Spendhaus
Das im Jahr 1518 erbaute Spendhaus ist einer der ältesten erhaltenen Profanbauten der im südwestdeutschen Bundesland Baden-Württemberg gelegenen Kreisstadt Reutlingen. Es hat die verheerende Brandkatastrophe vom September 1726, bei der rund vier Fünftel der Gebäudesubstanz Reutlingens vernichtet wurden, unbeschädigt überstanden.
Ursprünglich bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Lagergebäude für Spenden vor allem landwirtschaftlicher Produkte genutzt, dient es nach verschiedenen anderen öffentlichen Zwecken nutzender Verwendungen (Webschule, Stadtbibliothek, Heimatmuseum) seit 1989 als zentrales städtisches Kunstmuseum. Werke von Holzschneidern des 20. Jahrhunderts wie HAP Grieshaber, Wilhelm Laage, Werner Höll, Wolfgang Mattheuer oder Ernst Wilhelm Nay zählen zum wesentlichen Ausstellungsbestand der Kunstsammlung. Das in Fachwerkbauweise errichtete Gebäude liegt südlich des Marktplatzes zwischen Spendhausstraße und Lederstraße an der mittelalterlichen Stadtgrenze.
Geschichte und historische Nutzung
BearbeitenDas Gebäude wurde 1518 als städtisches Speichergebäude für die Spendenpflege errichtet, einer Art Unterstützungskasse für Arme und in Not geratene Bürger, und diente vornehmlich zur Lagerung landwirtschaftlicher Produkte. Von dieser Bestimmung lässt sich der Name Spendhaus ableiten. Das Erdgeschoss ist als massiver Steinbau aus Naturbruchsteinen errichtet und auf der nördlichen Gebäudeseite mit einem tonnengewölbten Raum unterkellert, der durch ein Rundbogenportal auf der Ostseite von der Spendhausstraße her erschlossen ist und als Weinlager diente. Über dem Erdgeschoss erheben sich drei Vollgeschosse in Fachwerkbauweise, die von Etage zu Etage an den beiden Giebelseiten jeweils leicht vorspringen. Das auffällig hohe und steile Satteldach umfasst nochmals drei Geschosse plus eine schmale Ebene unter dem Dachfirst.
Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein behielt das Spendhaus seine Funktion als Lagerhaus. In den 1840er Jahren wurde im Parterre ein Raum für die Buchbestände der Stadt geschaffen. 1858 erhielt das Haus eine neue Nutzung. Die 1855 gegründete Webschule, Vorläuferin des Technikums für Textilindustrie und somit der heutigen Fachhochschule Reutlingen, bezog vier Stockwerke des Gebäudes, das dafür nach Plänen des Bauinspektors Johann Georg Rupp für die erhebliche Summe von mehr als 7000 Gulden umgebaut worden war. Die ersten beiden Obergeschosse waren zu großzügigen Websälen umgerüstet worden, im Erdgeschoss verblieb, neben einem weiteren kleineren Websaal und dem Holzmagazin, auch weiterhin ein Raum für die Stadtbibliothek. Wenig später (1864/65) erweiterte man die Webschule um eine Abteilung für mechanische Weberei, wofür man im Parterre mechanische Webstühle, eine Dampfmaschine, Rohrleitungen und an der Außenseite des Gebäudes zur Lederstraße hinein Dampfkesselhaus mit einem bis über den Dachfirst hinausreichenden Kaminrohr installierte. Zur Verbesserung der Lichtverhältnisse baute man an den Längsseiten des Gebäudes je vier Fenster ein. Auf den ehemaligen Fruchtböden unter dem Dach wurden zusätzliche Zimmer für die gewerbliche Fortbildungsschule und ein großer Zeichensaal für die spätere Frauenarbeitsschule eingerichtet.
1871 erwarb die Stadt Reutlingen von der Armenpflege für 20000 Gulden die Eigentumsrechte an dem Gebäude. Nach dem Auszug der Webschule 1891 wurden darin zunächst die Sammlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins, aus dem später das Naturkundemuseum hervorging, und des kurz zuvor gegründeten Vereins für Kunst und Altertum, welcher den Grundbestand des späteren Reutlinger Heimatmuseums bildete, untergebracht. 1898 kehrte die Stadtbibliothek in das nunmehr ihr allein vorbehaltene Erdgeschoss zurück. Im Dezember 1934 kam im Erdgeschoss das neu errichtete Friedrich-List-Archiv hinzu, wodurch sich die Raumprobleme für die Bibliothek verstärkten. Im Frühjahr 1935 nahm die Stadt eine grundlegende Renovierung des Hauses vor. Die Hoffnung der Bibliothek auf eine Ausdehnung auf das erste Obergeschoss, welches 1939 durch den Auszug der Altertumssammlung in das neue Heimatmuseum frei wurde, erfüllte sich indessen nicht; die Räume waren bereits für Heimzwecke des BDM und der HJ verplant. Nach erneuten umfangreichen Umbau- und Renovierungsmaßnahmen im Gebäudeinneren in den Jahren 1950/1951 erhielt die Stadtbibliothek endlich einen Lesesaal und das erste Obergeschoss zur Mitnutzung. Im dritten Obergeschoss schuf man zusätzliche Ausstellungsräume für die Naturaliensammlung, und das Dachgeschoss, das zu Präsentationszwecken umgestaltet wurde, war fortan Schauplatz zahlreicher Kunstausstellungen.
Die starke Zunahme der Bibliotheksbestände ließ die Stadtverwaltung zu Beginn der 1970er Jahre nach großzügigeren und dauerhaften Lösungen für die Bibliothek und die Museen suchen. 1979 stimmte der Gemeinderat dem Projekt eines Weiterbildungszentrums entlang der Spendhausstraße zu. 1982 wurde mit dem Abbruch der alten Häuser beiderseits des traditionsreichen Fachwerkgebäudes begonnen. Im Sommer 1985 zog die Bibliothek in ihr neu errichtetes Gebäude um, und im März 1987 räumte das Naturkundemuseum das Spendhaus. Damit war der ehemalige Fruchtkasten der Spendenpflege leer und der Weg frei für eine umfassende Sanierung und den Umbau zum 1989 eröffneten Städtischen Kunstmuseum.
Nutzung als Kunstmuseum
BearbeitenAm 15. Oktober 1989 wurde das Spendhaus als Heimstätte des nunmehrigen Kunstmuseums Reutlingen (vormals: Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen) eröffnet. Das Museum widmet sich in seiner Sammlungstätigkeit dem modernen Holzschnitt vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur unmittelbaren Gegenwart. Der Umbau – ausgezeichnet von der Architektenkammer Baden-Württemberg mit dem Preis für beispielhaftes Bauen – hat das frühneuzeitliche Bauwerk mit seinem ehrwürdigen Balkenwerk wieder voll zur Geltung gebracht und zugleich die Voraussetzungen für ein modernes Kunstmuseum geschaffen. Das Gebäude schlägt so die Brücke von der modernen und zeitgenössischen Kunst, die dort gezeigt bzw. aufbewahrt wird, zurück zu den historischen Wurzeln des ältesten druckgrafischen Mediums.
Sammlungsstrategie
BearbeitenDer Schwerpunkt der Sammlungs- und Ausstellungsaktivitäten des Kunstmuseum Reutlingen liegt beim künstlerischen Hochdruck im 20. und 21. Jahrhundert. Dieses spezifische Profil hat historische Ursachen; waren es doch zwei Holzschneider, die unter den Reutlinger Künstlern des vergangenen Jahrhunderts besonders herausragen und deren Werke den Kern der Sammlung bilden: Wilhelm Laage (1868–1930) und vor allem HAP Grieshaber (1909–1981). Beide Künstler trugen zu ihren Lebzeiten in individueller Form wesentlich dazu bei, den Holzschnitt zu einem genuinen Medium der modernen Kunst zu machen und seine Ausdrucksmöglichkeiten in vielfältiger Weise zu erweitern. 1980 konnte mit dem Erwerb von 316 Holzschnitten, 26 Malbriefen und 101 Entwürfen, Aquarellen, Gouachen und Zeichnungen aus dem Besitz HAP Grieshabers ein bedeutendes Konvolut erworben werden, das die Sammlung prägt. 1988 brachte eine Stiftung Alfred Hagenlochers zahlreiche Arbeiten Wilhelm Laages in die Sammlung, und 1989 kam fast das gesamte Holzschnittwerk des Reutlinger Künstlers Werner Höll hinzu. Ebenso befinden sich nahezu alle Druckstöcke von Wolfgang Mattheuer in Besitz des Museums. Die bislang letzte große Stiftung stammt von dem Hamburger Sammler Peter Kemna, der 2004 seine bedeutende Holzschnittsammlung dem Museum schenkte.
Durch systematische Ankäufe und die bedeutenden Stiftungen konnte seit den 1980er-Jahren eine repräsentative Sammlung zum Hochdruck des 20. Jahrhunderts vor allem in Deutschland aufgebaut werden, die auch weiterhin ständig ergänzt wird. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst sollen neben dem Werk deutscher Künstler die wichtigsten internationalen Tendenzen exemplarisch dokumentiert werden.
Ausstellungsaktivitäten
BearbeitenSeit 1989 fanden im Spendhaus zahlreiche Sonderausstellungen sowohl mit historischen und thematischen Inhalten als auch mit zeitgenössischen Künstlern statt. So wurden unter anderem mehrfach Präsentationen mit Werken der Dresdner Brücke-Künstler Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff gezeigt. Nationale und internationale Künstler wie Strawalde, A. R. Penck, Bettina van Haaren, Hartwig Ebersbach, Francisco Toledo, Armando, Lucian Freud, Shiko Munakata oder Cees Andriessen wurden mit Ausstellungen vorgestellt. Mit einer Einzelausstellung gedachte das Museum 2016/2017 der aus Reutlingen stammenden, von den Nazis ermordeten jüdischen Malerin Alice Haarburger.[1]
Weitere Aktivitäten des Museums
BearbeitenSeit 1997 hat die Holzschneidervereinigung XYLON Deutschland am Kunstmuseum Spendhaus ihre Geschäftsstelle. Die Vereinigung hat sich zur Aufgabe gestellt, die künstlerischen Kräfte in Deutschland zu sammeln, die in ihrem Schaffen zu einer schöpferischen Erneuerung des Hochdrucks, insbesondere des Holzschnitts, gelangt sind. Über das Städtische Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen werden der ursprünglich von HAP Grieshaber und Rolf Szymanski begründete Jerg-Ratgeb-Preis sowie das HAP-Grieshaber-Stipendium verliehen.
Leiter des Kunstmuseums Reutlingen seit 1989
Bearbeiten- 1989–2005: Beate Thurow
- 2005–2019: Herbert Eichhorn
- 2019–2024: Ina Dinter
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ après tout – das eigene Gefühl: Alice Haarburger zum 125. Geburtstag. Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen, 20. November bis 2. April 2017. Hrsg. Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen, Reutlingen 2016. Mit Beiträgen von Herbert Eichhorn und Joana Pape. ISBN 978-3-939775-57-7.
Koordinaten: 48° 29′ 24″ N, 9° 12′ 39″ O