Verwandtschaft ist ein Konstrukt, dem vielfältige biologische, rechtliche und soziokulturelle Faktoren zugrunde liegen. Wer zur Verwandtschaft gehört und welche Konsequenzen und Erwartungen damit verknüpft sind, ist wesentlich von der kulturellen Identität einer Gesellschaft und ihrer sozialstrukturellen Verfassung abhängig. Unstrittig ist, dass Verwandtschaft entweder durch Abstammung (Deszendenz, Filiation) oder durch Heirat (Affinalität) begründet wird. Durch Abstammungsbeziehungen miteinander verbundene Verwandte haben gemeinsame Vorfahren und weisen häufig genetische Ähnlichkeiten auf (Familie). Abstammung ist aber nicht ausschliesslich biologisch begründet, da Elternschaftsverhältnisse auch durch Adoption entstehen können. Zur nichtbiologischen Verwandtschaft zählt die durch die Ehe begründete Affinalität oder Affinalverwandtschaft. Die Nähe der Verwandtschaft wird nach Graden bestimmt. Verwandtschaftsgrade spielen zum Beispiel in der Medizin, im Eherecht (Ehehindernisse) sowie im Erbrecht (Illegitimität) eine Rolle.
Sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in den historischen Wissenschaften wurde Verwandtschaft als Forschungsthema lange Zeit vernachlässigt. Dahinter steht die fragwürdige Annahme, Verwandtschaft sei ein archaisches Organisationsprinzip und spiele für die Analyse der westlichen Moderne keine wesentliche Rolle. Einzig die Ethnologie hat sich als Disziplin intensiv dem Studium der Verwandtschaftsbeziehungen gewidmet, allerdings meist am Beispiel nichtindustrieller Gesellschaften.

Im schweizerischen Kontext gab es erst Ende des 20. Jahrhunderts Versuche, die über den unmittelbaren Familienzusammenhang (Kernfamilie) hinausreichenden verwandtschaftlichen Beziehungen und deren historischen Wandel zu rekonstruieren. Thematisiert wurden unter anderem die für die Verfestigung der Adelsherrschaft im Hochmittelalter und insbesondere für die Bekräftigung der Erbansprüche konstitutive Betonung der männlichen Stammfolge (Adel) sowie die Beziehungen zwischen Verwandtschaft und politischer Macht in der frühen Neuzeit, als die Verwandtschaft in der aristokratischen Elite als Sozialgebilde verfestigt wurde und als Repräsentationsverband vermehrt hervortrat (Honoratioren). Im 19. Jahrhundert gewannen bürgerliche Familienverbände zunehmend auch auf kantonaler und nationaler Ebene an Bedeutung, wodurch die Bildung eines homogenen Bürgertums im Sinne einer sozialen Klasse unterstützt wurde. Hauptsächlich Frauen organisierten die Beziehungspflege und machten die Verwandtschaft sowohl im Geschäftsbereich als auch in der Sozialfürsorge ökonomisch fruchtbar. Auch hinsichtlich sozialer Zusammenhänge waren Verwandtschaftsbeziehungen konstitutiv. Dies gilt etwa für die Verwandtschafts- und Nachbarschaftshilfe, das Vormundschaftswesen oder für die Geselligkeits- und Festkultur, was vorab für alpine Räume (Engadin, Prättigau, Ober- und Unterwallis) gut dokumentiert ist. Auch fiktive, nichtkonsanguine Verwandtschaftsbeziehungen – oft durch komplexe Patenschaftsmuster (Patenwesen) vermittelt und auf der Zugehörigkeit zu Clans, Familienparteien (z.B. die Salis-Partei in Graubünden), Faktionen oder Klientelgruppen (Klientelismus) beruhend – konnten ähnliche Schutz- und Solidaritätsfunktionen beinhalten wie normale Verwandtschaftsbeziehungen.
Als wichtiges Beziehungssystem war und ist Verwandtschaft insbesondere hinsichtlich der Sicherung und Vermehrung des Eigentums durch Heiratsstrategien, Erbschaft und soziale Platzierung von Bedeutung. Verwandtschaftsbeziehungen haben den Prozess der politischen und sozialen Klassenbildung wesentlich mitgeprägt. Sie sind auch im modernen Wohlfahrtsstaat bedeutsam geblieben, hauptsächlich in kritischen Phasen des Lebenszyklus wie Arbeitslosigkeit und Erkrankung oder im Alter.