Bestiarium

mittelalterliche Tierdichtung

Ein Bestiarium (Neutrum von lateinisch bestiarius ‚die Tiere betreffend, Tier-‘; von lateinisch bestia ‚[wildes] Tier‘)[1] ist eine mittelalterliche Tierdichtung, die moralisierend tatsächliche oder vermutete Eigenschaften von Tieren, auch Fabelwesen, allegorisch mit der christlichen Heilslehre verbindet.[2] Die Beschreibung von Geschöpfen wie zum Beispiel des Drachen, des Einhorns, des Basilisken und des Caladrius finden sich in den oft reich illustrierten Bestiarien zwischen den Darstellungen von Bären, Löwen und Elefanten.

Folio 7r aus dem Rochester-Bestiarium (13. Jahrhundert, British Library, Royal MS 12 F XIII)

Geschichte

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Vorläufer der Bestiarien war der Physiologus aus dem 2. Jahrhundert, der im 12. und 13. Jahrhundert z. B. durch die Bestiarien Philippe de Thaons, Guillaume le Clercs und Gervaise de Fontenays wieder populär wurde.

Otto Mazal schrieb 1978: „Die Tierallegorien, die allmählich Gemeingut des Volkes wurden, erfreuten sich im Mittelalter großer Beliebtheit. Der lateinische Prosatext wurde die Grundlage für die Bearbeitung des mittelalterlichen Bestiariums. Früheste Handschriften sind aus dem 8. bis 10. Jh. erhalten. Sie stellen verschiedene Rezensionen dar. Kein Bindeglied existiert zu den Bestiarien des 12. Jh.s, deren plötzliches Auftreten ein geistesgeschichtlich interessantes Phänomen darstellt. Die Bücher mochten als Teil der enzyklopädischen Tradition des 12. und 13. Jh.s gelten, wobei das neu erwachende Interesse an der Natur spezielle Berücksichtigung fand.“[3]

Wirkungen

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Mit Richard de Fournivals in Prosa verfasstem Bestiaire d’amour, das die Liebe Fournivals zu einer Dame allegorisch schildert, entstand das erste weltliche Bestiarium.

Im 19. Jahrhundert wurde von Aloys Zötl, einem Färbermeister der Donaumonarchie aus Oberösterreich, ein reich gestaltetes Bestiarium geschaffen.

Im 20. Jahrhundert wurde die Form des Bestiariums frei wieder aufgegriffen, u. a. von Guillaume Apollinaire mit Le bestiaire ou le cortège d’Orphée (1911) und Franz Blei mit dem „großen Bestiarium der modernen Literatur“ (1924). Heutzutage entwerfen viele Künstler ihre eigenen Bestiarien, mit detailliert gestalteten, oft phantastischen Tierzeichnungen.

In Pen-&-Paper-Rollenspielen werden Bücher über die in diesem Spiel auftretenden Kreaturen auch als Bestiarium bezeichnet.

Bestiarien

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Literatur

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  • N. Henkel, Chr. Hünemörder, W. Seibt, G. R. Mermier, W. P. Gerritsen, R. H. Robbins, Chr. Hannick, J. M. Plotzek: Bestiarium, -ius, Bestiarien. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 1. Artemis & Winkler, München/Zürich 1980, ISBN 3-7608-8901-8, Sp. 2072–2080.
  • Richard Barber: Introduction, in: Richard Barber (Hrsg.): BESTIARY being an English version of the Bodleian Library, Oxford M. S. Bodley 764 with all the original miniatures reproduced in facsimile. Boydell Press, Woodbridge 1993, ISBN 0-85115-329-1, S. 7–16.
  • Franz Reitinger: Aloys Zötl oder die Animalisierung der Kunst. Wie aus einem Färber der Donaumonarchie ein Surrealist wurde. Mit einem Text von André Breton. Brandstätter, Wien 2004, ISBN 3-85498-358-1.
  • Willene B. Clark: A Medieval Book of Beasts – The Second-Family Bestiary – Commentary, Art, Text and Translation. Boydell Press, Woodbridge 2006, ISBN 0-85115-682-7.
  • Matthias Bumiller: Bestiarium. Von Art, Natur & Eigenschaft allerley Thiere. Thorbecke, Ostfildern 2007, ISBN 978-3-7995-3537-3 (anhand alter Tierbücher erzählt Matthias Bumiller Wissenswertes und Kurioses über einheimische und exotische Tiere)
  • Michel Pastoureau: Das mittelalterliche Bestiarium. Aus dem Französischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Primus, Darmstadt 2013, ISBN 978-3-86312-050-4.
  • Kerstin Borchhardt: Böcklins Bestiarium: Mischwesen in der modernen Malerei (= Bestiarium Böcklinarum: Mythos und Evolution im Werk Arnold Böcklins), Reimer, Berlin 2017, ISBN 978-3-496-01565-9 (Dissertation Universität Jena 2013, 310 Seiten, 32 ungezählte Seiten Bildtafeln, Illustrationen; 24 cm).
  • Annette Simonis: Das Kaleidoskop der Tiere. Zur Wiederkehr des Bestiariums in Moderne und Gegenwart. Aisthesis, Bielefeld 2017, ISBN 978-3-8498-1207-2.
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Commons: Bestiarien – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Bestiarium – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 8., verbesserte und vermehrte Auflage. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1918 (zeno.org [abgerufen am 27. November 2019]).
  2. Richard Barber: BESTIARY, S. 7.
  3. Otto Mazal: Buchkunst der Romanik. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1978, ISBN 978-3-201010566.
  4. Ps.-Hugo von St-Victor: De bestiis et aliis rebus. In: Deutsche Nationalbibliothek. Deutsche Digitale Bibliothek, abgerufen am 27. November 2019.
  5. Franz Unterkircher (Hrsg.): Bestiarium – Oxford Ashmole 1511 (Faksimile), Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1986, ISBN 3-201-01310-2.
  6. Richard Barber (Hrsg.): BESTIARY being an English version of the Bodleian Library, Oxford M. S. Bodley 764 with all the original miniatures reproduced in facsimile. Boydell Press, Woodbridge 1993, ISBN 0-85115-329-1.
  7. Ana Roldán: Bestiary Chapter III, 2013, abgerufen am 4. Februar 2016