Röntgenstil

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Felszeichnung im Röntgenstil im Kakadu-Nationalpark, Australien
Darstellung eines Kängurus im Röntgenstil der australischen Aborigines. Anbangbang Rock Shelter, Kakadu National Park
Elch von Åskollen

Röntgenstil bezeichnet in der paläolithischen, mesolithischen und (seltener) neolithischen Felsbildkunst die Darstellung gravierter oder gemalter Tiere, seltener Menschen in einer Art technischer Zeichnung mit inneren Organen wie Herz, Lunge, Leber, Nieren, Magen, Därmen und After, insbesondere aber Knochen. Der Grund für diese Darstellungsweise, die weltweit in mehreren zeitlich und räumlich weit voneinander entfernten Kulturen auftritt, ist umstritten.

Der Stil ist vor allem in Jäger-und-Sammler-Kulturen über die Welt verbreitet und findet sich in seinen ältesten Formen in den mesolithischen Felsbildern Skandinaviens,[1] besonders jedoch bei den Aborigines in Australien, neolithisch in der Linienbandkeramischen Kultur (5800–4500 v. Chr.), in China und der Inneren Mongolei sowie in der indianischen Kunst Nordamerikas, in Sibirien, West-Neuguinea, Neuirland, Indien und Malaysia, in Südfrankreich und Nordspanien. Die zeitliche Einordnung ist dabei bei Felsbildern, außerordentlich schwierig.[2]

Bekannt ist der Röntgenstil vor allem durch die Fels- und die Rindenbilder der Aborigines, in der sich große, mehrfarbige Röntgendarstellungen von Emus, Fischen, Känguruhs und Schildkröten finden. Diese traditionelle Kunstform der Aborigines findet sich in Felsenhöhlen, an Felsenüberhängen und vor allem auf Baumrinden. Bilder im Röntgenstil stammen vorwiegend aus dem westlichen Arnhemland und entstanden in den letzten drei Jahrtausenden vor dem Hintergrund einer paläolithischen Kultur. Die Darstellungen sind bis zweieinhalb Meter groß und polychrom. In Northern Australia wurden die Umrisse oft mit weißer Farbe und die inneren Flächen mit roter oder gelber Farbe gemalt. Die erdfarbenen Pigmente bestehen aus Ocker, schwarze Pigmente aus fein gemahlener Holzkohle.[3] Es gibt Bilder, in denen lediglich Skelett und Körperumriss wiedergegeben sind, das gesamte innere Organsystem jedoch durch eine Lebenslinie symbolisiert wird, die als gerade Linie vom Maul des Tieres bis zu einem Punkt verläuft, der Herz oder Magen darstellen soll. Bei den Rindenbildern ist der Röntgenstil die häufigste Darstellungsform.[4]

Zahlreiche Bilder der Aborigines im Röntgenstil wurden 1948 von der American-Australian Scientific Expedition to Arnhem Land bei Oenpelli dokumentiert. Dort entwickelte sich in den 1960er Jahren eine Künstlerbewegung dieses Stils.[5] Eine Galerie, in der Bilder im Röntgenstil ausgestellt sind, befindet sich bei Ubirr und eine weitere in Injaluk, in der Nähe von Oenpelli.

In Osttimor gibt es Fischbilder im Röntgenstil in der Höhle von Lene Hara.[6]

In Skandinavien finden sich die ältesten Beispiele von Röntgendarstellungen auf Knochen. Bekannt ist die Darstellung eines Elchs mit seinen inneren Organen in Buskerud, Norwegen (4500–3000 v. Chr.), die als Wiedergeburtritus gedeutet wird.[7]

In der Linearbandkeramischen Kultur wurden im Röntgenstil auf tönernen Menschenfiguren Skelette angedeutet, etwa Schulterknochen, Wirbelsäule und Rippen und auf der Fußsohle eines Beines die Fußknochen.

In der Felskunst Chinas sind Tiere samt ihren Knochen dargestellt, in der Inneren Mongolei findet sich sogar eine zwei- bis dreitausend Jahre alte Tierdarstellung in Wulata, bei der die Tierform ausschließlich durch die Knochen wiedergegeben ist.[8]

In Afrika finden sich keine eindeutigen Belege für den Röntgenstil.[9] In der frankokantabrischen Höhlenkunst ist er ebenfalls nicht vertreten.

Erklärungsversuche

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Es gibt drei spekulative Erklärungen:

  1. Die eingezeichneten inneren Organe und Knochen sind vor allem als praktische Anleitung zum Zerlegen zu verstehen.[10]
  2. Die Körperstrukturen dienten zur Unterrichtung der Jugend, um sie auf die Jagd vorzubereiten, etwa um die tödlichen Treffpunkte zu kennzeichnen. Vor allem in der frankokantabrischen Höhlenmalerei finden sich auch zahlreiche Tierdarstellungen ohne Röntgenaspekte, die Einschussmerkmale aufweisen oder auf denen sogar Pfeile und Speere eingezeichnet sind. Der Röntgenstil könnte eine Art didaktische Erweiterung gewesen sein.
  3. Jagdmagische Aspekte: Vor allem im Schamanismus der Jäger und Sammler gab es den Glauben, die Beute sei eine Gabe des Herrn oder der Herrin der Tiere. Diesen musste man aber die Knochen des erlegten Wildes wieder zurückgeben, damit sie daraus neue Tiere erschaffen konnten.[11]
  • Emmanuel Anati: Felsbilder. Wiege der Kunst und des Geistes. U. Bär Verlag, Zürich 1991, ISBN 3-905137-33-X
  • Chen Zhao Fu: China. Prähistorische Felsbilder. U. Bär Verlag, Zürich 1989, ISBN 3-905137-19-4
  • Dietrich Evers: Felsbilder – Botschaften der Vorzeit. Urania Verlag, Leipzig 1991, ISBN 3-332-00482-4
  • David Lewis-Williams: The Mind in the Cave. Consciousness and the Origins of Art. Thames & Hudson Ltd., London 2004, ISBN 0-500-28465-2
  • Richard Nile, Christian Clerk: Weltatlas der alten Kulturen: Australien, Neuseeland und der Südpazifik. Geschichte Kunst Lebensformen. Christian Verlag, München 1995, ISBN 3-88472-291-3
  • Louis-René Nougier: Die Welt der Höhlenmenschen. Artemis Verlag, Zürich 1989, ISBN 3-7608-1008-X

Einzelnachweise

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  1. Auf dem lebensgroßen Abbild eines Elches auf dem Hof Åskollen bei Drammen in Südnorwegen, gibt die Zeichnung das Innere des Tierkörpers wieder: Herz, Lunge, Leber und Nieren sind schematisch wiedergegeben, aber auch Labmagen, Blättermagen, Pansen, die Därme in Spiralen und der After.
  2. Hoffmann, S. 323; The New Encyclopedia Britannica. 15. Aufl. Encyclopedia Britannica, Chicago 1993, ISBN 0-85229-571-5, Bd. 12, S. 792 f.
  3. Jennifer Wagelie: X-ray style in Arnhem Land Rock Art. The Metropolitan Museum of Art
  4. Denis Vialou: Frühzeit des Menschen. C.H. Beck, München 1992, ISBN 3-406-36491-8, S. 402; Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. 19. Aufl. F.A. Brockhaus, Mannheim 1994, ISBN 3-7653-1200-2, Bd. 18, S. 549.
  5. Arnhem Land, 1948, Oenpelli. State Library, South Australia
  6. Christopher D. Standish, Marcos García-Diez, Sue O’Connor, Nuno Vasco Oliveira: Hand stencil discoveries at Lene Hara Cave hint at Pleistocene age for the earliest painted art in Timor-Leste, Archaeological Research in Asia, 18. März 2020.
  7. Evers, S. 53.
  8. Chen Zhao Fu, S. 191.
  9. Vgl. Striedter.
  10. Hoffmann, S. 323.
  11. Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen. Herder Verlag, Freiburg 1978, ISBN 3-451-05274-1, Bd. 1, S. 19; Klaus E. Müller: Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. 3. Aufl. Beck, München 2006, ISBN 3-406-41872-4, S. 17f, 116; Mihály Hoppál: Das Buch der Schamanen. Europa und Asien. Econ Ullstein List, München 2002, ISBN 3-550-07557-X, S. 45.