Nisko-Plan

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Jüdische Zwangsarbeiter in einem Arbeitslager (1940)
Konzentrations- und Vernichtungslager im Raum Lublin (1939)
Karte des Generalgouvernements (1939)

Der Nisko-Plan oder Nisko-Lublin-Plan zielte auf die Schaffung eines „Judenreservates“ um Nisko und Lublin zwischen dem Bug und dem San Ende September und im Oktober 1939, kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen, in das möglichst alle Juden aus Deutschland, Österreich und von der Wehrmacht besetzten Gebieten deportiert werden sollten.

Förderer des Plans, der kurz vor dem 21. September 1939 von Hitler genehmigt wurde, waren führende Ränge des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Reinhard Heydrich, Gestapo-Chef Heinrich Müller und Kripo-Chef Arthur Nebe; Protagonist war aber Adolf Eichmann, Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien (für das angeschlossene Österreich), seit dem 16. März 1939 auch der Zentralstelle in Prag (für das Protektorat Böhmen und Mähren) und Chef des nach ihm benannten Amtes (IV B 4 für „Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten“). Die geplante Deportation so vieler Menschen in ein relativ kleines Gebiet durch diese späteren Haupttäter des Holocaust beabsichtigte damals schon den Tod vieler Deportierter, wie auch einige überlieferte Andeutungen erkennen lassen.

Der Plan scheiterte Ende Oktober 1939 am Widerstand regionaler Militärverwalter der Wehrmacht und neu eingesetzter NS-Kreisdienstleiter, die gerade mit Übergriffen und Pogromen gegen die einheimische jüdische Bevölkerung begonnen hatten, gilt aber als Vorstufe für die „Endlösung der Judenfrage“. Praktisch durchgeführt wurde für diesen Plan die Errichtung eines „Durchgangslagers“ in Zarzecze bei Nisko mit Deportierten aus Wien, Mährisch-Ostrau und Kattowitz, das erst im April 1940 wieder aufgelöst wurde.[1]

Am 21. September 1939 beorderte Adolf Hitler den Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich und die Leiter der Einsatzgruppen aus dem neu eroberten Polen zu sich nach Berlin zum Rapport. Hitler hieß ein „Judenreservat“ an der Ostgrenze des Deutschen Reiches gut. SS-Sturmbannführer Adolf Eichmann war an der Konferenz anwesend und nahm sich dieser Aufgabe mit Eifer persönlich an. Er veranlasste am 9. Oktober desselben Jahres, südwestlich von Lublin ein Barackenlager zu bauen.[2] Dies sollte als Durchgangslager dienen. Von der Wiener jüdischen Gemeinde forderte er eine Liste mit 1000 bis 1200 Arbeitern, bestehend aus Tischlern, Zimmerleuten und Mechanikern, anzufertigen und diese für 4 Wochen für einen Aufenthalt in Mährisch-Ostrau abzukommandieren. Wien, so versprach Eichmann, sollte so binnen eines Dreivierteljahrs „judenfrei“ gemacht werden. Zwischen dem 12. und dem 15. Oktober 1939 suchte Eichmann zwischen Krakau und Warschau einen Standort für sein Lager. Er fand es in Nisko am Fluss San.[3]

Zwischen dem 19. und dem 20. Oktober kamen drei Transportzüge mit 901 Deportierten aus Mährisch-Ostrau, 912 aus Wien und 875 aus Kattowitz in Nisko an. »Am 17. Oktober wurden die Ostrauer Männer jüdischer Abstammung in die Reitschule in Ostrava einberufen. Es wurde ihnen gestattet, je ein Gepäckstück im Gewicht von ungefähr 50 Kilogramm mitzunehmen. Von dort wurden sie auf den Bahnhof in bereitgestellte Waggons gebracht. Dort, in diesen Waggons, verbrachten sie die erste Nacht. Am folgenden Tag wurden sie über Bohumin und Krakow in die Station Nisko am San überführt. Kommandant des Transportes war SS-Sturmbannführer Post. Am 19. Oktober 1939 wurden wir nach unseren Berufen gruppiert. Der Transportkommandant hatte besonderes Interesse für Baumeister und Ärzte. Auch ich, als Baumeister, trat aus dem Transport aus. Einige Minuten später trat Adolf Eichmann vor uns. Er sprach kurz und erteilte uns knappe Befehle, wie das Lager gebaut werden sollte. Er legte auf die Errichtung eines Maschinengewehrturmes inmitten des Lagers Gewicht.« berichtete Izidor Zehngut aus Ostrava.[4]

Eichmann bezeichnete die Anlage gegenüber der jüdischen Gemeinde Wien zynisch als „Umschulungslager“ und malte ein rosiges Bild von einer neuen Existenz der Juden im Osten.[5] Die Realität sah anders aus: Aus den Deportierten wurden die Arbeiter ausgesondert. Diese mussten auf einer aufgeweichten Wiese nahe Zarzecze ein Barackenlager errichten. Die Anderen wurden freigelassen, mit der Drohung, ja nicht wieder zurückzukommen. Der Arzt Eduard Taskier berichtete über die Pläne Eichmanns: „Zum erstenmal traf ich mit Eichmann in Ostrava zusammen, wo er im Oktober 1939 Transporte jüdischer Männer nach Nisko organisierte. Schon in Ostrava wurde uns gesagt, daß Adolf Eichmann der Chef des Amtes IV B 4 zur endgültigen Lösung der Judenfrage in Berlin sei. Eichmann erteilte den Befehl zur Schließung aller jüdischen Geschäfte und Gewerbe, und das dort befindliche Eigentum wurde auf seine Anordnung hin verladen und gemeinsam mit den Transporten jüdischer Personen nach Nisko gebracht. Zum zweitenmal sah ich Eichmann schon direkt in Nisko, wohin er mit einem Personenkraftwagen gekommen war. Dies war am 19. Oktober 1939. Daraus, was Adolf Eichmann sagte, erkannte ich, daß es sich nicht um irgendein Umsiedlungslager handelte, sondern daß es sich in Wirklichkeit um die Liquidierung großer Bevölkerungsgruppen handeln werde, zu der es im Raum zwischen den Flüssen San und Bug kommen sollte. Eichmann selbst erklärte, daß in diesem Raum ungefähr 1,5 Millionen Menschen konzentriert werden sollen.“[4]

Der stellvertretende Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und spätere „Judenälteste“ im Ghetto Theresienstadt, Benjamin Murmelstein, der mit anderen Funktionären aus Wien, Prag und Mährisch Ostrau in das Lager Zarzecze deportiert wurde, gab in einem Interview mit Claude Lanzmann an, dort die Rede des Verantwortlichen Adolf Eichmann am 19. Oktober 1939 gehört zu haben, in der Eichmann den Halbsatz „...denn sonst...“ (Eichmann lächelte) „...heißt es eben sterben.“ sagte. Murmelstein bekam zusammen mit einer vorherigen Begegnung mit jüdischen Zwangsarbeitern bei der Bahn in Krakau („Sie haben einen angesehen mit toten Augen!... Man hat sich gegenseitig alles gesagt.“) den Eindruck, dass Eichmann und die Verantwortlichen in Polen nicht die behauptete Zwangsarbeit, sondern bereits die Vernichtung anstrebten. Murmelstein überschrieb das erste Kapitel seiner Erinnerungen an Theresienstadt in italienischer Sprache, das sich mit dem Nisko-Plan beschäftigte, „Altrimenti tocca morire“ (Sonst heißt es eben sterben); die Rede konnte Eichmann im Eichmann-Prozess aber nicht nachgewiesen werden, weil man glaubte, sie sei in Nisko gehalten worden, nicht in Zarzecze, woraufhin Eichmann eine Rede in Nisko leugnete.[6] Lanzmann veröffentlichte Auszüge des Interviews in seinem Dokumentarfilm Der Letzte der Ungerechten von 2013.

Am 27. Oktober folgen weitere Transporte mit insgesamt 2072 Juden aus Kattowitz und Wien. Sie wurden nicht im Durchgangslager aufgenommen, sondern weitergetrieben. Reichsführer SS Heinrich Himmler stoppte das Experiment und gab als Grund dafür technische Schwierigkeiten an. Die Umsiedlung von Volksdeutschen aus den besetzten Gebieten, die ebenfalls in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, hatte für ihn Vorrang und nahm die verfügbaren Transportkapazitäten in Anspruch.[7]

Auflösung des Lagers

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Am 14. April 1940 bestiegen alle Lagerinsassen sowie einige andere Evakuierte, insgesamt 501 Personen, einen Zug und fuhren in die Heimatorte zurück. Sie hatten Entlassungsscheine bekommen, die vom Höheren SS- und Polizeiführer Krakau Karl Zech am 26. März ausgestellt worden waren. Diese Auflösung eines SS-Lagers durch „Repatriierung“ ist einzigartig; 198 Juden wurden sogar nach Wien zurückgebracht.

Im Befehl zur Auflösung des Lagers heißt es, das Lager werde von der Wehrmacht gebraucht.[8] Goshen nennt zudem noch eine „etwas triviale Hypothese“,[9] bei der Moshe Merin vom Judenrat in Sosnowiec[10] mit seinen außergewöhnlichen Beziehungen ins Ausland eine Rolle spielt.

Das Scheitern des Projekts hatte keine negativen Auswirkungen auf die Karriere Eichmanns, der zum zentralen Organisator der planmäßigen Judenvernichtung im Holocaust wurde.

Als Hauptakteur der Nisko-Aktion macht Seev Goshen den karrieresüchtigen Eichmann aus, der „ohne wirklich verbriefte Legitimation eine Funktion zu erschleichen versuchte“, wohl in der Hoffnung, ein Erfolg werde eine Belohnung und förmliche Bestallung mit sich bringen.[11] Bei der Durchführung der Aktion seien erhebliche regime-interne Informations- und Koordinationsdefizite deutlich geworden.[12]

Peter Longerich verweist auf Heinrich Müller als Auftraggeber, die Rückendeckung durch Walther Stahlecker und Vollmachten Josef Bürckels, die Eichmann von vorneherein große Spielräume gegeben hätten. Die Nisko-Aktion sei als erster experimenteller Schritt zu weit umfassenderen Deportationen zu werten. Longerich stellt dar, bei der Nisko-Aktion sei beabsichtigt worden, eine größere Menge von Juden über die Demarkationslinie zu treiben oder sie hilflos im Lubliner Gebiet auszusetzen. Der Bau eines Durchgangslagers habe nur als Tarnung gedient, es sei tatsächlich eine „wilde Vertreibungsaktion“ gewesen, die keineswegs auf organisatorischem Unvermögen beruhe. Das Gebiet zwischen dem geplanten Ostwall und der Demarkationslinie habe keine ausreichenden Existenzbedingungen geboten; die Vertreibung dorthin hätte kurzfristig den Tod vieler Deportierter bedeutet und langfristig kein Überleben ermöglicht.[13]

Nach Darstellung von Christopher Browning waren nicht Proteste des örtlichen Landrats, von Wehrmachtsdienststellen, von Hans Frank oder seitens der Sowjetunion für das abrupte Ende des Nisko-Experiments maßgeblich – alle diese Einwendungen erfolgten später. Der Befehl zur Einstellung dieser Deportationen kam eindeutig von Himmler persönlich. Vorrang habe die Suche nach Ansiedlungsraum für die Volksdeutschen in den annektierten polnischen Gebieten gehabt; darum habe die „Lösung der Judenfrage“ zurückstehen müssen.[14]

  • Christopher Browning: Die Entfesselung der "Endlösung". Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942. Propyläen, Berlin 2003, ISBN 3-549-07187-6.
  • Jonny Moser: Zarzecze bei Nisko. In: Der Ort des Terrors, Band 9, 2009, S. 588–596.
  • Jonny Moser: Nisko. Die ersten Judendeportationen. Hrsg. von Joseph W. Moser und James R. Moser. Edition Steinbauer, Wien 2012, ISBN 978-3-902494-52-8.[15]
  • Wolf H. Wagner: Der Hölle entronnen. Stationen eines Lebens. Eine Biografie des Malers und Graphikers Leo Haas. Henschel Verlag, Berlin 1987, ISBN 3-362-00147-5, S. 57–61.
  • Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-633-54162-4, S. 194–211.

Einzelnachweise

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  1. Seev Goshen: Eichmann und die Nisko-Aktion im Oktober 1939. Eine Fallstudie zur NS-Judenpolitik in der letzten Etappe vor der Endlösung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 29, 1981, S. 74–96.
  2. Christopher Browning: Die Entfesselung der Endlösung. München 2003, S. 65ff.
  3. Christopher Browning: Die Entfesselung der Endlösung. München 2003, S. 69.
  4. a b Wolf H. Wagner: Der Hölle entronnen. Stationen eines Lebens. Eine Biografie des Malers und Graphikers Leo Haas. Henschel, Berlin, 1987, ISBN 3-362-00147-5, S. 57.
  5. Christopher Browning: Die Entfesselung der Endlösung. München 2003, S. 70.
  6. Elfstündiges Interview Lanzmanns mit Murmelstein über seine Funktion in Wien und Theresienstadt von 1938 bis 1945 beim Steven Spielberg Film and Video Archive des United States Holocaust Memorial Museum (RG-60.5009, Tape 3158 – 3190), vgl. Tape 3167 bis Anfang Tape 3168.
  7. Christopher Browning: Die Entfesselung der Endlösung. München 2003, S. 73f.
  8. Sveen Goshen: Nisko – Ein Ausnahmefall unter den Judenlagern der SS. In: VfZ 40(1992), H. 1, S. 104 / Es handelte sich um das Pionierbataillon 231 der 231. Infanteriedivision.
  9. Sveen Goshen: Nisko – Ein Ausnahmefall unter den Judenlagern der SS. In: VfZ 40(1992), H. 1, S. 103ff, Zitat S. 109.
  10. Zur Rolle Merins und der Opposition vergl. Sybille Steinbacher: „Musterstadt“ Auschwitz. 2000, S. 296–301.
  11. Seev Goshen: Eichmann und die Nisko-Aktion im Öktober 1939. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29(1981), H. 1, S. 86.
  12. Seev Goshen: Eichmann ... In: VfZ 29(1981), H. 1, S. 74.
  13. Peter Longerich: Politik der Vernichtung - Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung , München 1998, ISBN 3-492-03755-0, S. 256–260.
  14. Christopher Browning: Die Entfesselung der 'Endlösung' – Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942, München 2003, ISBN 3-549-07187-6, S. 72–74.
  15. Brigitte Bailer: Letzte Publikation Jonny Mosers posthum erschienen. pdf, DÖW, Mitteilungen Mai 2012, S. 11.