New Safe Confinement

neue Schutzhülle über dem alten Sarkophag des Kernkraftwerkes Tschernobyl

Als New Safe Confinement (sinngemäß „Neuer sicherer Einschluss“; NSC) wird die neue Schutzhülle über dem 1986 havarierten Block 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl und über dessen erster Schutzhülle („Sarkophag“) von 1986 bezeichnet.

Die neue Schutzhülle in ihrer finalen Position über dem havarierten Reaktorblock im Oktober 2017

Die Schutzhülle ist eines von mehreren Bauprojekten auf dem Gelände um das ehemalige Kernkraftwerk, welche alle zum Ziel haben, unter sicheren Bedingungen radioaktive Brennstoffe zu entfernen, radioaktiven Abfall zu verarbeiten und die gesamte Anlage in ein für die Ökologie ungefährliches technisches System zu transformieren.[1]

Alte Schutzhülle

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Nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 baute man eilig über mehrere Monate eine provisorische Konstruktion um das Gebäude des havarierten Reaktorblocks, die als „Sarkophag“ bekannt wurde; sie sollte verhindern, dass weiterhin radioaktive Partikel unkontrolliert in die Atmosphäre gelangen.[2]

Aufgrund der hohen Radioaktivität und des extremen Zeitdrucks, unter dem die Arbeit ausgeführt werden musste, war es nicht möglich, eine für lange Zeit haltbare Konstruktion zu errichten. Einerseits musste der zerstörte Reaktor möglichst schnell eingeschlossen werden, andererseits kam es darauf an, den Aufenthalt der Arbeiter im radioaktiv verseuchten Bereich zu begrenzen. Daher errichtete man eine Konstruktion, die so weit wie möglich aus vorgefertigten Stahlteilen bestand, die in größerer Entfernung vorbereitet und dann über dem Reaktor montiert wurden; anschließend goss man die vorbereiteten Stahlwände teilweise mit Beton aus, auch war es notwendig, möglichst schnell beschaffbare Materialien zu benutzen, etwa Pipeline-Röhren für die Dachkonstruktion. Notgedrungen mussten in die Konstruktion des Sarkophags jedoch auch stehengebliebene Teile des Reaktorgebäudes einbezogen werden, deren Stabilität nicht überprüft werden konnte. Ebenso wurden Betonfundamente für den Sarkophag auf den Trümmerschutt des zerstörten Reaktors gegossen, ohne dass man die Tragfähigkeit dieses Untergrunds ermitteln konnte. Erschwerend kam noch hinzu, dass der unmittelbar benachbarte, unbeschädigte Kraftwerksblock weiterbetrieben werden sollte, daher mussten die vorher verbundenen Räume und Anlagenteile beim Bau des Sarkophags getrennt werden.[3]

 
Der alte Sarkophag 2005

Im November 1986 stellte man den Sarkophag fertig, der aus 7000 Tonnen Stahl und 410.000 Kubikmetern Beton bestand. Im Laufe der Zeit wurde der Sarkophag undicht und Stahlträger rosteten. Ein Nachgeben könnte zum Einsturz der gesamten Konstruktion führen. Darüber hinaus existieren Löcher im Dach, durch die Wasser in das darunterliegende Gebäude eindrang. Dieses Wasser versickerte kontaminiert unter dem Reaktorblock im Boden.[2]

Im Dezember 1988 gaben sowjetische Wissenschaftler bekannt, dass der Sarkophag eine vorgesehene Lebenszeit von lediglich 20 bis 30 Jahren habe.[2] Daher begann man 1992 neue Lösungen zu entwickeln, um eine weitere Katastrophe zu verhindern. Die damaligen Untersuchungen führten zum Schluss, dass man einen neuen Sarkophag über dem alten errichten müsse. Dieses Vorhaben wurde in einem ukrainischen Gesetz geregelt und im Juni 1997 bei einem G7-Treffen als Teil des Shelter Implementation Plan (SIP) verabschiedet.[1]

New Safe Confinement

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Zielsetzung

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Die neue Schutzhülle ist für eine Lebenszeit von 100 Jahren ausgelegt worden.[1][4] Die fünf Hauptziele sind:

  • Unter Normalbetrieb und bei Notfällen etwaige Strahlungsauswirkungen auf die Öffentlichkeit, das Personal und die Umwelt einzugrenzen,
  • die Verbreitung von ionisierender Strahlung und radioaktiven Substanzen einzuschränken,
  • einen kontrollierten Rückbau sämtlicher Strukturen innerhalb der Schutzhülle zu ermöglichen. Unter anderem sollen etwa 150 Tonnen teilweise geschmolzenen Kernbrennstoffs aus dem Inneren des alten Sarkophags geborgen werden.
  • die Überwachung aller Zustandsparameter sowie
  • einen physischen Schutz zu bieten, zum Beispiel unberechtigten Zutritt zu verhindern.

Die Schutzhülle sollte nach Fertigstellung eine Spannweite von 257 m, eine Länge von 162 m und eine Höhe von 108 m haben. Sie soll Temperaturen von −30 °C bis +50 °C, einem Erdbeben der Stärke 6 sowie einem Tornado der Stufe 3 standhalten können. 81.000 m³ Beton dienen als Fundament, während die Konstruktion mit 24.860 Tonnen geplant war.[5] Kunststoffmembranen sollen für eine dichte Verbindung zwischen der neuen Schutzhülle und den bestehenden Baustrukturen sorgen.[6] Zur Verminderung der Korrosion der Stahlkonstruktion soll die Luftfeuchtigkeit im Inneren der Doppelhülle kontrolliert und auf maximal 40 Prozent gehalten werden.[4]

Planung und Kosten

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Das Gesamtkonzept für die neue Schutzhülle und zugehörige Projekte wurde im März 2004 in Slawutytsch zwischen ukrainischen Wissenschaftlern diskutiert. Am 5. Juli 2004 verabschiedete das Ministerkabinett der Ukraine den Entwurf als Anordnung №443-r.[1] Die Gesamtkosten der Umsetzung des Shelter Implementation Plan (mit dem New Safe Confinement als prominentestem und sichtbarsten Teil dieses Plans) sollten laut Einschätzung der europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) mehr als 2 Milliarden Euro betragen, die von mehr als 40 Ländern aufgewendet werden.[7]

Am 10. August 2007 wurde nach einer zweiphasigen internationalen Ausschreibung das Konsortium Novarka unter Federführung der französischen Bauunternehmen VINCI Construction Grands Projets und Bouygues Travaux Publics beauftragt.[1][8]

Die EBWE richtete ebenfalls 1997 den Chernobyl Shelter Fund ein, um die Ukraine bei der Umsetzung des SIP zu unterstützen. Beitragszahler sind neben der Europäischen Union 45 weitere Länder.[9]

Die Betriebskosten der Schutzhülle sollen jährlich etwa 8 Mio. Euro betragen.[10]

Die aktuellen (Stand März 2024) Kosten für den Bau der Schutzhülle betrugen ca. 1,4 Milliarden Euro,[9] wobei die gesamten Projektaufwendungen mit ca. 2,15 Milliarden Euro beziffert werden.[11] 325 Millionen Euro davon wurden von der EBWE finanziert.[5]

Bauphase

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Die Schutzhülle im Bau, 2013

Der Bau der neuen Schutzhülle begann Ende 2010.[12] Vorher waren verschiedene Vorarbeiten notwendig: Der alte Sarkophag wurde mit einer Lüftungsanlage ausgestattet und 2008 wurde eine Stahlkonstruktion an der Westseite des alten Sarkophags errichtet, die 80 Prozent des Dachgewichts trägt.[7]

Im Oktober 2014 wurden alle Hubarbeiten abgeschlossen.[7] Die Stahlstrukturen wurden in Italien von Cimolai mit Stahl von Salzgitter und Rohren von Mannesmann Fuchs Rohr gefertigt. Anfang Oktober 2015 gab Novarka bekannt, dass über 20 Millionen Personenstunden für das Projekt aufgewendet worden seien. Arbeiter aus 27 Nationen seien bislang am Bau beteiligt gewesen.[13]

Ab dem 14. November 2016 wurde die neue Schutzhülle mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 10 Metern pro Stunde in Richtung des alten Sarkophags bewegt. Damit galt die neue Schutzhülle als größtes mobiles Bauwerk der Welt.[14] Nach dem planmäßigen Erreichen der finalen Position wurde die neue Schutzhülle am 29. November 2016 eingeweiht.[15]

Die Kunststoffmembranen wurden installiert. Zudem wurden die Kräne sowie alle im Inneren der Schutzhülle befindlichen Geräte in Betrieb genommen und getestet. Parallel liefen Genehmigungsverfahren.[6]

Am 25. April 2019 vermeldete die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) den Abschluss eines 72-Stunden-Testbetriebs der Schutzhülle.[16] Die offizielle Inbetriebnahme im Beisein des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erfolgte am 10. Juli 2019.[17]

Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft für Strahlenschutz stellt die Erforderlichkeit der neuen Schutzhülle in Frage.[18] Es seien bei der Katastrophe nicht wie offiziell behauptet rund 10 % des Kernbrennstoffes freigesetzt worden und rund 90 % in der Reaktorruine verblieben, sondern vielmehr etwa 90 % des Kernbrennstoffes freigesetzt worden.[19] In der Ruine befänden sich somit höchstens 20 Tonnen statt der offiziell angegebenen 150–200 Tonnen,[20] die Strahlung sei daher moderat.[21] Pflugbeil bezieht sich hierbei auf seine eigene Begutachtung[22] sowie jene des russischen Physikers Konstantin Tschetscherow, der das Innere des zerstörten Reaktors in 20 Jahren rund 1000 Mal inspiziert hat.[23] Man hat keine heißen Zonen im Reaktor gefunden, so Tschetscherow, die Durchschnittstemperatur liegt bei rund 24 Grad Celsius.[24] „Hätte sich die Explosion im Reaktor ereignet, dann würden wir darin nicht komplett erhaltene Installationen und sogar Farbreste finden.“[24] Pflugbeil hält den neuen Sarkophag für eine „reine Geldmaschine“, das Geld sei besser investiert in medizinische und soziale Fälle vor Ort.[25][18]

Weitere Bauprojekte

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Neben der Schutzhülle wurden bzw. werden weitere Gebäude und Einrichtungen gebaut, die nach der Fertigstellung des NSC-Projekts die Demontage des Kernkraftwerkes ermöglichen sollen.

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Commons: ChNPP NSC – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

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  1. a b c d e Designing and Construction of a New Safe Confinement. Abgerufen am 25. Oktober 2015 (englisch).
  2. a b c What happened in Chernobyl? Abgerufen am 25. Oktober 2015 (englisch).
  3. Gesellschaft für Reaktorsicherheit (Hrsg.): Tschernobyl zehn Jahre danach. Der Unfall und die Sicherheit der RBMK-Anlagen. Köln 1996, S. 71–82. grs.de (PDF). Filmaufnahmen vom Bau des Sarkophags: https://www.youtube.com/watch?v=dDDNJIdOM_s
  4. a b Dagmar Röhrlich: Tschernobyl und die neue Hülle für den Sarkophag. deutschlandfunk.de, Forschung aktuell, 20. März 2015; abgerufen am 11. November 2016.
  5. a b Chernobyl: a site transformed. Abgerufen am 25. Oktober 2015 (englisch).
  6. a b Tschernobyl – "Die eigentliche Herausforderung kommt erst noch". Abgerufen am 1. Dezember 2016.
  7. a b c The Chernobyl Shelter Implementation Plan. Abgerufen am 25. Oktober 2015 (englisch).
  8. Project „New Safe Confinement Construction“. Archiviert vom Original am 14. Juni 2015; abgerufen am 25. Oktober 2015 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/chnpp.gov.ua
  9. a b https://www.sueddeutsche.de/wissen/tschernobyl-schutzhuelle-sarkophag-new-safe-confinement-reaktor-1.4513493
  10. Der neue Sarkophag - Problem gelöst? Abgerufen am 11. April 2018.
  11. https://www.bundestag.de/resource/blob/554594/1ac57b2a02de76cd8d4d2272ae82b916/Bericht-BMU_Tschernobyl-data.pdf
  12. Chernobyl’s New Safe Confinement. Abgerufen am 25. Oktober 2015 (englisch).
  13. A Landmark Event of the NSC Project. Abgerufen am 25. Oktober 2015 (englisch).
  14. Zehn Meter pro Stunde. Abgerufen am 15. November 2016.
  15. Neue Schutzhülle für Atomruine eingeweiht. Archiviert vom Original am 29. November 2016; abgerufen am 29. November 2016.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.deutschlandfunk.de
  16. Chernobyl’s New Safe Confinement project completes final commissioning test. 25. April 2019, abgerufen am 2. Juni 2019 (englisch).
  17. Schutzhülle in Tschernobyl offiziell in Betrieb. In: mdr.de. Abgerufen am 12. August 2019.
  18. a b Gesellschaft für Strahlenschutz kritisiert Desinformation über Tschernobyl. In: deutschlandfunkkultur.de. Abgerufen am 8. November 2022.
  19. Gerhard Lechner: Tschernobyl-Gau noch schlimmer als offiziell zugegeben? Abgerufen am 8. November 2022.
  20. Gabriele Goettle: Besuch beim Physiker Sebastian Pflugbeil: Die Geldmaschine. In: taz. 28. November 2011 (taz.de [abgerufen am 16. November 2022]).
  21. Tschernobyl und die Folgen – Neuer Super-Sarkophag soll 100 Jahre halten. 20. April 2011, abgerufen am 16. November 2022.
  22. Tschernobyl Der Millionensarg Doku. Abgerufen am 13. September 2023 (deutsch).
  23. 25 Jahre Atomunfall in Tschernobyl. In: deutschlandfunk.de. Abgerufen am 8. November 2022.
  24. a b Gerhard Lechner: Tschernobyl-Gau noch schlimmer als offiziell zugegeben? Abgerufen am 16. November 2022.
  25. Gabriele Goettle: Besuch beim Physiker Sebastian Pflugbeil: Die Geldmaschine. In: taz. 28. November 2011 (taz.de [abgerufen am 16. November 2022]).