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ADB:Heinrich von Veldeke

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Artikel „Heinrich von Veldeke“ von Richard Moritz Meyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 565–571, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Heinrich_von_Veldeke&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 11:02 Uhr UTC)
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Veldeke: Heinrich von V., hervorragender Dichter des deutschen Mittelalters. Der Vater des deutschen Minnesangs stammt vom Niederrhein, aus jetzt unserm Sprachgebiet entfremdetem Lande; er gehört einem adeligen (nach Schulte, Zeitschr. f. d. A. 39, 187 freiherrlichen) Geschlechte an, dessen Stammsitz V., „bei dem heutigen Dorfe Spalbeke, in der Nähe von Maestricht, einige Meilen westlich von der Stadt“ lag. Gegenwärtig trägt nur noch eine Mühle den Namen des Dorfes Veldeke. Das Geschlecht stand in Beziehungen zu den Grafen von Los und der Abtei St. Trond. Dementsprechend kreuzen sich in V. selbst ritterliche und gelehrte Interessen; er war, wie wol kaum zu bezweifeln, ein Geistlicher, aber gerade der lebhafte Antheil an der neuen höfisch-ritterlichen Bewegung verschaffte seiner Epik und Lyrik tonangebende Bedeutung. Da es nicht feststeht, ob der Dichter der Eneide und der Minnelieder wirklich auch die Legende vom h. Servatius gedichtet hat, halten wir die chronologischen Angaben für beide auseinander.

Heinrich von V., der gepriesene Dichter des ersten größeren Kunstepos [566] von rein höfischem Charakter, war nach seiner eigenen Angabe 1184 bei dem großen Hoffest Kaiser Friedrich’s I. in Mainz. Für die Entstehung seines Hauptwerks lassen sich mit großer Wahrscheinlichkeit folgende Daten erschließen. Bald nachdem der französische Dichter Benoit de Sainte More (nach 1160) seinen Roman d’Enéas verfaßt hatte, schritt der an der Grenze französischer und deutscher Cultur wohnende V. zu einer Bearbeitung dieses Gedichtes in seinem heimischen Dialekt. Um 1174 hatte er seine Dichtung bis zu der Stelle, wo Aeneas Laviniens Brief liest, d. h. bis etwa V. 10 930 geführt. Er lieh das unvollendete Werk seiner Gönnerin, der Gräfin Margarethe von Cleve, und bei dieser fand es ein Graf Heinrich, der es widerrechtlich nach Thüringen mitnahm; dies geschah bei Gelegenheit der Hochzeit jener Gräfin mit Ludwig III. von Thüringen. Neun Jahre mußte der Dichter seine Arbeit vermissen; während dieser Jahre durchzog er wahrscheinlich Deutschland, und kam schließlich an den Hof der thüringischen Fürsten. Diese Herren, die die Ueberführung romanischer Cultur in ihre Lande geradezu systematisch betrieben, hatten vermuthlich inzwischen das bedeutsame Werk „mit sehr genauem Anschluß an das Original und nur unter Umsetzung der Maestrichter in die thüringischen Formen“ umschreiben lassen. Die Dichtung machte rasch Schule; schon Eilhart von Oberge, der nicht lange nach 1170 zu dichten begann, und der Baseler Bearbeiter des Alexanderliedes (1187) nahmen Entlehnungen vor, und Albrecht von Halberstadt spricht 1210 von dem Buch wie von einer allgemein bekannten Erscheinung. Vielleicht veranlaßte erst diese Wirkung eine directe Einladung Veldeke’s auf die Wartburg. Hier hat er nun das Gedicht überarbeitet und seine Neuerung, den reinen Reim, durchgeführt, den Eilhart noch nicht vorgefunden hatte; vor 1190, wahrscheinlich 1186–88 dichtete er auch den Schlußtheil, nicht ganz ein Fünftel, hinzu. Ueber sein Lebensende läßt sich nichts ausmachen; mit Wahrscheinlichkeit hat v. Muth geschlossen, daß V. gegen 1200 gestorben ist, nachdem er bis zuletzt in hohem Ansehen am Thüringer Hof gelebt hatte. Er mag ein Alter von etwa sechzig Jahren erreicht haben. Auch diese Daten sind (bis auf das von 1184) unsicher. Vollends unwahrscheinlich ist, was man aus einer Stelle der Eneide (V. 8375) schließen wollte, daß V. mit dem Kaiser Friedrich 1155 in Rom gewesen sei.

Der Verfasser des Servatius hat für eine Gräfin Agnes von Los und einen unbekannten Herrn Hessel, Domküster von Maestricht, gedichtet. Jene Gräfin ist 1171 und 1174 nachzuweisen. Das Gedicht ward in zwei zeitlich getrennten Theilen gedichtet und wird erst 1462 von Püterich von Reichershausen erwähnt. Der Verfasser war unzweifelhaft geistlich und scheint die seinem Patron Servatius gewidmeten Gotteshäuser in Quedlinburg und Goslar selbst besucht zu haben. All diese Daten würden mit denen über den Autor der Enit wol zu vereinbaren sein; sie lehren aber auch für dessen Lebensgeschichte wenig Neues.

Wir besitzen von dem mit der größten Einstimmigkeit gepriesenen Dichter von sicher echten Werken: die Aeneide und eine Anzahl Lieder; ferner ein zweifelhaftes Werk: die Legende von Servatius; endlich unsichere Anspielungen auf ein unbekanntes Buch von Salomo und der Minne.

Das Hauptwerk ist die Umdichtung jenes französischen Roman d’Enéas in „die boec heiten Eneide“ (es ist als Diphthong zu sprechen, da es auf wârheide reimt), 13527 Verse. Diese Dichtung hat die neue höfische Epik in Deutschland zwar nicht eröffnet (der „Floyris“ und der „Graf Rudolf“, auch die Anfänge von Eilhart’s Tristan sind ihm mindestens gleichaltrig), wol aber ihr zu dauernder Geltung verholfen. Die außerordentliche Wirkung des Gedichtes ist schon durch jenen Manuscriptendiebstahl (für den man etwa an ähnliche [567] Vorgänge bei Schriften Voltaire’s erinnern mag) bezeugt und konnte von Behaghel durch den Nachweis zahlreicher Entlehnungen und Anspielungen bis ins 14. Jahrhundert hinein belegt werden. Auch nennen ihn Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach, Rudolf von Ems mit höchstem Lobe unter den Epikern, während er als Lyriker zwar Schule machte, auch von mittelalterlichen Sammlern an die Spitze aller nicht fürstlichen Minnesinger gestellt wurde, aber nicht so oft wie andere Meister erwähnt wird. Im Epos lag also Veldeke’s Hauptverdienst. Wenn man im Anschluß an einen Vers aus Rudolf’s von Ems Alexandreis seine Bedeutung auf die Durchführung des reinen Reims zurückgeführt hat, so begab man sich doch wol in zu große Abhängigkeit von dem pedantischen Urtheil eines Epigonen. Allerdings gebührt V. auch jenes Verdienst; es tritt aber zurück neben jenem, welches der feinsinnige und kenntnißreiche Gottfried von Straßburg rühmt: daß V. das erste Reis der bald so reich aufgeblühten romantischen Epik in Deutschland dem alten Baum der legendarischen und nationalen Epik aufimpfte; seine Vorgänger kamen über Ansätze nicht heraus. Er schenkte damit der Neigung der Zeit, sich in höfischen Liebesgeschichten zu ergehen, eine neue Welt. Schon sein französischer Vorgänger hatte den Vergil im Sinne der ritterlichen Romantik modernisirt und die Erwähnung der Lavinia zu einem ganzen Roman ausgedehnt. Auf diesen Pfaden schritt V. in seiner sehr geschickten Bearbeitung weiter. Consequenter als sein Vorbild schiebt er die heidnische Götterwelt zurück, verweilt mit Behagen in der Ausmalung psychologisch-interessanter Zustände, der Liebe vor allem, aber auch der Furcht und der Hoffnung, der Ueberraschung, beschreibt bei jeder Gelegenheit höfischen Prunk und ritterliche Tapferkeit. Die socialen Verhältnisse, den Rechtsgebrauch, die Tracht übersetzt er in deutsche Art, wie einst der Helianddichter, wie später Wieland, mit dem er sich auch sonst mannigfach berührt. Auch auf die nationale Sage nimmt er (wie sein Verehrer Wolfram) gern Bezug, läßt den Schatten des Anchises beim Hahnenkr��hen entschwinden, zählt sagenberühmte Schwerter auf und spielt vielleicht auf die wilde Jagd an, erinnert sich (in seinen Liedern) des mythischen Zusammenhangs zwischen dem Adler und dem Winde. Als charakteristisch für die naive Anpassung an alte Formeln hat man es mit Recht hervorgehoben, daß Aeneas, um die Stelle zum Burgbau auszusuchen, auf einen hohen Berg reitet, während es bei Vergil heißt: ipse humili designat moenia fossa. – Ueber den Werth des Gedichtes hat Gervinus mit einer Härte geurtheilt, die das Extrem unhistorischer Betrachtung darstellt. Es ist richtig, daß V. kleine „Fündlein“ überschätzt und z. B. das Buchstabiren des geliebten Namens, das sein lateinisches Vorbild nur Einmal hat, geschmacklos wiederholt, übrigens nicht ohne Verbesserung seiner französischen Quelle; es ist richtig, daß die heroische Dido bei ihm „zum unbedeutenden Backfisch“ wird und die Gestalten der Unterwelt alle düstere Größe verlieren, um sie gegen den Eindruck grotesker Zerrbilder einzutauschen. Aber das große Gespräch über die Minne zwischen Lavinia und der Königin versucht zum ersten Male in Deutschland, vage Allgemeinheiten durch eine Sammlung psychologischer Einzelzüge zu ersetzen, und Lavinia’s Hangen und Bangen ist anmuthig geschildert; Scenen, wie die Rathsversammlung des Königs Latinus, (für die dem Dichter die alte Uebung deutscher Epiker in der Vorführung solcher Berathungen und vielleicht auch eigene Erfahrung zu Gute kam), sind anschaulich vor Augen gestellt und der Gegensatz des derben Kriegers und des schlachtscheuen Hofmannes (Turnus-Drances) ist mit einer den Franzosen übertreffenden Kunst, die dauernd weiterwirkte (Kingrimurzel-Liddamus bei Wolfram, Gawein-Keie bei Hartmann) ohne zu arge Uebertreibung gezeichnet. Ueberhaupt versteht sich V. leidlich auf die Abstufung der Charaktere, besser aber noch auf die Disposition der Handlung. Eine überlegt fortschreitende Erzählung mit gutgewählten [568] Ruhepunkten, leichte moralische Einstreuungen, gelegentlich ein gutmüthiger Scherz zeigen völlig den Charakter jener guten rheinischen Erzählerkunst, die in Hebel ihren liebenswürdigsten Vertreter gefunden hat. Dazu ist die Sprache auch in der Wortwahl sorgfältig, der Reim ohne Pedanterie rein; Alliteration und Onomatopöie werden gelegentlich nicht ungeschickt verwandt. Der Fortschritt gegenüber keineswegs verdienstlosen Dichtungen wie Rolandslied und Alexander ist jedenfalls ein bedeutender, die Anpassung an die modernen Interessen auf dem Gebiet der inneren und äußeren Form eine wohlgelungene, und wir haben keinerlei Grund, so sachverständige Urtheile wie die Wolfram’s und Gottfried’s zu verwerfen.

Die Lieder Veldeke’s sind wie die Enit in seinem heimischen Dialekt gedichtet. Ihr Charakter stimmt völlig zu dem unseres Epos. Auch hier ist „hovesch“ das Schlagwort, ohne daß volksthümliche Anklänge und sogar Derbheiten ausgeschlossen wären; hier wie dort finden wir Betrachtungen über das Wesen der Minne, die im Grund mehr dem klaren Verstand des Dichters als seinem heiterkühlen Herzen entspringen. In der Verskunst tritt V. auch hier als Neuerer auf, besonders durch seine Vorliebe für den Halbvers von zwei Hebungen; gelegentlich zerspaltet er auch im Epos eine Zeile in zwei solche Halbverse. Auch seine Lyrik hat Schule gemacht; die Dichter Adelnburg, Botenlauben, Tiufen, Heinrich von Meißen, Hesso von Rinach, Toggenburg, Frauenberg, Otto von Brandenburg, vielleicht auch der bedeutendere Heinrich von Morungen scheinen Einfluß Veldeke’s zu verrathen, womit seine Wirkung über das ganze dreizehnte Jahrhundert und fast über alle Provinzen des Minnesangs festgestellt wäre. Doch hat sein gleichzeitiger Nebenbuhler, der oberrheinische Sänger Friedrich von Hausen, noch stärker Schule gemacht; von beiden gehen zwei verschiedene Richtungen des höfischen Minnesangs aus, indem V. Anschluß an volksthümliche Dichtung und Denkart pflegt, Hausen sie vermeidet.

Scherer hat die Lieder Veldeke’s zu einem kleinen Roman geordnet. Chronologische Folge der Entstehung ist damit wol schwerlich erwiesen; eher wäre anzunehmen, daß V. (wie Dietmar von Aist) seine Gedichte bei der Sammlung selbst zu einer Liebesgeschichte gruppirte, die Abstufungen und Schwankungen wie Lavinia’s Roman zeigt. Er wäre dann ein Bahnbrecher auch für jene Neigung, „Poesie zu erleben“, die in Ulrich von Liechtenstein sich selbst überschlug.

Aus diesen sicheren Werken ergibt sich ein deutliches Bild der Persönlichkeit. Ein älterer geistlicher Herr von nicht geringen Kenntnissen und vieler Weltgewandtheit, dessen halb schalkhafte, halb sentimentale Galanterie an der wiederholt ausgesprochenen Anschauung, jede Leidenschaftlichkeit sei eine Thorheit, ihre natürlichen Grenzen findet; eine realistische Natur, die Allegorien des französischen Vorbildes unter den Tisch fallen läßt und über Minne und Fröhlichkeit trockene Erfahrungsätze zum besten gibt; ein Freund der Natur, aber auch der Eleganz, und dennoch nicht ohne Reste schulmeisterlichen Wesens z. B. darin, daß er gern die Ruthe im Gleichniß gebraucht, daß er seine Helden und die Liebhaber seiner Zeit hofmeistert – so steht ein keineswegs genialer, aber liebenswürdiger, in seiner Kunst sicherer Mann vor uns. Will man in seiner eigenen Art seinen Charakter ins Neuhochdeutsche übersetzen, so mag man neben Wieland und Hebel J. H. Voß als einen Vertreter ähnlicher psychologischer Zusammensetzung (freilich mit Abzug der Eleganz) nennen. V. war sicher ein Mann, dessen Wissen sein Können überstieg; er kannte Ovid und Statius und war vielleicht im Stande, zur Verbesserung Benoit’s auf Virgil zurückzugreifen; er war auch mit dem Bedeutendsten aus der älteren deutschen Dichtung vertraut. Vor allem kannte er die Welt und war allen Extremen abgeneigt. Daß man ihm mit Unrecht „exclusive aristokratische Haltung“ vorwirft, beweist schon der halb [569] volksthümliche Charakter seiner Lyrik; und die oft verwerthete Stelle En. 6426 verliert völlig ihre Schärfe, wenn man bedenkt, daß „klagen“ der officielle Kunstausdruck für das vorschriftsmäßige Jammergeschrei beim Tode eines vornehmen Mannes ist: „wäre es üblich, auch um Schildknechte ein Trauergeschrei anzustimmen, so wäre da viel Jammer zu hören gewesen“. Selbst für den feigen Drances hat V. nur Ironie, keine rittermäßige Entrüstung; er begreift ihn immerhin, denn seine Helden in der Enit und er selbst in den Liedern versichern gern, welche Freude sie am Leben haben und wie ungern sie sterben möchten.

Zu diesem Charakterbild scheint nun der „Servatius“ keineswegs zu stimmen, eine Legende, deren erster Theil (3254 Verse) das Leben des Heiligen erzählt und zuerst selbständig auftrat, während der zweite (2974 Verse) die Geschichte seiner Reliquien und die posthumen Wunder vorträgt. Dennoch gilt seit längerer Zeit der Servatius unangefochten als Bruder der Enit und der Lieder. Behaghel (S. CLXV) meint, neben ganz unbedeutenden Abweichungen herrsche auf allen Gebieten bis in die kleinsten Einzelheiten hinein vollständige Uebereinstimmung. Aber zunächst ist das nicht einmal für Sprache und Verskunst völlig richtig, da sich (besonders in der Wort- und Reimwahl) doch Abweichungen zeigen, die keineswegs ganz unbedeutend sind; so fehlen Lieblingsreime Veldeke’s und der für ihn charakteristische häufige Gebrauch der Comparative und verwandter Formen im Versschluß der Legende fast gänzlich. Dann aber würde sogar die sprachliche und metrische Uebereinstimmung nicht allzuviel beweisen, da beide Autoren der gleichen Heimath und ungefähr derselben Zeit angehören müssen, da der berühmte Dichter von einem unbedeutenden Landsmann eifrig studirt werden konnte, da endlich Veldeke’s Sprache und Verskunst sehr wenig individuelle Züge aufweisen. Von diesen wenigen aber hat die Legende fast nichts; eine Formel, deren gemeinschaftlichen Besitz Behaghel (S. CXXVI) als besonders wichtig hervorhob, ist nach Franck (bei Lichtenstein S. 19) auch in andern mittelniederländischen Dichtungen beliebt. Was aber Behaghel (S. CLXVI f.) von wörtlichen Uebereinstimmungen bringt, ist fast durchweg rein formelhafter Natur und läßt sich auch sonst durch die Annahme der Nachahmung (wie in den analogen Uebereinstimmungen z. B. bei Eilhard von Oberge) viel besser erklären. – Während nun aber in Sprache und Metrik V. regelrecht ist, ohne eigenthümlich zu sein, zeigen Stil und Haltung bei ihm sehr entschiedene Eigenart, und hier widersprechen die Lieder und die Enit der Legende geradezu. Der Dichter der Enit neigt überall zur Breite, auch zur Wiederholung, zu moralischen und humoristischen Ruhepunkten; die Legende schreitet in monotoner Dürre fort. Veldeke’s Liebhaberei für kostbare Beschreibungen gab schon Wolfram und dem Autor des „Mauricius von Craûn“ Stoff zu neckenden Anspielungen; die Legende läßt alle Gelegenheiten zu solchen Schilderungen fast absichtlich vorbeigehen, während eine gleichzeitige oberdeutsche Dichtung gleichen Inhalts sie eifrig benutzt. V. besitzt eine ruhige gehaltvolle Frömmigkeit, die sich mehr gelegentlich (z. B. in der Art, wie er über Dido’s Selbstmord spricht) als in directen Aeußerungen verräth; der niederländische Servatiusdichter ist ein Zelot der z. B. bei dem Ketzergericht über Euphrates von Köln ausnahmsweise breit und scharf wird, während der Oberdeutsche sich kürzer und milder faßt. Hätte dieser für den Ruhm von Maestricht und seines Patrons entflammte Prediger es sich nehmen lassen, bei Erwähnung Christi am Schluß seiner Enit dessen angeblichen Verwandten Servatius zu erwähnen? Und hätte der Dichter der Enit, wenn er mit der lat. Vita von dem Adler zu erzählen hat, der seinem Heiligen Wind zuwehte, eine volksthümliche Anspielung versäumt? Fast möchte man sagen, die namenlose oberdeutsche Legende könne eher als die unserem Dichter zugeschriebene von ihm stammen: sie zeigt doch erzählerische Gewandtheit, bedeutende Gelehrsamkeit, [570] Freude an Schmuck und Prunk; auch Einzelheiten wie jene Comparativ-Reime und das häufige Thränenvergießen erinnern an die Enit. Doch verbietet schon die rein hochdeutsche Sprache eine solche Annahme, das Gedicht scheint in Baiern (etwa in Augsburg, wo Servatius einen Cultus besaß) entstanden. Aber es kann uns anschaulich machen, wie etwa der Dichter der Enit den Stoff behandelt hätte.

Da nun die Legende in ihren beiden Epilogen einen Heinrich als Autor nennt, der von Veldeke geboren war (wie der zweite hinzusetzt), so kann man sowol annehmen, daß dies ein anderer Angehöriger desselben Geschlechtes sei. als daß er nur dem gleichen Ort angehörte. Die Wiederkehr des Namens Heinrich ist umsoweniger auffallend, als die Verehrung der sächsischen Fürsten für Servatius diesen Namen im Gebiet von Maestricht beliebt machen mußte; und durch diese erklärt es sich auch, daß der Autor der Legende wie der der Enit nach dem Harz kam, etwa bei einer Pilgerfahrt zu allen Weihestätten seines Patrons. Eben wegen dieser Beziehungen des Heiligen zu Quedlinburg und Goslar würde aber auch unbegreiflich bleiben, daß die Thüringer Veldeke’s Legende nicht ebenfalls hochdeutsch hätten umschreiben lassen, und daß sie in der höfischen Dichtung gar keine Spuren hinterlassen hätte. Entschließt man sich trotz all diesen schwerwiegenden Bedenken, nur einen Heinrich von Veldeke anzunehmen, so müßte man den Servatius wol in sein Alter setzen, wo er müde und traurig, zelotisch und weltfremd geworden wäre. Einen leisen Fingerzeig auf zunehmende Orthodoxie könnte man auch schon in der Eneide darin sehen wollen, daß er gegen Ende des Epos mehr als sonst von den „Göttern“ zu reden vermeidet und auch die Heiden „Gott“ anrufen läßt. Die beiden Epiloge wären dann Nachahmungen der Schlußrede des großen Epos. Die umgekehrte Annahme scheint kaum möglich; auch der Versuch einer Erklärung durch Interpolation des ersten Epilogs ist abzuweisen und zur Verdächtigung aller Heinrich in der Legende nennenden Stellen liegt genügender Grund nicht vor.

Endlich erwähnt noch der belesene aber etwas confuse Verfasser des „Mauricius von Craûn“ ein Gedicht Veldeke’s, in dem die Liebesnoth des König Salomo geschildert werde. Ein solches Gedicht könnte für die, welche Servatius und Eneide demselben Verfasser zuschreiben, die Brücke von der frommen zur minniglich-höfischen Poesie bilden, wie das Hohe Lied wiederholt der weltlichen Liebeslyrik neue Geltung verschafft hat. Wahrscheinlich hat aber der unbekannte Dichter nur einen berühmten Liedvers Veldeke’s (auf den auch Wolfram einmal anspielt) mit Situationen aus der Enit zusammengebracht. Eine Minnedichtung Heinrich’s von V. wäre schwerlich verschollen. Zeugnisse für seine Bedeutung sind immerhin auch solche Stellen: König Salomo, auf seinem prachtvollen Bett sich in ruheloser Liebesqual wälzend. das war ein Motiv, dessen Behandlung man nur ihm zutraute. Wie die Malerschule seiner Heimath, so hat seine Dichtung durch ihre lang wirkenden Anregungen eine historische Bedeutung, die ihren objectiven Werth weit überragt; ohne V. wäre unsere höfische Dichtung nicht, was sie mit Hartmann, Wolfram, Gottfried geworden ist.

Text: Eneide (mit Einleitungen und Anmerkungen,) hrsg. von O. Behaghel, Heilbronn 1882 (vgl. Edw. Schroeder, D. Lit. Z. 1882, Nr. 16. Kinzel, Zeitschr. f. d. Ph. 14, 106 f. Lichtenstein Anz. f. d. A. 9, 8 f). – Inhaltsübersicht: P. Piper, Höfische Epik I (Kürschner’s D. Nat. Lit. B. 189) S. 244 f. Foá, Enrico di Veldeke. Parma 1892. – Lieder: Minnesangs Frühling, hrsg. von K. Lachmann und M. Haupt, IX (in der mittelhochdeutschen Umschrift des Hrsg.); Piper, a. a. O. S. 66 f. (im Dialekt). – Servatius, hrsg. von J. H. Bormans, Maestricht 1858; von Piper, a. a. O. S. 51 f. Bruchstücke [571] einer anderen Hdsch. W. Meyer, Zeitschr. f. d. A. 27, 146 f. B. Schulze, ebenda 34, 218 f. (Die oberdeutsche Legende, hrsg. von M. Haupt, Zeitschr. f. d. A. 5, 75 f., Bruchstücke einer anderen Hdsch. von Frommann, Zeitschr. f. d. Ph. 18, 458).

Zur Gestaltung und Erklärung des Textes: Für die Eneide Braune, Zeitschr. f. d. A. 16, 420 f.; für die Lieder: Paul, P. B. Beitr. 2, 421 f.; für den Servatius: Bartsch, Germ. 5, 406 f. Lambel, Germ. 23, 190 f.

Biographisches: Behaghel a. a. O. S. CLVIII f., wo auch weitere Lit. – R. v. Muth, H. v. V. und die Genesis der romantischen und heroischen Epik. Sitzungsberichte des Wiener Akademie 1880 XCV, S. 613 f. – Zu dem Namen Veldeke: Litt. bei Piper, S. 58 Anm. 1. Culturelle Verhältnisse seiner Heimath: Lamprecht, Deutsche Geschichte 3, 189 f. – Allgemeine Würdigung: v. Muth, a. a. O. Behaghel. S. CLXXIV f., ferner besonders Uhland’s Schriften 2, 101 f. Gervinus 1, 260 f., 452 f. Scherer, S. 145 f. – Sprache: Pfeiffer, Germ. 3, 499 f. Bartsch, Germ. 5, 421 f. Behaghel, S. XXXVIII f. Franck bei Lichtenstein S. 6 und besonders Braune, Zeitschrift f. d. Ph. 4, 249 f. – Stil: v. Muth, a. a. O. S. 645 f. Behaghel, S. CXXI f. Roetteken, Die epische Kunst Heinrich’s v. V. und Hartmann’s v. Aue, Halle 1887 (vgl. Lit. Bl. f. germ. u. röm. Phil. 9, 527). – Metrik: v. Muth, a. a. O. S. 643 f. Behaghel S. CXI f. – Chronologie der Werke: Lachmann zu Iw. 6943. Müllenhoff, Zeitschrift f. d. A. 14, 136. Lehfeld, P. B. Beitr. 2, 35. v. Muth, a. a. O. S. 623 f. Behaghel, S. CLX f.; andere Lit. bei Piper, S. 59 Anm. 1.

Zur Eneide: Veldeke und Virgil: Cholevius, Gesch. d. d. Poesie 1, 102 f. Wörner, Zeitschrift d. Ph. 3, 106 f. Foá, a. a. O. – V. und Bénoit de St. Marc: Alex Pey, Essai sur les romans d’Enéas, Paris 1856. Derselbe Jahrb. f. rom. u. engl. Lit. 1860, 1 f.; vgl. auch Kauffmann, Zeitschr. f. d. A. 33, 251 f. (Ueber Bénoit: G. Paris, La litt. française au Moyen–âge S. 76 f.).

Zu den Liedern: Uhland, Schriften 5, 204 f. Scherer, Deutsche Studien 2, 121 f. Paul, P. B. Beitr. 2, 471 f. Burdach, Walter und Reinmar S. 33 f., 59 f. Wilmanns, Leben Walthers. S. 21.

Zum Servatius: Bartsch, Germ. 5, 406 f. Braune, Zeitschr. f. d. Ph. 4, 301 f. – Die Autorschaftsfrage: Jonckbloet, Gesch. d. niederländ. Lit. 1, 90 f. Martin, Anz. f. d. A. 1, 222 f. Behaghel, Germ. 25, 118 und in seiner Ausg. S. CLXIV f. (auch S. CXXVI, vgl. Lichtenstein a. a. O. S. 19). (Zum oberdeutschen Servatius: Greifeld, Servatius. Diss. Berlin 1887. Scherer, Gesch. d. d. Dichtung im 11. und 12. Jahrh. S. 100. v. Muth, a. a. O. S. 655 f.)

Zu Salomon und der Minne: Haupt zu M. F. 66, 16. Behaghel, S. CLXXXVII. Kinzel, Zeitschr. f. d. Ph. 4, 110. Lichtenstein, Anz. f. d. A. 9, 21.

Verhältniß zu späteren Dichtern: Eilhart v. Oberge vgl. Lichtenstein in s. Ausg. S. CLXXXVII f. Behaghel, S. CLXXXVIII f., ferner Roediger, Anz. f. d. A. 1, 78. Lichtenstein, Zeitschr. f. d. A. 26, 13 f. Edw. Schroeder, a. a. O. Kinzel, a. a. O. S. 111. Lichtenstein, Zeitschr. f. d. A. 9, 27. – V. und Hartmann: Roetteken a. a. O. – Allgemein: v. Muth, S. 645 f. Behaghel, S. CLXXXVI f. Lichtenstein, a. a. O. S. 24 f.