Stiersprung
Als Stiersprung bezeichnet man eine aus Abbildungen rekonstruierte akrobatische Übung mutmaßlich kultischen Charakters der minoischen Kultur.
Beim Stiersprung sprangen junge Männer und Frauen[1] in Längsrichtung über einen Stier.
Technik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nach der umstrittenen Rekonstruktionszeichnung von Arthur Evans fasste der Springer zunächst einen galoppierenden Wildstier beim linken Horn. Durch die Kopfbewegung des Stiers wurde der Springer in die Höhe geschleudert. Mit einem Salto rückwärts schwang er sich auf den Rücken des Stiers, von wo aus er über den Schwanz des Stieres absprang und aufgefangen wurde.
Diese artistische Übung war lebensgefährlich. Falls ein Springer den Hals des Stieres verfehlte, wurde er von dem Stier aufgespießt und durchbohrt, was Abbildungen auf kretischen Stempelsiegeln belegen. Es blieb zunächst unklar, ob solche Übungen tatsächlich stattfanden. Lange Zeit gelang es nicht, die Technik zu replizieren. Stuhlfauth stellte 2010 die Verbindung zu den Stiersprüngen der recortadores in Portugal und Spanien her, die sowohl die typische Gestik mit den erhobenen Armen als auch die Salti längs über den Rücken des Stieres aufweisen. Auch die charakteristische hohlkreuzbetonende Ausweichbewegung der recortadores vor den Hörnern des Stieres findet sich in der minoischen Bronzefigur von Tylissos wieder.[2]
Ausführungsort
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Evans nahm an, dass der Stiersprung in einer hölzernen Palisade östlich des Palastes von Knossos stattfand.[3] Ward argumentiert dafür, den Austragungsort im zentralen Innenhof des Palastes zu lokalisieren.[4]
Chronologie und Verbreitung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Erste bildliche Belege für den Stiersprung finden sich in frühminoischer Zeit (FM II, 2700–2150 v. Chr.) aus Koumatsa und Porti. Danach sind Belege nur aus der Zeit der neuen Paläste belegt (MM IIIb, SM IA), und zwar überwiegend aus Knossos. Bekanntestes Beispiel ist das Stierspringer-Fresko aus Knossos (siehe oben). Kathryn Soar nimmt an, dass die knossischen Eliten dieses alte Ritual bewusst in einem städtischen Kontext wieder aufgriffen bzw. wiederbelebten und im Kontext des Wettbewerbes zwischen verschiedenen Fraktionen einsetzten.[5]
Ein Fresko aus Tell el-Dab’a (Auaris) in Ägypten und syrische Rollsiegel gehören zu den wenigen Darstellungen der Praxis außerhalb von Knossos und Kreta.[6] Unklar ist der Bezug zu einer Wandmalerei im Palast von Tiryns, auf der nach Heinrich Schliemann ein Mann dargestellt ist, der auf einem Stier tanzt.
Ward sieht in dem Theseus-Mythos ein letztes Nachleben dieses Rituals.[7] Stuhlfauth hingegen hält eine bis heute reichende Tradition mit den öffentlichen Darbietungen der recortadores aufgrund der weiten Verbreitung des Stierkultes im Mittelmeerraum durchaus für möglich.[8]
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Abbildung eines Stierspringers auf einem minoischen Siegel
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Elfenbeinstatuette – Teil einer mehrfigurigen Gruppe aus Knossos
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- M. Bietak et al.: The maze tableau from Tel et Dab'a. In: S. Sherrat (Hrsg.): The wall paintings of Thera. Athen 2000, S. 77–90.
- M. C. Shaw: Bull leaping frescos at Knosos and their influence on the Tel el-Dab'a murals. In: M. Bietak (Hrsg.): Trade, power and cultural exchange: Hyksos Egypt and the Eastern Mediterranean World 1800–1500 BC. Wien 2995, S. 91–120.
- Anne Ward: The Cretan bull sports. In: Antiquity. Band 42, 1968, S. 117–122.
- Adolf Metzner: Sie sprangen um ihr Leben. In: Die Zeit, Nr. 18/1967
- Diamantis Panagiotopoulos: Das minoische Stierspringen. Zur Performanz und Darstellung eines altägäischen Rituals. In: Joannis Mylonopoulos, Hubert Roeder (Hrsg.): Archäologie und Ritual. Auf der Suche nach der rituellen Handlung in den antiken Kulturen Ägyptens und Griechenlands. Phoibos, Wien 2006, ISBN 3-901232-68-0, S. 125–138, DOI:10.11588/propylaeumdok.00000075.
- Dietmar Winkler: Das kretische Stierspringen. In: Ernst Günther, Heinz P. Hofmann, Walter Rösler (Hrsg.): Kassette. Ein Almanach für Bühne, Podium und Manege (= Kassette). Nr. 6. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1982, S. 158–160.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Rekonstruktion des minoischen Stiersprungs von Arthur Evans
- Spätminoisches Trichterrhyton mit Stiersprungszene
- Beispiel für den Stiersprung der Recortadores, Stuhlfauth, persönliche Mitteilung Frankfurt 2010
- Marie Brennan: Bull-Leaping in Bronze Age Crete. www.strangehorizons.com, 24. Januar 2005, abgerufen am 16. März 2012 (englisch).
- Figur von Tylissos aus Some unpublished Studies by Paul Rehak on gender in Aegean Art. kuscholarworks.ku.edu (PDF; 610 kB)
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ S. Daminai-Indelicato: Were Cretan girls playing at bull-leaping? In: Cretan Studies. Band 1, 1988, S. 39–47
- ↑ Stylianos Alexiou: Minoan Civilization. Aus dem Griechischen ins Englische übersetzt von Cressida Ridley. Vierte Auflage. V. Manouras Co, Heraklion, Tafel 11
- ↑ Journal of Hellenic Studies. Band 41, 1921, S. 247–259
- ↑ Anne Ward: The Cretan bull sports. In: Antiquity. Band 42, 1968, S. 117
- ↑ Kathryn Soar: Old Bulls, new tricks: the reinvention of a Minoan Tradition. In: M. Georgiades, Chr. Gallou (Hrsg.): The Past in the past: The significance of memory and tradition in the transmission of culture. BAR International, 1925, 2009, S. 22–24
- ↑ Kathryn Soar: Old Bulls, new tricks: the reinvention of a Minoan Tradition. In: M. Georgiades, Chr. Gallou (Hrsg.): The Past in the past: The significance of memory and tradition in the transmission of culture. BAR International, 1925, 2009, S. 17
- ↑ Anne Ward: The Cretan bull sports. In: Antiquity. Band 42, 1968, S. 122
- ↑ Dr. Thomas Stuhlfauth, persönliche Mitteilung, Frankfurt 2010