Heilsgeschichte

Ansatz, alle Ereignisse als Etappen der Verwirklichung von Gottes Willen zur Rettung der Menschen zu verstehen

Der Ausdruck Heilsgeschichte (auch Heilsökonomie, lat. historia salutis) wurde in der christlichen Theologie um die Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt. Er wird seither in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich verwendet und war wegen seiner theologischen Implikationen von Anfang an umstritten.[1] Gemeint ist die gesamte vergangene und künftige Geschichte der Menschheit, insoweit sie eschatologisch unter dem Gesichtspunkt eines erwarteten Heils (siehe auch Soteriologie) betrachtet und gedeutet wird. Unter dieser Perspektive erscheint die Geschichte als sinnvolle, planmäßige Abfolge göttlicher Handlungen, die letztlich auf die Vollendung des in der Offenbarung verheißenen Heils abzielen. Wie in der verwandten, jüngeren Geschichtstheologie wird der Begriff überwiegend in einem christlichen Zusammenhang verwendet. Eine Übertragung auf andere Erlösungsreligionen wie das Judentum und den Islam, in denen analoge Vorstellungen bestehen, ist aber möglich und wird praktiziert.[2]

Systematisierung

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Im jüdischen Glauben spielt die Befreiung Israels aus Ägypten durch Jahwe, wie sie im Buch Exodus beschrieben wird, eine zentrale Rolle. Die unverbrüchliche Bundestreue Gottes kennzeichnete die Geschichte Israels als Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt und der Menschen, der Landnahme Israels und bis zum Gang ins Exil. Hier wurden die Erinnerungen an die Machttaten Gottes erneuert, bestärkt und durch Verheißungen für die Zukunft maßgeblich ergänzt.[3]

In christlichen theologischen Darstellungen wird üblicherweise in den ersten Jahrzehnten der christlichen Zeitrechnung die Mitte der Heilsgeschichte („Fülle der Zeit“ Gal. 4,4 EU; Eph. 1,10 EU) gesehen: Leben und Wirken, Kreuzestod und Auferstehung Jesu von Nazaret als Jesus Christus. Als dessen Ankündigung und Vorbereitung gilt die Schöpfungs-Erzählung der Bibel mit dem Sündenfall. Die Geschichte nach Christus gilt als „letzte Zeit“ oder „Endzeit“, in der das Evangelium zu allen Völkern dringt, bis die Zahl der Geretteten voll sein und der christliche Messias Jesus Christus in Herrlichkeit zum zweiten Mal ankommen wird.

Geschichte des Begriffs

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Der Begriff „Heilsgeschichte“ kam erst im 18. Jahrhundert auf, er wurde erstmals vom lutherischen Theologen Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877) aus Erlangen in seinem Werk Weissagung und Erfüllung im Alten und Neuen Testamente. Ein theologischer Versuch von 1841 gebraucht und in die theologische Diskussion eingebracht.[4] In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er dann zur festen Größe in der Theologie des deutschen Sprachraums[1] und wird auch in der englischen Sprache als theologischer Fachbegriff verwendet.[5] Mitte des 20. Jahrhunderts wurde er zu einem Zentralbegriff und Interpretament der Theologie, wie etwa das theologische Kompendium Mysterium Salutis zeigt. Nach dem evangelischen Theologen Hans von Campenhausen (1903–1989) ist das Verständnis einer Heilsgeschichte jedoch bereits in der Heiligen Schrift des Alten Testaments als Geschichtswerk und in der Persönlichkeit von Jesus Christus als historische Person selbst angelegt.[6] Heilsgeschichtliches Denken liegt zudem der gesamten christlichen Kultur des Abendlandes zugrunde. Es hat als jüdisch-christlicher Einfluss, religiös oder säkularisiert, auch das neuzeitliche philosophische Denken geprägt (Joachim von Fiore, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx u. a.) und ist als Fortschrittsglaube Teil des Massenbewusstseins geworden. Moderne Kritiker sehen darin eine der Ursachen für die Entfremdung des Menschen von der in Zyklen lebenden Natur.

Nach dem reformierten Verständnis bezeichnet die Heilsgeschichte Gottes rettendes und erlösendes Wirken zugunsten seines Volks und der Menschen. Sie geht eng mit der fortschreitenden Selbstoffenbarung Gottes einher. Immer dann, wenn ein wichtiges Ereignis in der Heilsgeschichte anstand, war es begleitet von den Offenbarungen und den Zeichen großer Propheten. Von besonderer Bedeutung sind Mose beim Bundesschluss am Sinai, Elija als Vorbote des Messias, Jesus Christus als Messias und die Apostel bei der Einführung der Gemeinde. Bei Martin Luther war die Heilsgeschichte Gottes eng mit der erwarteten Apokalypse, dem nahen Weltende, verbunden.[7] In der Abwehr gegen die entstehende Täuferbewegung um 1520 entwickelten die anderen Reformatoren wie Johannes Oekolampad, Huldrych Zwingli, Heinrich Bullinger und Johannes Calvin erste Ansätze einer Bundestheologie, die dann von Johannes Coccejus, Herman Witsius und den Verfassern des Bekenntnisses von Westminster 1647 ausformuliert wurden. Die reformatorische Sicht unterscheidet sich von der ungefähr zweihundert Jahre jüngeren dispensationalistischen Lehre vor allem darin, dass Gottes Handeln als fortschreitend betrachtet wird und die Bibel nicht nur wörtlich, sondern auch figurativ, metaphorisch, allegorisch und typologisch ausgelegt werden darf.[8] Diskontinualität wird (häufig unter Berufung auf das Seinsprinzip) bewusst abgelehnt. Vor allem im angelsächsischen Raum war die Scofield-Bibel von 1909 mit ihren heilsgeschichtlichen Anmerkungen und Verweisketten von Cyrus I. Scofield ein neuer dispensationalistischer Impuls im heilsgeschichtlichen Denken, und die Schaubilder der Heilszeiten des Baptistenpredigers Clarence Larkin haben zur Popularität einer dispensationalistisch verstandenden Heilsgeschichte beigetragen.[9]

Dispensationalistische Darstellung Heilsgeschichte

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Auf John Nelson Darby (1800–1882) von der Brüderbewegung geht die um 1830 entwickelte Lehre zurück, dass die biblische Heilsgeschichte in Heilszeitalter, in sogenannte Dispensationen einzuteilen sei.[10] Eine etwas vereinfachte und verkürzte Darstellung dieser Heilsgeschichte kann in „Erscheinungsformen des Reiches Gottes“ erfolgen. Ein Kriterium einer solchen Darstellung ist die Vorstellung, wo sich der König, Jesus Christus als Messias des Königreichs Gottes, jeweils befindet:[11]

  1. im Alten Testament: hier ist nach christlicher Deutung der König nur verheißen
  2. in den Evangelien: der König ist in der Person Jesus Christus gegenwärtig
  3. in der Gemeindezeit: der König ist in der Gemeinschaft der Gläubigen durch den Heiligen Geist vertreten
  4. im 1000-jährigen Reich: der König ist in der Person des wiedergekommenen Jesus Christus auf der Erde
  5. im neu zu schaffenden Reich Gottes: die dauernde Gegenwart des Königs von Angesicht zu Angesicht

Literatur

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  • Hans von Campenhausen: Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des christlichen Geschichtsbildes in der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderts, Karl Alber, Freiburg und München 1970; Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019?, ISSN 0080-5319, (online 2019: doi:10.7788/saeculum.1970.21.jg.189).
  • Hans Conzelmann: Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, Habilitationsschrift an der Universität Heidelberg 1952; 7. Auflage Mohr, Tübingen 1993, ISBN 3-16-145946-6.
  • Oscar Cullmann: Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965.
  • Felix Flückiger: Heilsgeschichte und Weltgeschichte, in der Zeitschrift: Evangelische Theologie, Band 18, Heft 1/2, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1958 (online: Website degruyter.com, 2014).
  • Jörg Frey, Stefan Krauter, Hermann Lichtenberger (Hrsg.): Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament WUNT, Band 248), Mohr Siebeck, Tübingen 2009 (online: extract, pdf, 26 Seiten, Website ciando.com).
    • Martin Hengel: Heilsgeschichte, S. 3–34.
    • Johannes Wischmeyer: Heilsgeschichte im Zeitalter des Historismus. Das geschichtstheologische Programm Johann Christian Konrad Hofmanns, S. 633–646.
    • Christine Axt-Piscalar: Offenbarung als Geschichte. Die Neubegründung der Geschichtstheologie in der Theologie Wolfhart Pannenbergs, S. 725–743.
  • Gundolf Gieraths: Kirchengeschichte und Heilsgeschichte, Angelicum, Vol. 46, N° 3/4, Pontificia Studiorum Universitas a Sancto Thomas Aquinate, Urbe 1969, S. 207-231 (online: [1]).
  • Hubert Jedin: Kirchengeschichte als Heilsgeschichte? in: Ders.: Kirche des Glaubens – Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bd. I. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1966, S. 37–48.
  • Günter Lanczkowski u. a.: Geschichte / Geschichtsschreibung / Geschichtsphilosophie, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 12, S. 565–698.
  • Bernhard Lang: Lebensgeschichte – Lebensweisheit – Heilsgeschichte. Drei religiöse Themen der Weltliteratur, in: Religion und Literatur in drei Jahrtausenden, Brill/Schöningh 2018, ISBN 978-3-657-79227-6, S. 653–692 (online: Website brill.com).
  • Eckhard Lessing: Die Bedeutung der Heilsgeschichte in der ökumenischen Diskussion, in Zeitschrift: Evangelische Theologie, Band 44, Heft 3, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1984, (online: Website degruyter.com, 1. Mai 2014).
  • Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Kohlhammer, Stuttgart 1953.
  • Tobias Mayer: Typologie und Heilsgeschichte. Konzepte theologischer Reform bei Jean Daniélou und in der Nouvelle théologie, Innsbrucker theologische Studien 96, Tyrolia, Innsbruck 2019 (Dissertation in Wien, Leseprobe als pdf)
  • Heinrich Ott: Geschichte und Heilsgeschichte in der Theologie Rudolf Bultmanns, Mohr, Tübingen 1955.
  • Matthias Pohlig: Was ist Heilsgeschichte? Formen und Funktionen eines Deutungsmusters in Spätmittelalter und Reformation, in: Paradigmen personaler Identität, Band 1, Walter de Gruyter, Berlin/München/Boston 2016 (online: doi:10.1515/9783110502633-003).
  • James M. Robinson: Heilsgeschichte und Lichtungsgeschichte. Friedrich Gogarten zum 75. Geburtstag, Zeitschrift Evangelische Theologie, Band 22, Heft 3, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1962 (online: Website Walter de Gruyter, 2014).
  • Hans Rotter (Hrsg.): Heilsgeschichte und ethische Normen (= Quaestiones disputatae, Band 99), Herder, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1984, ISBN 3-451-02099-8.
  • Erich Sauer: Das Morgenrot der Welterlösung. Ein Gang durch die alttestamentliche Heilsgeschichte, 1937, 9. Auflage 1998, ISBN 978-3-417-21410-9.
  • Erich Sauer: Der Triumph des Gekreuzigten. Ein Gang durch die neutestamentliche Heilsgeschichte, 1937, Neuauflage 1994, ISBN 978-3-417-21411-6.
  • Heinz Schumacher: Die Lehre der Bibel - im Rahmen der Heilsgeschichte dargestellt, Paulus Verlag, 1975, ISBN 3-876-18053-8.
  • Theodor Seidl: Historie als Heilsgeschichte? „Ich bin hinabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen“ (Ex 3,8). Perspektiven und Modelle der Geschichtsbewertung im Alten Testament, Una Sancta 2018, Heft 4, 73. Jahrgang, S. 261–280.
  • Helge Stadelmann und Berthold Schwarz: Heilsgeschichte verstehen: Warum man heilsgeschichtlich denken sollte, wenn man die Bibel nicht missverstehen will, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg 2008, ISBN 978-3-89436-575-2.
  • Alfons Weiser u. a.: Heilsgeschichte. In: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 4, Sp. 1336–1344.
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Einzelnachweise

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  1. a b Karl Gerhard Steck: Evangelisches Kirchenlexikon. Hrsg.: Heinz Brunotte, Otto Weber. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen und Zürich 1962, Heilsgeschichte, S. 87–88: „Heilsgeschichte, als eigenständiger Begriff im 19. Jh., sachlich in Bibel und Kirchenlehre wurzelnd, ist als Deutungsmittel des göttlichen Offenbarungshandelns selbst vieldeutig.“
  2. Beispielsweise bei Karl Wulff: Bedrohte Wahrheit. Der Islam und die modernen Naturwissenschaften, München 2010, S. 41: Islamische Heilsgeschichte.
  3. Herbert Vorgrimler: Heilsgeschichte, Neues Theologisches Wörterbuch, 2008, Website herder.de (19. August 2021, abgerufen am 4. März 2025)
  4. Jörg Frey, Stefan Krauter, Hermann Lichtenberger (Hrsg.): Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament WUNT, Band 248), Mohr Siebeck, Tübingen 2009, Einführung S. XV; Martin Hengel: Heilsgeschichte, S. 3–5
  5. Heilsgeschichte, Website oxfordreference.com (abgerufen am 6. März 2025)
  6. Hans von Campenhausen: Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des christlichen Geschichtsbildes in der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderts, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970, ISSN 0080-5319, S. 189
  7. Matthias Pohlig: Was ist Heilsgeschichte? Formen und Funktionen eines Deutungsmusters in Spätmittelalter und Reformation, in: Paradigmen personaler Identität, Band 1, Walter de Gruyter, Berlin/München/Boston 2016, Seite 54 (abgerufen am 6. März 2025)
  8. Berthold Schwarz: Heilsgeschichte in der Kritik, Bibel und Gemeinde 110, Band 1, 2010, Seite 6-16, Website bibelbund.de (abgerufen am 4. März 2025)
  9. Hans-Werner Deppe: Einführung in den Dispensationalismus, Website bethanien.de (abgerufen am 5. März 2025)
  10. Hans-Werner Deppe: Einführung in den Dispensationalismus, Website bethanien.de (abgerufen am 5. März 2025)
  11. Hans-Werner Deppe: Argumente gegen den Dispensationalismus, Website bethanien.de (19. Dezember 2008, abgerufen am 6. März 2025)