Sie die seltene Gabe haben, in verbindlicher und schmeichelhafter Weise zuzuhören, wenn die alten Freunde Ihrer Tante sprechen, und stets schlagfertig und mit Geist zu antworten wissen, sobald Sie in das Gespräch gezogen werden; ich weiß ferner, daß Sie Ihre Umgebung voll sprudelnden Muthwillens necken, und daß Sie lachen, so lieblich und herzerquickend lachen können, wie ein Kind, das noch keinen Raum hat für Haß und dergleichen unselige Dinge. Ich weiß … doch wozu noch fernere Beweise! Es genügt, zu wissen, daß Sie dies Alles vor mir zu verleugnen suchen. … Noch halte ich den glücklichen Wahn fest, ja, ich bin selbst bewußt genug, zu denken, daß diese Unfreundlichkeit nur in dem leidigen Dorn’schen Familienzwist wurzelt. … Ich sah Sie auf den Berg gehen und bin Ihnen gefolgt, um Sie daran zu erinnern, daß ich noch eine Frage gut habe; lassen Sie mich dieselbe in eine Bitte umwandeln: Uebernehmen Sie die Vermittlung zwischen der Hofräthin Falk und mir und bewirken Sie eine mir sehr wünschenswerthe Aussöhnung.“

Er hatte in sehr ernstem, nachdrücklichem Ton gesprochen, und es kam ihr vor, als sei sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben mit allem Recht und in sehr beschämender Weise gescholten worden… Aber wer war es, der sich unterstand, sie zur Rechenschaft zu ziehen für ihr Benehmen? Seine Beweisführung erschreckte und verdroß sie zugleich; wie kam er dazu, alles das zu wissen? Hatte er sich unterfangen, Erkundigungen über sie einzuziehen? … Und nun fußte er gar auch noch auf diesem unehrenhaften Spionirsystem und appellirte im Hinblick auf seine Aushorchereien an ihre menschenfreundlichen Gesinnungen! … Wieder trat Tante Bärbchens Warnung vor ihre Seele und die Gestalt der geheimnißvollen Unbekannten schwebte mahnend an ihr vorüber… Sie warf den Kopf zurück mit jener allerliebsten Bewegung, die Trotz und Opposition in jeder Linie ausdrückte; dabei vermied sie jedoch wohlweislich, in das Gesicht des „unberufenen Moralpredigers“ zu sehen, und somit entging ihr das entzückte Lächeln, das einen Moment seine Lippen umspielte. Um ihm zu beweisen, daß sie seinem „großmüthigen“ Auftrag sehr wenig Gewicht beilege, schlug sie geflissentlich einen leichten Ton an, und es erfüllte sie mit großer Genugthuung, daß ihr sogar, diesen durchdringenden Augen gegenüber, eine Beimischung von Ironie vortrefflich gelang, indem sie entgegnete:

„Zu dieser Mission gehört ein muthiges Herz. Bei Ihren eben entwickelten merkwürdigen Kenntnissen aber sollten Sie vor Allem wissen, daß ich ganz und gar nicht tapfer bin, und z. B. ein entsetzliches Grauen vor allen Fehlbitten habe… Es ist sehr unhöflich von mir, Ihre Appellation an die Höflichkeit meines Herzens zurückzuweisen, ich sehe das ein; aber ich weiß auch, daß ich vor Tante Bärbchen nicht einmal Ihren Namen, geschweige denn die Bitte um Vergeben und Vergessen aussprechen darf.“

„Wer spricht auch von Vergeben und Bitten! … Wie das herb und verletzend klingt!“ unterbrach er sie rauh und auflodernd. Mit derselben Anstrengung jedoch, wie neulich beim ersten Begegnen, suchte er seiner Aufregung Herr zu werden; nach einem einmaligen raschen Auf- und Abschreiten blieb er mit verschränkten Armen vor dem jungen Mädchen stehen.

„Man ruft Sie Lilli,“ sagte er gepreßt, „selbst die harte, schwerfällige Stimme der Hofräthin Falk klingt mir sympathischer, wenn sie diese zwei weichen, süßen Klänge ausspricht… Wer das Wesen sieht, dem dieser Ruf gilt, der möchte an ein Blumendasein denken, das geschaffen ist zur Freude und erquickenden Augenweide der Menschen… Sie lieben offenbar dergleichen poetische Illusionen nicht, denn Sie bieten geflissentlich Alles auf, mir dieselben zu rauben … oder sollten Sie wissen, daß gerade in dieser Opposition, in dem Contrast zwischen einem kindlich zarten Aeußeren und einer stets verneinenden, trotzigen Seele Gefahren für Andere liegen, und – doch nein, nein,“ unterbrach er sich selbst in einem eigenthümlich reuevollen Ton, als habe er ihr einen schweren Verdacht abzubitten. Lilli hatte jedoch seine letzten Worte gar nicht verstanden; so scharf und durchdringend auch ihr Denken war, hier, wo die Erfahrung hauptsächlich das Verständniß herbeiführen mußte, genügte es nicht; ihre Gesinnungen waren zu rein und unschuldig, und deshalb ahnte sie nicht einmal, daß er sich in seiner Gereiztheit hatte hinreißen lassen, sie der Koketterie zu beschuldigen. Er hatte sich abgewendet und schwieg einen Moment.

„Also förmlich verfehmt und verpönt ist mein unglücklicher Name da drunten?“ frug er endlich mit bitterer Ironie, während seine Hand nach dem Haus der Hofräthin deutete. „Die alte Frau sollte doch bedenken, daß wir von einem Stamme sind, daß sie einst den Namen getragen hat, den ich führe.“

„Sie vergessen, daß auch dieses Band nicht mehr existirt – Sie sind von Adel.“

Bei diesem Einwurf des jungen Mädchens, der ziemlich herb klang, wandte er überrascht den Kopf und sah sie durchdringend an, aber gleich darauf erschien jenes sarkastische, überlegene Lächeln in seinem Gesicht, das stets ein Gemisch von Verdruß und Beschämung in ihr hervorrief.

„Die Hofräthin Falk hat mir allerdings noch sehr wenig Veranlassung gegeben, eine ganz besonders hohe Meinung von ihr zu gewinnen,“ entgegnete er, „allein zu ihrer Ehre will ich trotzdem gern glauben, daß sie die Ansprüche an den Adel der eigenen Gesinnungen nicht niedriger stellt, als ich, einen anderen Adel besitze auch ich nicht. Es giebt zwar Leute, die sich beharrlich einbilden, mich zu schimpfen, wenn sie nicht das harmlose Wörtchen ‚von‘ zwischen meinen Tauf- und Familiennamen schieben, aber mir selbst ist es nie eingefallen, Gebrauch von demselben zu machen und somit eine augenblickliche Schwäche meines Vaters immer wieder an die große Glocke zu schlagen.“

Er hielt inne und sah noch immer lächelnd auf Lilli herab, die, gründlich geschlagen durch diese Erklärung, ihre Augen betroffen am Boden haften ließ.

„Dies Band wäre also nicht zerrissen,“ fuhr er fort, „und ich halte es um so fester in meiner Hand, als es mich möglicherweise zu einem Ziel hinleitet, das ich um jeden Preis zu erreichen wünsche… Wir harmoniren zwar – so sehr Sie auch der Gedanke an die Möglichkeit einer Harmonie zwischen uns kränken mag – wunderbar im Betreff der Fehlbitten, allein, was den Muth betrifft –“

„So sind Sie jedenfalls tapfer genug, die Erfüllung Ihrer Wünsche zu erzwingen, Sie waren ja Soldat.“

„Ei, Sie wissen ja mehr von mir, als ich zu hoffen wagte. Uebrigens,“ fuhr er düster fort, „woran erinnern Sie mich, und noch dazu in diesem Ton des Hohns! Es giebt nichts Niederschlagenderes für den menschlichen Geist, als wenn er für eine schöne, hohe Idee gekämpft hat und schließlich den mit Blut erkauften Sieg in einem Netz selbstsüchtiger Berechnungen verkümmern und versanden sehen muß… Indeß, bleiben wir bei der Sache! Sie haben ganz recht, wenn Sie mich für beharrlich und im Nothfall energisch eingreifend halten, sobald es die Erreichung eines Zieles gilt, allein hier wäre jeglicher Zwang ein Todtschlag des Preises, denn er ist sehr idealer Natur. Wenn ich es also unternehme, das Haus der Hofräthin Falk ohne ihre Erlaubniß zu betreten, und trotz der zurückweisenden Haltung meiner Widersacherin persönlich einen Ausgleichungsversuch wagen will, so muß ich doch vor allen Dingen wissen, wie Sie über diesen Schritt denken würden.“

Lilli fühlte ihr Herz zittern schon bei dem bloßen Gedanken an die Möglichkeit dieses Schrittes. Sie kannte Tante Bärbchen genug, um zu wissen, daß sie nie die Hand zur Versöhnung bieten würde. Möglicherweise verzieh sie ihrem sogenannten Todfeind [468] die Demolirung des Pavillons, niemals aber, daß er ein Abkömmling der Hubert’s war. So ängstlich bemüht auch sonst die alte Dame war, Jedermann gerecht zu werden, hier hatte sie einen Punkt im Herzen, mit dem sie für alle Zeiten fertig zu sein glaubte, der völlig versteint war in seiner Isolirung und Unantastbarkeit; jede Nachgiebigkeit gegen die Hubert’sche Linie würde sie als eine tödtliche Beleidigung ihrer dahingeschiedenen Lieben angesehen haben. Welchen Auftritt mußte mithin das Erscheinen des verhaßten Nachbars in ihrem Hause zur Folge haben! Ein Gemisch von unsäglichem Bedauern und heftiger Angst überkam das junge Mädchen, indem sie sich die schroffe und rauhe Art und Weise vergegenwärtigte, mittels welcher die Hofräthin ohne allen Zweifel den Eindringling zurückweisen würde. Sie fühlte aber auch instinctmäßig, daß sie ihm dies seltsame Gefühl unaussprechlicher Theilnahme nicht zeigen dürfe, wenn sie ihn nicht geradezu bestärken wolle in seinem Vorhaben, und deshalb entgegnete sie so ruhig und beherrscht wie möglich:

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, wie die Hofräthin Falk über Sie denkt; Sie können danach leicht bemessen, welche Aufnahme Sie finden würden. Jener Schritt wäre unter den obwaltenden Verhältnissen, gelind bezeichnet, eine Taktlosigkeit, die ich um so weniger entschuldigen würde, als sie für meine Tante nothwendig eine heftige Gemüthsbewegung herbeiführen müßte.“

„Diese Zärtlichkeit und ängstliche Fürsorge Ihres Herzens könnte in der That etwas Ergreifendes für mich haben, wenn sie nur nicht gar so – einseitig wäre,“ sagte er mit beißender Schärfe, „aber, um die Seelenruhe der alten Dame vor einer momentanen Schwankung zu behüten, wären Sie im Stande, andere unglückselige Menschenseelen in Verzweiflung und Elend zu stoßen… Wenn ich Ihnen nun sage, daß mich eine unbezähmbare Sehnsucht nach jenem alten Hause zieht, eine unwiderstehliche Macht, die mich schon längst alle Rücksicht vergessend, über seine Schwelle getrieben hätte, wären nicht – ja, wären nicht zwei Augen, die bei dem leisesten Annäherungsversuch so unsäglich kalt blicken können, und kennte ich nicht so verzweifelt genau jenes unheilvolle Zurückwerfen des Kopfes, das da entschieden und unwiderleglich sagt: weiche zurück, ich habe nichts mit dir zu schaffen! … Sie sehen, daß die Kühnheit und Zuversicht des Soldaten, Eigenschaften, die Sie vorhin in so spitzer Weise hervorhoben, trotz der überstandenen Feuerprobe, nicht in allen Fällen zum Durchbruch kommen.“

Er war, während er sprach, wieder mehrere Male rasch auf- und abgeschritten; seine Hände kreuzten sich auf dem Rücken, wobei Lilli bemerkte, daß die Finger in unaufhörlicher, fast krampfhafter Bewegung waren. Welche Scala der Leidenschaft, durchwandelte seine Stimme beim Sprechen! Und das Gemisch von Vorwürfen, Zorn und unaufhaltsam durchbrechenden inneren Leiden suchte er immer noch unter einer Art wilden Humors zu verstecken, eine völlig vergebliche Anstrengung, die Alles, was er sagte, nur um so bitterer erscheinen ließ.

Lilli gerieth allmählich in immer größere Aufregung. Es lag etwas wunderbar Fesselndes in der Erscheinung, die, von mächtiger innerer Bewegung getrieben, da vor ihr hin und wiederschritt; aber noch klangen, wenn auch leiser und ferner, die Mahnungen der Tante durch ihre Seele, und in dem Moment, wo sich ihr einige milde, versöhnliche Worte auf die Lippen drängen wollten, fiel ihr Blick auf einen glitzernden Gegenstand, der drunten durch das Gebüsch schimmerte: es war das Thurmfenster. Der Gedanke an die zwei weinenden Augen hinter den seidenen Gardinen drang wie ein Dolchstich durch ihr aufwallendes Herz und gab ihr sofort die Besonnenheit und Kraft zurück, den Anschein völliger Ruhe und Kälte festzuhalten.

„Sie finden natürlich die Unbeugsamkeit und Härte der alten Frau vollkommen gerechtfertigt?“ fragte er, plötzlich wieder vor dem jungen Mädchen stehen bleibend.

„Ich verdenke es ihr wenigstens nicht, wenn sie sich gegen einen Verkehr sträubt, der ihr nicht wünschenswerth ist.“

„Sie würden mithin ebenso handeln, auch wenn Sie damit ein menschliches Herz auf den Tod verwunden sollten? … Wo bleibt da die christliche Liebe?“

„Nun, ich denke, ein wenig Willensfreiheit müsse uns auch diesem Gebot gegenüber verbleiben.“

„Und kraft dieser Freiheit haben Sie beschlossen, mich meinem Schicksal zu überlassen?“

„Ich kann nichts für Sie thun.“

„Ist das Ihr letztes Wort?“

„Mein letztes!“ rief sie zurück, denn sie war bereits einige Schritte den Berg hinabgeeilt. Drunten aus dem Gebüsch tauchte Sauer’s grauer Kopf auf; der alte Diener machte die Meldung, daß eine junge Dame aus Lilli’s Bekanntenkreise im Hause warte. Sie folgte ihm tiefaufathmend, fand aber nicht den Muth, noch einmal dort hinaufzublicken, von wo die letzte Frage schneidend wie ein Weheruf herabgeklungen war.

[481] Am andern Morgen saß Lilli neben Tante Bärbchen in der Frühstückslaube. Das junge Mädchen hatte den Schooß voll Myrthenzweige, die sich allmählich unter ihren Händen zu einer Brautkrone ineinanderschlangen. Nachmittags sollte die Trauung einer ihrer Freundinnen stattfinden und Lilli hatte als Brautjungfer die Sorge für den bräutlichen Kopfschmuck übernommen. Wie bleich und müde neigte sich ihr Gesicht über den vielverheißenden Kranz, auf dessen zarten Blättern die meisten Mädchenaugen endlose Weissagungen künftigen Glückes zu lesen pflegen!

Der ganze gestrige Tag und die schlaflose Nacht waren Lilli wie ein Traum vergangen, aber es war einer jener Träume, die uns unablässig durch einen Kreislauf marternder Gedanken und Gebilde jagen und die wir frohlockend abschütteln, wenn uns das süße Morgenlicht in die beruhigende Wirklichkeit zurückführt. Hier gab es jedoch kein Erwachen; das Leben und Geräusch des Tages scholl herein in den stillen Garten, und durch das Gezweig der Laube sinkend irrte ein heller Sonnenstrahl über die Stirn des jungen Mädchens… Welch’ ein Chaos widerstreitender Empfindungen hatte das Begegniß mit dem Blaubart in ihr hervorgerufen! Wie sie auch rang und sich und ihre eigene Schwäche und Charakterlosigkeit verspottete, das Gefühl eines unsäglichen Mitleidens ließ sich nicht unterdrücken. Sie fand es vollkommen unwürdig, dem Bild eines Mannes, dessen Haus ein so zweideutiges Geheimniß umschloß, auch nur für einen Augenblick Raum zu geben, und doch fühlte sie fort und fort seinen düster traurigen Blick auf sich ruhen, und ihr Gedächtniß wiederholte mit peinlicher Genauigkeit Alles, was er gesagt hatte; das aber war edel und außergewöhnlich gewesen und konnte aus keiner lasterhaften Seele kommen… Sie schämte sich vor der Tante, und – seltsam – gleichwohl stieg ein nieempfundenes Gefühl von Bitterkeit gegen die mütterliche Freundin in ihr auf; es kamen Momente, in denen sie die alte Dame des blinden Hasses anklagte, der auch sie verleitet habe zu so rauhen, zurückweisenden Antworten. Diese Antworten brannten ihr auf der Seele, ja, sie meinte bisweilen, ein böser Dämon habe sie ihr eingeflüstert. Gedachte sie aber plötzlich jenes Abends, an welchem sie den Blaubart mit der Unbekannten zusammen gesehen hatte, dann überkam sie selbst wieder ein Gefühl von Grausamkeit, dann rief sie sich prüfend und mit unbeschreiblicher Genugthuung jedes herbe Wort zurück, ob es auch ihren Mädchenstolz, ihre Unnahbarkeit gehörig an den Tag gelegt habe. Wer vermöchte alle die Regungen eines jungen Mädchenherzens zu verfolgen, das neben dem urplötzlich aufleuchtenden Strahl einer wunderbaren Seligkeit den unerbittlichen Schatten völliger Hoffnungslosigkeit erblickt?

Die Hofräthin hatte längst die Brille zusammengeklappt und auf das vor ihr ruhende, aufgeschlagene Buch gelegt; ihr Blick haftete eine Weile forschend und befremdet auf dem Gesicht des in trübes Sinnen völlig verlorenen jungen Mädchens.

„Na, Kind,“ unterbrach sie endlich die lautlose Stille in der Laube, „wer’s nicht wüßte, daß Du da einen Brautkranz bindest, der müßte d’rauf schwören, es sei ein Andenken für den Gottesacker! … Wie siehst Du denn aus? Ein schönes Hochzeitsgesicht das!“

Lilli war bei den ersten Worten jäh emporgefahren, und die von der Hofräthin auf Lippen und Wangen vermißte Farbe kehrte für einen Moment hochaufglühend zurück.

„Ich habe freilich auch so meine eigenen trüben Gedanken gerade bei dem Kranz da,“ fuhr Tante Bärbchen fort, als die Angeredete schwieg; „ist er doch erzwungen und ertrotzt worden von den Eltern, die nun einmal die Wahl ihrer Tochter für eine unglückliche halten. Das hat böse, böse Auftritte gegeben in dem Hause! … Ich weiß nicht, zu meiner Zeit war das ganz anders; da hatte man mehr Respect vor der Einsicht der Eltern und, ich meine auch, man liebte sie mit mehr Aufopferung.“

Ihre großen, grellen Augen verschleierten sich und schweiften achtlos über den Garten hinweg weit, weit hinaus in die Ferne, aber nicht in das sonnige Blau, dessen äußerster Saum in einem zart rosigen Duft zerschmolz, in die längst versunkene Jugend irrten sie zurück, und es mußte ein wehmüthiger Moment sein, auf welchem sie ruhten, denn um die Lippen schwebte ein trauriges Lächeln.

„Ich hatte meinen Vater über die Maßen lieb,“ hob sie von Neuem an, „ich hätte ihn nicht betrüben mögen, um Alles in der Welt nicht! … Es giebt mir jetzt noch jedesmal einen Stich [482] durch’s Herz, wenn ich daran denke, daß ich einmal als ganz kleines Kind gefragt habe: ‚Vater, warum haben denn alle Kinder zwei Aermchen und ich nur eines?‘ Und wenn ich hundert Jahre alt werde, ich vergesse es nicht, wie da sein liebes, ernsthaftes Gesicht kreideweiß wurde und sich so schrecklich veränderte, daß ich laut aufschrie und zu weinen anfing. Ich habe nie wieder gefragt, aber von der Zeit an, wenn mich Andere mitleidig ansahen, zitterte ich jedesmal aus Angst, er könnte es bemerken und sich darüber grämen. Später ließ er mir einen künstlichen Arm machen, er sah täuschend aus, kostete schweres Geld und gab mir die strenge Lehre, daß alles Falsche sich rächt… Siehst Du, mein Kind, das sind jetzt weit über dreißig Jahre her, und ich weiß noch auf’s Jota, wie mir damals zu Muthe war. Ich war ein häßlich Ding, hatte ein grob zugehauenes Gesicht, eine plumpe Taille und konnte mich niemals so recht in das finden, was man zierliche Manieren nennt. Ich wußte das Alles so genau, wie es mein ärgster Feind nicht besser hätte wissen können, und das machte mich vollends eckig, und weil ich die Wahrheit liebte, so war ich auch noch grob dazu… Es tanzte Keiner gern mit mir, und wenn es mir auch nicht gerade passirte, daß ich Kohl feil halten mußte auf den Bällen, so geschah das nur, weil mein Vater ein reicher und angesehener Mann war… Drum war mir’s auch gar verwunderlich, daß sich einmal Einer fand, von dem ich merkte, daß er sich gern mit mir unterhielt; er war fremd und kam von Zeit zu Zeit in Geschäften hierher und auch in meines Vaters Haus. Er kam gern und blieb auch immer länger da, als just nöthig war; das hatte ich schnell weg und auch, daß es um meinetwillen geschah, und dafür war ich ihm dankbar über die Maßen… Aber da kam er einmal auch, er war lange fortgewesen; ich begegnete ihm in der Hausflur und es war mir gar eigen zu Muthe, wie er mich so herzlich froh ansah; dabei griff er schnell und unversehens nach meiner Hand – es war die linke, falsche… Es ist immer ängstlich, wenn man Andere zum Tode erschrecken sieht, aber in dem Augenblicke war es doch gerade, als sollte mein Herz still stehen vor Bestürzung, denn er stand vor mir mit einem Gesicht, so weiß, wie der Kalk an der Wand; ich glaube gar, er bekam eine Art von Schwindel oder Ohnmacht vor Schreck und Abscheu. Er stierte mich entsetzlich an und schleuderte das unselige Machwerk von Pappe weit von sich, als sei es eine Natter… Damals sah es schrecklich aus in mir, aber ich hab’ die Zähne zusammengebissen und mein ganzes Wesen wohl behütet, und so ist mein Vater gestorben und hat nie erfahren, was ich für ein großes Herzeleid durchgemacht habe. Den Arm aber habe ich auf der Stelle weggelegt; ich hatte meine Strafe für den Betrug!“

„Und jener Mann, Tante?“ fragte Lilli bewegt.

„Nun, der ist damals gleich in der Hausflur umgekehrt, zur Thür hinausgegangen und eine lange Zeit nicht wiedergekommen. … Er hat später eine meiner Freundinnen geheirathet,“ erwiderte die Hofräthin beinahe barsch; sie wollte offenbar einen leichten Ton anschlagen, und das gelang der unbiegsamen, kräftigen Stimme nicht.

Tante Bärbchens Mittheilung und mehrfache, daheim gehörte Andeutungen ließen dem jungen Mädchen keinen Zweifel, daß jener Mann ihr eigener Vater gewesen sei. Und wie hatte ihm die unglückliche Verkürzte jene schmerzensreiche Erfahrung vergolten? Sie war ihm eine treue Freundin geblieben unter allen Verhältnissen, und als er einst durch mißglückte Speculation – er war Bankier – am Rand eines Abgrundes gestanden, da hatte sie ihm ihr ganzes Vermögen zur Verfügung gestellt und ihn gerettet. Sie war daher auch stets ein Gegenstand großer Verehrung für Lilli’s Eltern gewesen; die Mutter hatte Lilli, als Tante Bärbchens Liebling, noch auf dem Sterbebett ermahnt, die alte Freundin nie wissentlich zu betrüben und ihr nach Kräften das Leben froh und heiter zu machen.

„Ja, ja, es weiß Keiner besser als ich, was der feste Wille über ein rebellisches Herz vermag,“ setzte die Hofräthin nach einer Pause hinzu. „Aber es ist ein ganz ander Geschlecht heut’ zu Tage; mit der körperlichen Gesundheit hapert’s immer mehr, und da sieht’s dann auch in den meisten Fällen um die rechte Kraft der Seele mißlich aus. Das liebe Ich steht obenan, und die stillschweigend gebrachten Opfer im weiblichen Gemüth werden immer seltener.“

Lilli hatte den Kranz vollendet und legte ihn mit einer hastigen Geberde auf den Tisch. Auf ihren Wangen brannte eine tiefe Gluth und um die festgeschlossenen Lippen legte sich ein Zug von trotziger Entschlossenheit. Bei Tante Bärbchens letztem Ausspruch war plötzlich die Frage in ihr aufgetaucht, wie sie wohl selbst aus einem schweren Herzensconflict hervorgehen würde. Ungerufen, aber nichtsdestoweniger beharrlich, standen sofort jene düsterflammenden Augen vor ihr, und seltsam durchschauert von einem Gemisch schamhafter Scheu und einem ihr völlig neuen, unbekannten Glücksgefühl dachte sie zum ersten Mal, wie es werden könnte, wenn der da drüben frei, vollkommen frei, ihr seine Hand böte, und da lagen auch sofort Zerwürfnisse vor ihr, in die sie schaudernd blickte wie in einen bodenlosen Abgrund… Das Wort „Kampf“ war für sie bis dahin eigentlich vollkommen bedeutungslos geblieben. Rein und ungetrübt wie ein klarer, geschützter Wasserspiegel, zu dem die Stürme nicht eindringen konnten, hatte ihre junge Seele der Welt zugelächelt; nur einmal waren dunkle Wolken darüber hingezogen, das war, als ihre Mutter starb; ein Schicksalsschlag, der Schmerzen, aber keinen Kampf mit sich brachte. Vergöttert von ihrem Vater hatte sie stets mühelos das erlangt, was ihr wünschenswerth war, und traf sie ja einmal auf Widerstand, so bedurfte es eines Schmeichelwortes, einer kleinen Schelmerei ihrerseits, um den väterlichen Beschluß umzuwandeln. Sie hatte deshalb auch noch gar keinen Maßstab für die Tragkraft ihrer Seele gegenüber einem fast übermenschlichen Opfer… In der einen Wagschale lag ja auch in diesem Augenblick nur ein Phantom, der süße Traum von Glückseligkeit, in der anderen dagegen die Wirklichkeit, Tante Bärbchens Ansprüche auf ihre Dankbarkeit und Hingebung. Und darum siegte schnell die Ueberzeugung, daß die Tante in einem solchen Kampf niemals die Unterliegende sein dürfe. Sie war ja die Retterin der Familienehre, ihr allein war es zu danken, daß Lilli und die Ihren jetzt in sorgenfreien, ja glänzenden Verhältnissen lebten; sie hatte mit nie ermüdender Geduld und Ausdauer am Lager ihres kranken Lieblings gewacht, wo die mütterliche Pflege erlahmte – das Phantom versank in diesem Moment rettungslos.

„Tante Bärbchen, Du lachst immer über meine zerbrechliche Gestalt,“ sagte Lilli trotzig, „und magst wohl denken, mit der Seelenstärke sähe es auch nicht viel besser aus … glaube das ja nicht; ich würde genau so handeln wie Du!“

„Oho, Kind, Du sprichst da wie der Blinde von der Farbe!“ lachte die Hofräthin. „Närrchen, was weißt denn Du von Herzenskämpfen! Hast ja noch einen Puppenspielwinkel in Deiner Stube! Uebrigens, Gott mag Dich behüten, daß Dir niemals dergleichen Conflicte nahe treten,“ fügte sie weich hinzu und strich liebkosend über das reiche Haar des jungen Mädchens, „es sähe dann doch wohl übel aus um meine kleine Mondscheinprinzessin!“

Das Gespräch wurde durch einen Besuch unterbrochen. Ein junger Kaufmann aus der Stadt, der Sohn einer mit Tante Bärbchen befreundeten Familie, war von einer Reise nach Paris zurückgekehrt und wollte seine Aufwartung machen. Mit der Tournüre eines Weltmannes trat er in die Laube, die sich sofort mit dem Duft eines starken Parfüms füllte. Von der Frisur bis herab zur Chaussure repräsentirte der an sich ganz hübsche junge Mann die allerneueste Modelaune des modernen Babels, und ein Phrasenstrom, stark untermischt mit französischen Brocken, floß wie Honigseim über seine Lippen. Nach Tante Bärbchens schlichter, ergreifender Erzählung machte dies geschraubte, oberflächliche Wesen einen doppelt widerlichen Eindruck auf Lilli. Sie beantwortete seine an sie gerichteten Trivialitäten höchst einsilbig und war sehr froh, als die Hofräthin sie nach einer Weile mit dem Auftrag hinausschickte, ein Bouquet für die Mutter des jungen Herrn abzuschneiden. Allein zu ihrem Verdruß verabschiedete er sich gleich darauf von Tante Bärbchen, schritt neben ihr her und lispelte bei jeder Blume, die sie abschnitt, eine fade Schmeichelei. Zornig riß sie endlich eine halb abgeblühte, häßliche Pechnelke ab, steckte sie in das Bouquet und reichte ihm dasselbe mit abgewendetem Gesicht hin. Ohne Zweifel viel zu eitel, um Lilli’s Geberde zu verstehen, haschte er nach ihrer Hand und zog sie an seine Lippen.

In demselben Augenblick scholl es wie ein zerschmetternder Schlag durch die Lüfte, dem das Klirren niederstürzender, auf Steinpflaster zerschellender Glasscherben folgte. Lilli wandte sich jäh und bestürzt um nach dem Thurm des Nachbarhauses, denn von dort her kam der Lärm. In zahllosen Splittern taumelten eben die letzten glitzernden Reste des nördlichen Thurmfensters herab – verschwunden, in Atome zerstäubt waren die poesievollen [483] Gestalten der unglücklichen Liebenden – statt ihrer umschloß der Fensterrahmen die gebietende Erscheinung des Blaubartes. Wie unberührt von dem Geräusch des zertrümmerten Kunstwerkes stand er einen Moment, die Rechte ausgestreckt, unbeweglich da, dann verschränkte er die Arme und blickte in dieser herausfordernden, beinahe hohnvollen Stellung unverwandt auf das Paar herab; der hinter ihm niederfallende dunkelblaue Vorhang ließ eine auffallende Blässe seines Gesichts doppelt hervortreten.

„Nun, der Nabob da drüben macht sich wohl einen Privatspaß und zerschlägt seine kostbaren Fenster, um sich neue anschaffen zu können!“ sagte spöttisch der junge Mann an Lilli’s Seite; „Wie er unverschämt herunterstarrt! … Ich hätte gute Lust, ihn für seine Frechheit zu züchtigen!“

Diese Drohung wurde jedoch in sehr zahmem Ton geflüstert und war offenbar nicht darauf berechnet, den Weg bis hinauf zum Thurmfenster zu machen. Lilli hörte sie kaum. Mit dem Verständniß eines erwachten Herzens begriff sie blitzschnell, was in dem Innern des Mannes da droben vorgehe; er litt unverkennbar. Sie fühlte den fast unbezwinglichen, leidenschaftlichen Wunsch, ihn beruhigen zu dürfen, aber beinahe ebenso schnell gewann sie die Herrschaft über ihre heftige Gefühlsaufwallung. Bei alledem blieb ihr der Gedanke unerträglich, daß der Anschein einer näheren Beziehung zu dem jungen Gecken auf ihr laste; deshalb erwiderte sie dessen zierliche Verbeugung mit einem kaum merklichen, stolzen Kopfnicken, und ohne noch einen einzigen Blick nach dem Thurmfenster zurückzuwerfen, schritt sie langsam nach der Laube.

Die Hofräthin war im Begriff in das Haus zu gehen. Sie hatte sicher den Lärm hören und auch seine Veranlassung sehen müssen; aber sie berührte den Vorfall mit keinem Wort und ermahnte Lilli, den Brautkranz fortzutragen, auf jeden Fall aber bei Uebergabe desselben die Leichenbittermiene wegzulassen, die sie nun schon den ganzen Morgen habe ansehen müssen. … Tante Bärbchen mußte tief, tief in dem Wahn stecken, daß der Puppenspielwinkel in Lilli’s Stübchen ein unfehlbares Präservativ gegen Herzenanfechtungen sei; wie hätte sie sonst die unverkennbare, tiefe Gemüthsbewegung in den Zügen des jungen Mädchens, die noch dazu fortwährend ein jäher Farbenwechsel überfluthete, für Niedergeschlagenheit oder gar üble Laune halten können! … Sie war eine geschworene Feindin der Kopfhängerei bei der Jugend und ereiferte sich deshalb Nachmittags auf’s Neue, als Lilli, hochzeitlich geschmückt, in das Wohnzimmer trat, und, wenn auch gezwungen lächelnd, doch noch immer so zerstreut und wie in sich verloren dreinschaute. Mit einer Art von komischem Zorn zeigte sie auf das Bild der Großmutter.

„Es sind häßliche Dinger, die schwarzen Pflästerchen da auf dem Gesicht,“ sagte sie „und ich hab’ nie begreifen können, wie ein Mensch sein ehrliches Gesicht so verderben mag; aber heute möchte ich sie am allerliebsten sammt und sonders auf Deine Stirn kleben, weil mich die Falte da grimmig ärgert… Dein Anzug sieht übrigens gut aus, aber es fehlt etwas, und zwar just das, was ich immer so gut hab’ leiden mögen, für ein junges Mädchen, ein paar frische Blumen an der Brust. Geh’ hinaus in den Garten und schneide Dir ein Sträußchen weißer Rosen ab; hast noch vollauf Zeit dazu.“

Zeit hatte sie allerdings; denn die Hofräthin hatte sie gezwungen, sich eine ganze Stunde früher anzukleiden, damit die Feier nicht durch eine säumige Brautjungfer verzögert werde.

Mechanisch schritt Lilli die Thürstufen und den Hauptweg des Gartens hinab. Ihr Kleid von starrer Seide rauschte über den Kies fast erschien dieser weiße, mattglänzende Stoff zu schwer für die elfenleichte Gestalt es jungen Mädchens, aber der Eindruck des Schwerfälligen wurde gemildert durch duftige Tüllbauschen und Spitzen, die Schultern und Oberarme umschlossen. Eine einzige, weiße Seerose, den mattgelb schimmernden Kelch voll blitzender Krystalltropfen, lag über ihrer Stirn; lange Schilfblätter mischten sich zwanglos mit den wundervollen Haarsträhnen und fielen auf den Nacken; hier und da leuchtete es wie ein blutigrother Tropfen aus dem tiefdunklen Haar, oder auf einer Blattfläche, der Schilfkranz war mit Korallennadeln befestigt.

Zu beiden Seiten des Weges dufteten weiße Rosen, aber Lilli berührte keine derselben; sie hatte schon wieder vergessen, weshalb sie den Garten betreten. Träumerisch schritt sie weiter. Sie wußte nicht, daß sie bereits das Bohnengehege passirte, welches einen Theil des nach dem Pavillon führenden Weges einschloß; erst, als die hohen, grünen Wände seitwärts aufhörten, und der Sonnenschein wieder voll und breit auf dem Kies lag, hob sie den Kopf … vor ihr lag der Pavillon, in demselben Augenblicke wurde die Thür von innen rasch aufgestoßen, und der Blaubart trat heraus.

Lilli stieß einen leisen Schrei aus und wollte in den Hauptweg zurückfliehen.

„Bleiben Sie, oder ich folge Ihnen in das Haus!“ rief er so laut und drohend, daß sie scheu und angstvoll nach dem Haus hinüberblickte, diese Stimme mußte ja bis in seine entferntesten Winkel dringen. Sie blieb wie festgewurzelt stehen, während er mit raschen Schritten auf sie zukam. Er fing ihren ängstlichen Blick auf, ein bitteres Lächeln zuckte über sein Gesicht.

„Beruhigen Sie sich,“ sagte er mit herbem Spott, als er vor ihr stand, „mein Anblick wird die Tante nicht erschrecken, aus dem einfachen Grunde, weil sie mich hier nicht sehen kann. Es geschieht ihr überhaupt kein Leid’s, so wenig wie ihrem Garten. … Haben Sie je eine niedergetretene Blume, oder umgeknickte Grashalme in der Nähe des Hauses, oder um jene Laube bemerkt? … Und doch habe ich in finsterer Nacht unzählige Male dort gestanden; gehe ich auch auf verbotenen Wegen, so weiß ich doch fremdes Eigenthum zu schonen… Jenem unwiderstehlichen Trieb, nächtlicher Weile hier auf feindlichem Terrain herumzustreichen, verdanke ich einen ganzen Schatz von Wissen; so z. B. weiß ich, daß Sie eben im Begriff sind, zur Hochzeit zu gehen; diese träumerische Seerose wird Opposition bei Ihren Freundinnen hervorrufen, die Ihnen durchaus brennendrothe Verbenen octroyiren wollten.“

Lilli hob die zornig blitzenden Augen zu ihm auf; heftige Worte drängten sich auf ihre Lippen, aber sein Anblick machte sie so bestürzt, daß sie nicht einen Laut hervorbrachte. Er hatte offenbar die Herrschaft über sich selbst verloren. Seine Gesichtsfarbe war noch fahler, als am Morgen, und die Lippen, die er zu einem spöttischen Lächeln zwingen wollte, sträubten sich gegen den Zwang und zuckten fieberisch. Er hatte bis zum letzten Wort den Ton beißender Ironie festgehalten; allein völlig gegen seine sonstige Art und Weise, nach der er zwar rasch und feurig, aber doch klar abwägend und markirend zu sprechen pflegte, stieß er Alles so hastig und gepreßt hervor, als ob ihm der Athem fehle.

Was sollte sie beginnen? Der Aufruhr in ihrem Innern war unbeschreiblich. Bei jedem höheren Aufbrausen seiner Stimme zuckte sie zusammen; die Furcht, daß die Hofräthin plötzlich hervortreten und ihn beleidigen könne, war abermals die vorherrschende Empfindung in ihr. Mit unsäglicher Anstrengung überwand sie den inneren Sturm und sagte ziemlich ruhig, wenn auch mit etwas vibrirender Stimme:

„Nun, da Sie wissen, was ich vorhabe, werden Sie auch wohl einsehen, daß ich mich nicht länger hier aufhalten kann –“

„O, Sie haben Zeit!“ unterbrach er sie. „Der Wagen wird erst um vier Uhr kommen, Sie abzuholen… Sie sehen, ich habe mich auf meinem Lauscherposten neben der Laube genau instruirt. Ja, wenn man einmal der Sünde verfällt, so geschieht es meist mit Haut und Haar! Meine Seele war ehemals rein vom Laster des Spionirens, rein, wie die Sonne am Himmel, und jetzt – sehen Sie die blauen Vorhänge da droben hinter den Thurmfenstern? Dort stehe ich lauernd und leide bisweilen auch die Strafe des Horchers, nämlich, das mit ansehen zu müssen, was ich verwünsche… Ja, ja, ich hatte heute Morgen einen unbezahlbaren Anblick! Er riß mich dergestalt hin, daß ich die Entfernung und jegliches Hinderniß übersah und meinte, mit einem Faustschlag das widerliche Insect fortschleudern zu können, das meine Blume berührte – und darüber gingen Romeo und Julie zu Grunde… Ah, diesem Romeo geschah ganz recht! Ich haßte ihn zuletzt bitter, war er doch so empörend glücklich! … Jener blondgelockte Adonis von heute Morgen, der ohne Zweifel Ihr Ritter bei der Hochzeit sein wird, er durfte Blumen aus Ihren Händen nehmen, so viel ihm beliebte; wenn ich nun in diesem Augenblick an Ihr Gerechtigkeitsgefühl appellirte und Sie bäte, nur diesen einen armseligen Zweig für mich zu brechen, Sie würden es nicht thun, ganz sicher nicht?“

„Ich habe kein Recht an diese Blumen, sie gehören meiner Tante.“

„Ah, vortrefflich geantwortet! … Was würden Sie erst sagen, wenn ich spräche: ‚Gehen Sie nicht zu der Festlichkeit, [484] eine Menschenseele leidet unaussprechliche Qualen in dem Gedanken, Sie dort zu wissen‘?“

In dem Innern des jungen Mädchens wogten alle gewaltsam niedergekämpften Empfindungen wieder durcheinander bei diesen Worten. Unwillkürlich sah sie zu ihm auf. In dem Augenblick faßte er ihre beiden Hände; wie weggewischt waren plötzlich jene grimme Ironie, jenes wilde Weh von seiner Stimme, es war, als ob ihn die Waffen des ungestümen Trotzes für einen Moment treulos verließen und nun einem Gemisch von leidenschaftlicher Angst und Befürchtung freien Spielraum gewährten.

„Gehen Sie nicht, ich bitte Sie darum!“ flüsterte er.

Was waren das für Töne und wie schmolz sein kaum noch so höhnisch funkelnder Blick dabei in unaussprechlicher Zärtlichkeit und Weichheit! Aber bei aller inneren Erschütterung, bei allen aufgestürmten Regungen, die sie unwiderstehlich hinüberzogen zu ihm, war sich Lilli doch klar bewußt, daß sie sein Verlangen zurückweisen müsse. Sie entzog ihm hastig die Hände, und lediglich infolge des inneren Ringens ward ihre Stimme so schneidend und herb, als sie entgegnete: „Das ist eine seltsame Bitte, es steht nicht in meiner Macht, sie zu erfüllen!“

Eine hohe Röthe flog über das Gesicht des Blaubartes und mit ihr kehrte seine frühere Haltung zurück.

„Ich hätte diese Antwort vorher wissen können!“ rief er. „Aber wie, wenn ich nun um jeden Preis auf meiner Forderung bestehen müßte? … Meinen Sie nicht, daß es ein Leichtes für mich sein würde, die Widerspenstige auf diesen meinen Armen im Fluge hinüberzutragen in mein Haus und dort zurückzuhalten, bis das Fest vorüber? Es wäre nicht das erste Mal, daß es einem kühnen Sterblichen gelungen, eine Nixe zu rauben.“

„Und nicht das erste Mal, daß da drüben in dem Hause eine Gefangene weinte!“ stieß Lilli mit bebenden Lippen hervor.

„Eine Gefangene, in meinem Hause?“ rief er im Ton höchster Ueberraschung und trat einen Schritt zurück, aber als ob ihn plötzlich die Lösung eines Räthsels überrasche, schlug er sich in demselben Moment mit der Hand vor die Stirn.

„O, ich Thor!“ rief er, seine Stimme klang völlig verwandelt. „Wie konnte ich vergessen, daß ich im Weichbild einer kleinen Stadt lebe, umlauert von neugierigen Augen und müßigen Zungen, für die ein scheinbares Geheimniß willkommen ist, wie die unglückliche Fliege im Netz der Spinne! … Also Muhmen und Basen erzählen sich da drinnen,“ er streckte den Arm aus nach der Stadt, „von einem weinenden, gefangenen Weib in meinem Hause? Und ich spiele ohne Zweifel in diesem Drama nothgedrungen die Rolle eines Währwolfs oder Blaubartes?“

Trotz der peinlichen Lage, in der das junge Mädchen sich befand und die ihr sogar in diesem Augenblick das brennende Roth der Beschämung über ihre unwillkürlich herausgestoßene Aeußerung in die Wangen trieb, trotz all’ diesem kam ihr fast ein Lächeln darüber, daß er selbst die ihr so geläufig gewordene Bezeichnung seiner Persönlichkeit brauchte.

„Und Sie hatten natürlicherweise nichts Eiligeres zu thun, als an dieses Geheimniß zu glauben und mich zu verabscheuen?“ fuhr er mit bitterem Vorwurf fort. „Würde ich gewagt haben, in Ihre reinen Augen zu sehen Angesichts des Schauplatzes jener muthmaßlichen Gräuel? … Es ficht mich übrigens nicht im Mindesten an, was die da drinnen von mir denken und sagen, ich würde nicht einmal die Lippen öffnen, um das Gewäsch zu widerlegen. In Ihrer Seele aber darf dieser häßliche Wahn auch nicht um einen Athemzug länger Raum finden… Ja, es lebt ein armes, unglückliches, weibliches Wesen in meinem Hause, allein nicht gezwungen oder gar gefangen, sondern geschützt und behütet von mir. Beatrice ist meine Schwester, aber wir sind nicht von einer Mutter, die meine ist gestorben, ohne je um die Existenz dieses armen Geschöpfes zu wissen, und mir hat mein Vater erst auf dem Sterbebett das Geheimniß und die Sorge um die Tochter anvertraut. Er hat sie stets zärtlicher geliebt als mich, den legitimen Sohn, und ich begreife das vollkommen, denn sie ist ein wunderbar befähigtes Wesen. Aber ihr Dasein ist auch für ihn eine Quelle unaussprechlicher Sorgen geworden… Sie, in deren Antlitz die Menschen lächelnd und erquickt schauen, Sie können nicht ahnen, was jenes unglückselige Wesen leidet! Von ihrer Geburt an kränklich, hat sie plötzlich, und zwar kurz vor dem Tode des Vaters, eine entsetzliche, verheerende Krankheit heimgesucht. Ihre Gesichtszüge, die früher von bezaubernder Schönheit gewesen sein sollen, sind völlig zerstört; sie verbirgt diesen Anblick hinter einem Schleier, ich kenne sie nicht anders. Ihr Leiden ist unheilbar und, wie sie selbst stets behauptet, ansteckend, und aus dem Grunde hat sie nie gestattet, daß ich auch nur ihre Hand berühre. Sie flieht die Nähe der Menschen; es beugt sie schwer darnieder, ein Gegenstand des Schreckens zu sein, deshalb habe ich stets Sorge getragen, daß Niemand, außer ihrer Wärterin und meinem schwarzen Diener, der uns unerschütterlich anhänglich ist, um das Geheimniß hinter dem Schleier wisse. Das war auch der Grund, um dessen willen ich das Pavillonfenster aus meinem Garten entfernt haben wollte.“

Lilli hatte ihm wie betäubt zugehört – er stand entsühnt vor ihr. Statt des vermeintlichen Verbrechens, das seiner kühnen, herausfordernden Erscheinung etwas Dämonisches verliehen hatte, las sie jetzt auf seiner Stirn nur die edelsten Gedanken… Es war von Kindheit an ein fest ausgesprochener Zug ihres Charakters gewesen, das Bewußtsein eines ungesühnten Unrechts gegen Andere nicht in ihrer Seele zu dulden. Bei all’ ihrem Trotz und Eigenwillen hatte man sie nie zu einer Abbitte zwingen müssen; war sie von ihrem Fehler gegen Andere überzeugt, dann that sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit und Beredsamkeit Alles, um ihn gut zu machen. Aber noch nie war ihr das Gefühl eines unsäglichen Bedauerns und das Verlangen, die Kränkung vergessen machen zu dürfen, so unwiderstehlich zum Bewußtsein gekommen, wie in diesem Augenblick.

Vielleicht las sein durchdringender Blick diese Vorgänge in der Seele des jungen Mädchens. Er nahm abermals ihre Hand, diesmal indeß in sehr sanfter und doch so eindringlich beschwörender Weise; sein Gesicht überzog bis in die Lippen jene tiefe Blässe, die sehr häufig eine mächtige innere Erschütterung zu begleiten pflegt.

„Lilli,“ sagte er – ihr Name fiel zum ersten Male von seinen Lippen und wie unendlich süß klang er! – „ich habe bisher unwissentlich gegen ein Phantom ankämpfen müssen; nun es gefallen ist, meine ich, soll es auch heller um mich werden… Heben Sie nur ein einziges Mal fest und prüfend die Augen zu mir auf und Sie müssen finden, daß nur der Aberwitz ein solch’ abscheuliches Licht auf mich werfen konnte… Ich will mich durchaus nicht besser hinstellen, als ich bin, vor Ihnen am allerwenigsten. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß Sie, und sei es auch nur ein einziges Mal und selbst im verschwiegensten Winkel Ihrer Seele, dächten, ich hätte Sie getäuscht… Ich bin eine leidenschaftliche, heftige Natur; als einzigem Sohn eines angesehenen, reichen Hauses standen mir Thür und Thore der großen Welt weit offen und ich habe mich in den Strudel des Lebens gestürzt, wie tausend Andere in meinen Verhältnissen auch… Verurtheilen Sie mich nicht, Lilli, ich bin trotzdem nicht gesunken, ich habe nach der Erkenntniß nur um so energischer mein besseres Selbst zu retten gesucht… Ich darf getrost ein reines weibliches Wesen an meine Seite ziehen und sein Leben mit dem meinen verknüpfen. Diesem Gedanken gab ich übrigens in den letzten Jahren wenig Raum, ich hatte keine hohe Meinung von den Frauen… Da geschah es eines Morgens, daß ein zartes Geschöpfchen vor mir stand, an Gestalt ein elfenartiges Kind, sah es mich doch mit Augen an, aus denen der ganze herbe Trotz der Jungfrau, die Funken eines rasch denkenden, beweglichen Geistes sprühten.“

Ein Wagen rollte die Chaussee herauf und hielt draußen vor der Gartenthür. Lilli zuckte erschreckt auf und suchte ihre Hände dem Sprechenden zu entziehen, allein er zog sie nur um so fester an sich heran und fuhr mit gesteigerter Stimme und fliegendem Athem fort:

„Und da wurde es mir klar, wie sich urplötzlich eine dunkle, in meiner Seele ruhende Weissagung erfülle: daß nämlich die reine, wahre Liebe auf dieser Welt kein bloßes Ideal und daß sie mir beschieden sei… Lilli, ich schwur, ich müsse Sie um jeden Preis erringen, ich –“

Das junge Mädchen entriß ihm gewaltsam ihre Hände. Der Kies des Hauptweges knirschte unter näherkommenden, schweren Tritten, und in dem Augenblick rief die Tante laut nach ihr.

„Nie, nie!“ stammelte sie todtenbleich mit zuckenden Lippen, „Geben Sie alle Hoffnung auf und kreuzen Sie nie wieder meinen Weg!“

Sie lief nach dem Hauptweg und verschwand hinter dem Bohnengehege. Dort stand die Hofräthin, die Mantille des jungen Mädchens in der Hand, und ließ ihre suchenden Blicke über den [485] Garten schweifen. Sie schalt über die fehlenden Rosen an Lilli’s Brust, schnitt rasch selbst einige ab und übersah dabei gänzlich, daß die Gescholtene auf schwankenden Füßen mit aschbleichem Gesicht vor ihr stand. Wortlos stieg Lilli in den Wagen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, als sei plötzlich ein unübersehbares Unglück in ihr Leben hereingebrochen und als habe sie eine Schuld, schwärzer als die Nacht, auf ihre Seele genommen. –

Die sogenannte grüne Stube, ein sehr großes Eckzimmer mit sechs Fenstern im Hause der Hofräthin, steckte Jahr aus Jahr ein hinter festgeschlossenen Jalousien und zugeriegelten Thüren. Zu des alten Erich Zeiten hatte dieser Raum sehr oft großen Glanz gesehen. Die deckenhohen Wandspiegel hatten majestätische Frauengestalten mit thurmhoher Frisur und brocatener Schleppe und jene pomphaften, aus Atlas, Tressen und Spitzen zusammengesetzten Männertoiletten zurückgeworfen, und der sauber eingelegte Fußboden wußte von mancher Menuett zu erzählen, die auf hohen Stöckelschuhen von den Honoratioren der Stadt in aller Feierlichkeit und Grandezza hier getanzt worden war. Nur zweimal im Jahr wurden jetzt die Fensterladen auf wenige Tage zurückgeschlagen, und wer Tante Bärbchens Gewohnheiten kannte, der wußte dann, daß sie eine jener großen Gesellschaften beabsichtige, zu denen ihre sämmtlichen Freunde eingeladen wurden. Zu Sauer’s und Dortens Erstaunen wurde in diesem Sommer der Befehl zum Auslüften der grünen Stube bei weitem früher gegeben, als seit vielen Jahren herkömmlich war. Diese Abschweifung von der Regel hatte aber lediglich ihren Grund in Lilli’s „fortgesetzter Kopfhängerei“, wie sich die Hofräthin ausdrückte. Es war für Tante Bärbchen etwas ganz Neues, Ungewohntes, dem jungen Mädchen gegenüber auch einmal „im Finsteren zu tappen“. Nach zahllosen Muthmaßungen, aber stets mit Umgehung der allein richtigen, war sie schließlich zu der Ueberzeugung gekommen, daß Lilli Heimweh habe, und hatte ihr sofort mit großer Selbstverleugnung die Abreise nach Berlin freigestellt. Aber mit ausbrechender Heftigkeit, die fast ausgesehen wie ein tödtliches Erschrecken, hatte das junge Mädchen den Vorschlag entschieden zurückgewiesen. Von diesem Augenblick an bemühte sie sich mit unsäglicher Anstrengung, heiterer auszusehen, und Tante Bärbchen sann Tag und Nacht darauf, die angeblichen Hirngespinnste im Kopf ihrer Pflegebefohlenen zu zerstreuen.

Es waren viele Gäste, alte und junge, zu dem bevorstehenden Souper eingeladen und die Hofräthin hatte bereits einigemal prüfend den Raum überblickt, ob sich neben den Spieltischen der alten Herren und Damen auch noch ein Tanzplatz für die Jugend einrichten lasse.

Durch die strenge Abgeschiedenheit von Luft und Licht hatte sich der Salon so ziemlich seine ursprüngliche Frische zu erhalten gewußt. Die Vergoldung der zierlich geschnitzten Holzleisten an den Wänden blinkte lebhaft unter den neugierig hereinhuschenden Sonnenstrahlen, und das mythologische Plafondgemälde zeigte noch dieselben feurigen Fleischtöne an den Gestalten, wie sie längst gebrochene Augen ehemals entzückt hatten. Nur einige weibliche Pastellportraits, die eine unkundige tactlose Hand an den Wänden des harmonisch im Renaissancestil gehaltenen Raumes aufgehangen, hatten erblaßte Lippen und Wangen und die einst carmoisinschimmernde Umhüllung der häßlichen, ungebührlich kurzen Taillen war schmutzig-fahl geworden.

In dem Kamin brannte trotz der Sommerhitze ein helles Feuer; es sollte die letzten Ueberreste der dumpfen Luft verzehren. Noch standen inmitten des Zimmers die provisorisch hereingeschobenen Möbel aus dem Pavillon, und die geflüchteten Oelgemälde lehnten an den Wänden; sie sollten nach Tante Bärbchens Beschluß endlich hier ihren Platz finden, weil der Großvater Erich für dieses Zimmer stets eine große Vorliebe, gezeigt hatte. Die Hofräthin und Lilli säuberten und wuschen vorsichtig die Bilder, und Sauer, der eben von einem Geschäftsgang nach der Stadt zurückkehrte, sollte sie aufhängen.

[486] Er trat mit einer gewissen Feierlichkeit in’s Zimmer. Lilli kannte die Eigenthümlichkeiten des alten Menschen genau und erkannte augenblicklich an dem Ausdruck seines breiten Gesichts, daß er eine wichtige Neuigkeit mit heimgebracht habe. Er rückte einen der hochbeinigen, ungepolsterten Eichenstühle an die Wand und indem er scheinbar prüfend die Stelle besah, wo das größte Bild hängen sollte, sagte er, ohne den Blick wegzuwenden:

„Die Frau Hofräthin können froh sein, Sie kriegen nun wieder Ruhe… Der da drüben,“ – er wagte nie, den Namen des Nachbars vor den Ohren seiner Herrin laut werden zu lassen – „ja, der da drüben geht morgen fort, in die weite Welt und gar über’s Meer; seine Siebensachen stehen schon fix und fertig gepackt. … Der Kutscher erzählte es beim Bäcker, wo ich die Torten bestellte.“

Lilli lehnte das Bild des Orestes, das sie eben in den Händen hielt, stillschweigend an die Wand, über ihre fest aufeinander gepreßten Lippen kam kein Laut. Sie schritt nach der Thür, fast mit den Geberden und Bewegungen des Nachtwandlers, den eine dämonische Macht vorwärts treibt. Die hohe Eichenthür fiel hinter ihr schwer in’s Schloß, aber weder die Hofräthin, noch der alte Sauer bemerkten es. Die Erstere nahm die Neuigkeit mit einem scheinbar gleichgültigen „So“ entgegen und wandte das Gesicht auf einen Moment nach den Fenstern, während der alte Sauer mit zitternden Knieen auf den Stuhl stieg. Die Pastellgemälde wurden von der Wand genommen und Sauer hing das Orestesbild versuchsweise an einen der alten, gelockerten Nägel, allein die Last war zu schwer. Kaum hatte er die Hände entfernt, als das Bild herabstürzte; durch einen ungeschickten Rettungsversuch Sauer’s fiel es sehr unglücklich, es wurde gegen den Kaminsims geschleudert und blieb dort an einer spitz hervorragenden Verzierung hängen, doch nicht der Rahmen, man hörte das feine, scharfe Geräusch der mürben, zerreißenden Leinwand.

„Na, aber das nehm’ Er mir nicht übel, Sauer, Er ist doch zu ungeschickt!“ rief die Hofräthin erzürnt.

Sauer verließ erschrocken den Stuhl und nahm das Bild herab; über das Gesicht des Orestes liefen zolllange Risse nach mehreren Seiten hin.

„Da seh’ Er her, was Er angerichtet hat!“ schalt die Hofräthin weiter und hob die klaffende Leinwand auf, aber entsetzt, als habe sie auf glühendes Eisen gegriffen, fuhr die Hand zurück und die fahle Blässe einer schreckensvollen Ueberraschung flog über das Gesicht der alten Dame: ein Paar großer, brauner, fremder Augen hatte feurig und doch in rührender Sanftmuth aus der Spalte zu ihr aufgeblickt.

„Geh’ Er hinaus, Sauer!“ stammelte sie und legte rasch ihre Hand bedeckend auf die Risse. „Die Bilder können später aufgehangen werden… Hinaus, hinaus!“ wiederholte sie in ausbrechender Heftigkeit und zeigte nach der Thür, hinter welcher der zerknirschte Sauer verschwand.

Ein tiefes Seufzen, das fast wie Stöhnen klang, rang sich aus ihrer Brust. Sie ergriff eine Scheere, mit bebender Hand, aber energisch und rücksichtslos durchschnitt sie das ehedem so ehrfurchtsvoll respectirte Gemälde, die Fetzen flogen zurück und von einem grünlich grauen Hintergrund erhob sich eine bezaubernd schöne Mädchengestalt und stand, vom wärmsten Lebensodem durchhaucht, vor den vergehenden Blicken der Hofräthin. Die lange Zeit der Haft war wirkungslos an der rosigen Frische dieser Züge vorübergestrichen; der Sonnenstrahl, der die mit bewundernswürdiger Meisterschaft gemalten Haarwellen goldig streifte, hatte willig und unbeschadet seines Glanzes die Gefangenschaft getheilt, und der braune Sammet des Gewandes, weich, ungezwungen und bis zur Berührung täuschend in seinem Faltenwurf, quoll unbestäubt aus dem goldenen Rahmen; unten in einer Ecke des Bildes stand der Name A. van Dyck.

„Er hat es doch gethan!“ murmelte die Hofräthin mit tonloser Stimme. „Und die Hubert’schen waren in ihrem Rechte, wenn sie ihn ‚Dieb‘ schalten … Schrecklich, schrecklich! … Und er hat weiter gelebt nach dieser elenden That und hat es geduldet und ruhig geschehen lassen, daß seine Angehörigen die Bestohlenen schmähten! … Darum also war sein letztes Wort ‚der Pavillon!‘ und dies letzte Wort ist wie ein heiliges Vermächtniß geehrt und behütet worden! … Alle Erichs sind in dem Bewußtsein heimgegangen, daß ihr Haß ein gerechter war; nur mir, der letzten, alleinstehenden wird die fürchterliche Erkenntniß, und ich, ich muß es dem da drüben eingestehen, daß die ehrenhaften Erichs durch achtzig lange Jahre hindurch – Hehler gewesen sind!“

Sie blickte starr auf das stille Gesicht, das so lieblich und harmlos in die Welt hinein lächelte, und dachte mit Schauder an jenen Moment, wo ihr Großvater, wahnwitzig vor Leidenschaft, Nachts in das offenstehende Haus der arglos vertrauenden Familie eingedrungen sein mußte, an jene einsamen Stunden, wo er, scheu hinter Schloß und Riegel sein unseliges Geheimniß bergend, jenen Oresteskopf malte, der beinahe ein Jahrhundert hindurch das Mädchenantlitz voll Unschuld und Grazie neidisch bedeckte und dafür der Welt die Qualen eines bösen Gewissens in seinen verzerrten Linien zeigte.

Die Hofräthin schwankte nicht einen Augenblick in der Ueberzeugung, daß das Bild dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden müsse, und zwar ohne Zögern, denn er wollte ja morgen eine Reise antreten … Welch’ entsetzliche Aufgabe für sie! Sie mußte ihren bisherigen Widersacher bitten, daß er schonend mit der Ehre ihres Großvaters verfahre, dazu wollte sie sich überwinden; denn ihr strenges, unbestechliches Gerechtigkeitsgefühl sagte ihr, daß das vieljährige Unrecht gesühnt werden müsse … allein wenn sie daran dachte, daß der junge Mann ihr übermüthig und rücksichtslos entgegentreten könnte, da schoß ihr das Blut siedend nach dem Kopfe, sie fürchtete sich vor ihrem eigenen rasch aufbrausenden Temperament, das leicht Alles verderben konnte. Nach heftigen, inneren Kämpfen trat sie aus der grünen Stube, schloß die Thür hinter sich ab und rief in der Hausflur mit fast versagender Stimme nach Lilli aber sie erhielt keine Antwort.

Das junge Mädchen war, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, hinaus in den Garten gegangen. Es war, als ob sich ihr ganzes Denken in dem Satze „Er geht fort ohne Lebewohl“ concentrire; ihr frevelhaftes Wort „kreuzen Sie nie wieder meinen Weg!“ sollte in der That das letzte sein, das zwischen ihm und ihr gefallen … Unmöglich! … Sie schritt weiter; aber nicht auf dem langen Umwege der Kiespfade, querfeldein ging es durch Gemüsebeete und Buschwerk. Sie fühlte nicht, daß die glühende Nachmittagssonne auf ihrem Scheitel brannte; vergeblich rissen die Dornen der Hecken an ihren Kleidern und schrieen und schmetterten aufgescheuchte Vögel in dem Dickichte, als wollten sie die Dahinschreitende zurückhalten von einem Gange, der gegen Mädchenstolz und Sitte stritt. … Sie trat in den Pavillon. Da lagen noch die Trümmer der zerstörten Wand, und über sie und die einst durch Dortens fleißige Hände fleckenlos sauber gehaltenen Dielen hinweg lief ein vielbetretener Weg hinaus nach Tante Bärbchens Garten. Die Wandöffnung hatte sich bedeutend vergrößert; der Rest des Fachwerkes war zu einer niedrigen Stufe zusammengeschmolzen, die den Fußboden des Pavillons von einer schonungslos zusammengetretenen Blumenrabatte drüben schied.

Zum ersten Male lagen Haus und Garten im funkelnden Sonnenlicht vor ihr, diese kleine Wunderwelt, hervorgerufen durch einen künstlerisch fein und harmonisch empfindenden Geist, dies geliebte nordische Fleckchen Heimatherde, das er in allem Zauber, der Schönheit sehen wollte, wie der zärtliche Bräutigam die Braut! … Ueber die nickenden Blumenhäupter streifte ein feiner Luftzug, sie schüttelten sich leise, leise, wie im traurigen Verneinen, und das Geflüster der plätschernden Fontainen klang dem jungen Mädchen wie ein eintöniges Klagen, daß sie nun, ungesehen von Menschenaugen, einsam ihren Strahl gen Himmel tragen sollten, inmitten eines verödeten Eden. … Dort durch den stillen, kühlen Laubgang wandelte es langsam und schweigend; aber es war nicht jene todestraurige Frau mit dem schleppenden, weißen Gewande, die sich wie ein dräuender Schemen zwischen Lilli und ihre Liebe gestellt, er war es selbst. Er schritt, die Hände auf den Rücken gelegt, mit gesenktem Kopf näher und näher. … Wie hatte sie je hinter dieser lichtvollen Stirn Gedanken voll Unrecht und strafbarer, gewaltthätiger Leidenschaft vermuthen können? Wie war es möglich geworden, daß sie seinen innigen, die tiefste Liebe athmenden Worten gegenüber die Erinnerung an alte, verblaßte Familientraditionen, an ihre eigenen frevelhaften Vorsätze hatte festhalten können? Wie hatte sie je dem Gedanken Raum geben mögen, daß ihr Herz allmählich wieder in das Geleise seines ehemaligen Friedens zurückkehren werde nach dem tödtlichen Riß, den sie in unverantwortlicher Selbstüberschätzung zwei für einander bestimmten Seelen zugefügt hatte?

Er kam näher und näher, und sie wich nicht. Ihre feine, [487] in hellen Muslin gehüllte Gestalt stand unbeweglich, wie ein geduldig wartendes Kind, in der Wandöffnung; mit der Rechten stützte sie sich auf einen Balken, und ihr Gesicht leuchtete fast in geisterhafter Blässe auf dem dunklen Hintergründe der Pavillonwände. … Ein Zweig streifte die Stirn des einsam Wandelnden; er sah auf und in demselben Moment in Lilli’s Augen. Er blieb wie angewurzelt stehen.

„Lilli!“ rief er mit unsagbarem Ausdrucke; in diesem Tone stritten Wonne und Schmerzen, zitternde Furcht und Jauchzen. … Mit wenig Schritten stand er neben ihr. Er nahm ihre Hand, sie ließ es ruhig geschehen; in athemloser Spannung bog er sich nieder, um in ihren Zügen zu lesen; sie lächelte und ihr Blick wich nicht zurück vor seinen in fieberhafter Hast forschenden Augen.

„Lilli,“ begann er endlich mit vibrirender, aber vor Aufregung fast klangloser Stimme, „Ihr Erscheinen hier wäre eine entsetzliche Grausamkeit, wenn nicht …“ er brach ab und ließ ihre Hand sinken.

„Ich wollte Sie nicht wiedersehen,“ hob er abermals an. „Eben, weil Ihr Anblick mir zum Leben nothwendig geworden war, wie das Athemholen, eben darum mußte ich nach Ihrer Erklärung meinen aufrührerischen Gefühlen den Damm des mir selbst gegebenen Wortes entgegenstellen, wenn ich nicht in den Fall kommen wollte, mich selbst verachten zu müssen. … Ich gehöre zu den Naturen, für welche das, was sie einmal lieben, in Erz gegraben ist; ich werde Sie nie vergessen, Lilli, nie! Aber ich bin auch weit davon entfernt, mir selbst in der Hingebung an einen nagenden Seelenschmerz zu gefallen. … Ich gehe, Lilli! Es wird ein weiter Raum zwischen uns liegen, und vielleicht, vielleicht übt einst auch die Zeit ein wenig Heilkraft an mir. … Ich kann in diesem Augenblicke noch nicht sagen: ‚Werden Sie glücklich!‘ Das hieße sich selbst an’s Kreuz schlagen, und zu einem Märtyrer fehlt mir die Duldsamkeit; der Gedanke, daß Sie je einem Anderen gehören könnten, macht mir das Blut sieden, und jener Wunsch könnte leicht zu einer Verwünschung werden…“

Er hielt plötzlich inne, und sein durchdringender Blick richtete sich über Lilli hinweg fest auf einen Punkt. Das junge Mädchen wandte sich um. Dort in der Thür stand die Hofräthin; noch lag jenes fahle Grau auf ihren Zügen, das die unselige Entdeckung hervorgerufen; das Gesicht sah in diesem Augenblicke merkwürdig verfallen aus, aber ihre großen, hellen Augen ruhten mit einem seltsamen Glanz und unerklärlichen Ausdruck auf dem Paare.

Lilli näherte sich ihr nicht. Sie trat vielmehr dicht an die Seite des neben ihr Stehenden, als sei dies einzig ihr Platz und kein anderer auf der Welt.

„Tante, Du kommst zu spät!“ sagte sie fest und auf ihrem erst so bleichen Gesichte lag ein tiefes Roth. „Wenn er mich nicht verstößt, weil ich ihn in thörichter Ueberschätzung meiner Kraft tief verwundet habe, so bin ich sein! … Du bist die Wohlthäterin meiner Familie, Tante Bärbchen, Du hast mich, so lange ich denken kann, geliebt und gehegt wie Dein eigenes Kind; bis noch vor kurzer Zeit standest Du neben meinen Eltern in meinem Herzen, und über Euch, meinte ich, sei kein Raum mehr. … Wie hat sich das geändert! … Aber ich wollte es erzwingen, daß mein Dankgefühl für Dich die Oberhand behielte. Gott allein weiß es, wie ich in den letzten Tagen gerungen und gelitten habe; aber verschließe Deine Augen vor dem Lichte, es ist ja doch da; wehre der Lebenslust, daß sie Dich nicht umschließe, es würde ebenso erfolglos sein, als der Kampf mit der ewigen Liebe! … Nenne mich undankbar, entziehe mir Deine Liebe, ich werde namenlos traurig sein, aber – ich gehe mit ihm!“

Sie ruhte längst an seinem Herzen. Schon nach ihren ersten Worten hatte er die Arme fest um sie geschlungen, und es sah in der That jetzt aus, als wolle der glückliche Sterbliche seine so schwer errungene Nixe sofort hinüber in sein Haus tragen. Die hohe Gestalt dort und ihre muthmaßlichen Einwürfe existirten für ihn nicht mehr. Wie trunken hingen seine Augen an den Lippen des jungen Mädchens, das mit wenigen energischen Worten ihm das Recht auf ihren Besitz einräumte.

Die Hofräthin war indessen näher getreten, und um ihren strenggeschnittenen Mund zuckte es wie ein krampfhaftes Weinen – für Lilli eine niegesehene Erscheinung.

„Kind, Du hast doch wohl keinen rechten Begriff davon gehabt, wie gut ich Dir bin, sonst hättest Du mir mehr Vertrauen gezeigt!“ sagte sie ungewöhnlich mild. „Nun, ich will nicht mit Dir streiten, denn den größten Theil der Schuld hab’ ich mir freilich selbst zuzuschreiben. Trotz meiner Vorurtheile würde ich doch die Sache mit ganz anderen Augen angesehen haben, als Du voraussetztest… Ich würde Dir nur Eines zu bedenken gegeben haben, und das thue ich auch in diesem Augenblick noch: Du willst diesem Mann Deine ganze Zukunft anvertrauen und kennst seine Vergangenheit nicht; das Wenige, das wir wissen –“

„O Tante, nicht ein Wort weiter!“ rief Lilli heftig und legte zugleich dem Geliebten, der sprechen wollte, die Hand auf den Mund. „Das Wenige, das wir wissen, oder das wir vielmehr in uns selbst beschämender Weise vermuthet haben, beruht gerade auf einer seiner edelsten Handlungen, Du wirst ihm abbitten müssen, so gut wie ich!“

„Und Dein Vater?“

„Er wird meine Wahl segnen, wenn er Dorn kennen lernt!“

„Nun, dann habe auch ich nichts mehr zusagen, als daß Dein Entschluß auch mich glücklich macht… Lilli, es ist in Deine Hand gegeben, ein großes Unrecht der Erichs an den Huberts gut zu machen!“

Kurze Zeit darauf standen die Drei in der grünen Stube, vor dem verhängnißvollen Bilde. Tante Bärbchen hatte mit bebenden Lippen den Moment der Entdeckung geschildert und bot schließlich ihrem bisherigen vermeintlichen Widersacher die Hand zur Versöhnung. Er reichte ihr herzlich die Rechte, mit der Linken jedoch ergriff er plötzlich das Bild und warf es in den Kamin.

„Es ist ein Raub an der Menschheit,“ sagte er gelassen, „aber besser, ein Kunstwerk weniger in der Welt, als daß es durch seinen Anblick schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwöre.“

„Nein, nein!“ rief die Hofräthin und riß es aus den hochauflodernden Flammen, die bereits an den Fetzen des Orestesbildes gierig leckten. „Es soll fortbestehen zur Freude Anderer und mir zur steten Mahnung, daß wir Menschen sind und leichtlich irren können!“

„Am andern Tag hantirten Arbeiter lustig in den beiden Gärten, die grüne Hecke fiel und mit ihr der Pavillon. Der Rechen zog seine feinen Furchen über den Streifen Erde, aus welchem einst „Reiser bis in den Himmel wachsen sollten“, und da, wo noch vor Kurzem das unheilvolle Orestesbild von der Wand herniedersah, schauen jetzt holde, unschuldige Blumenaugen in die Welt.

Die geheimnißvolle Unbekannte wandelt Abends mit immer matter werdenden Schritten durch beide Gärten, ihre Furcht und Scheu sind verschwunden. Sie weiß sich ja von zärtlicher Theilnahme und Liebe umgeben und behütet; besonders eifrig ist Dorte um sie bemüht; sie sucht das zu sühnen, was einst ihr verleumderischer Mund verbrochen hat. Sauer, den wir zuletzt sahen, wie er mit einknickenden Knieen aus der grünen Stube wankte, hat jetzt einen weit größeren Spielraum für die verbotenen Wolken seines schrecklichen Knasters. Seine langen Rockflügel streifen über den feinen, englischen Sammetrasen in Nachbars Garten. Er ist noch viel unduldsamer gegen Dortens haarsträubende Teufelsgeschichten geworden, seit er weiß, daß der Neger – nach ihrer ehemaligen Behauptung ein Sohn der Hölle – das treueste und ehrlichste Herz unter der Sonne hat.