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ADB:Vieth, Gerhard Ulrich Anton

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Artikel „Vieth, Gerhard Ulrich Anton“ von Carl Euler in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 682–684, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vieth,_Gerhard_Ulrich_Anton&oldid=- (Version vom 20. Dezember 2024, 05:05 Uhr UTC)
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Vieth: Gerhard Ulrich Anton V., geboren am 8. Januar 1763 zu Hoksiel, einem Hafen und Marktflecken in der damals anhalt-zerbstischen Herrschaft Jever, als Sohn des dortigen Justizamtmanns, erhielt den ersten Unterricht theils vom Vater, theils von einem Hauslehrer, besuchte die Gelehrtenschule in Jever und bezog 1781 die Universität Göttingen, wo er Jurisprudenz, Cameral-, Handlungswissenschaft, Mathematik und Physik studirte und auch die Leibesübungen: Fechten und Voltigiren nicht vernachlässigte. 1783 begleitete er den im Dessauer Philanthropin erzogenen Sohn des Geheimraths v. Nostiz auf die Universität Leipzig, wo er besonders seine juristischen, mathematischen und physikalischen Studien fortsetzte. Im Begriff, in Jever die Praxis als Advocat anzutreten, erhielt V. 1786 gleichzeitig einen Ruf als Lehrer der Mathematik und des Französischen an der neu organisirten herzoglichen Hauptschule zu Dessau, welchem Ruf er folgte. Wie vielseitig seine Kenntnisse waren, ergibt sich daraus, daß ihm außer der Mathematik und dem Französischen auch Unterricht in der Physik, der bürgerlichen Rechenkunst, in Latein, Geographie und Naturgeschichte übertragen wurde. In der Geometrie und im Fechten unterrichtete er privatim. V. beklagt selbst in einem Brief an seinen Vater, daß er in zu vielen Fächern zerstreut sei, um es in einem weit bringen zu können. Seine Tüchtigkeit fand bald allgemeine Anerkennung und es eröffneten sich ihm günstige Aussichten. Er blieb aber der Schule treu und schlug selbst eine Lehrerstelle der Mathematik und Physik zu Leipzig aus.

Als Director Neuendorf, der seit 1785 die Hauptschule leitete, 1799 starb, wurde V. zum Director der Schule ernannt und übernahm zugleich die Inspection über die übrigen Schulen der Stadt und der näheren Umgegend. 1804 entsandte ihn der Fürst Leopold Friedrich Franz, der ihm sehr wohl wollte, zur Sternwarte Seeberg bei Gotha, wo er einigen astronomisch-geodätischen Operationen [683] beiwohnte, die Franz v. Bach zum Behufe einer Gradmessung leitete. 1819 wurde V. zum Schulrath ernannt, behielt aber den mathematischen Unterricht. Der Tod seiner Gattin am 1. Mai 1826 drückte ihn körperlich und geistig nieder. Seine letzte Ansprache an die Schüler geschah bei Gelegenheit der fünfzigjährigen Jubelfeier der Hauptschule am 6. October 1835. Er starb nach schweren Leiden am 12. Januar 1836.

Es ist nicht klar zu ersehen, in welchem Verhältniß V. zu dem von Basedow 1774 zu Dessau gegründeten Philanthropin stand. Anscheinend betheiligte er sich an den gymnastischen Uebungen, die an dieser Anstalt unter der Leitung des tüchtigen Lehrers Du-Toit blühten, bereitwillig letzteren unterstützend. In einem 1826 geschriebenen Aufsatz: „Ein paar Worte über philanthropische Zucht und Methode“ nimmt er diese in Schutz gegen die ihr vorgeworfene „matte und schlaffe Zucht“. „Heißt es eine matte und schlaffe Zucht“, fragt er, „wenn man Jugendvergehungen nicht gleich mit Ruthe, Stock und Carcer bestraft, sondern sie durch Aufsicht verhütet, und, wenn sie geschehen, den Schuldigen durch Vorstellungen zur Reue bringt? Heißt es matte und schlaffe Zucht, wenn man junge Leute mit Liebe, wie der Vater seine Kinder, behandelt, wenn man, ohne sich selbst etwas zu vergeben, im Tone der gesitteten Welt mit ihnen spricht und in dem jungen Menschen den jungen Menschen ehrt? Wohl! So bekenne ich mich zu dieser matten und schlaffen Zucht, bei der ich mich in den vierzig Jahren, die ich als Lehrer und Director einer der größten und, ich darf sagen, besten Schulen, verlebte, wohl befunden habe, und die Hunderte meiner Schüler mögen zeugen, ob ich ‚meiner Classen Meister‘ war.“

Auch in anderem nahm V. das Philanthropin und seine Methode gegen die Angriffe und Vorwürfe in Schutz. „Heißt es ‚Spielmethode‘ (des Philanthropins), fragt er, „wenn man beim geographischen Unterricht Stücke der Erdfläche von den Schülern selbst abbilden läßt? Heißt es Spielmethode, wenn man dem jugendlichen Körper die nöthige Bewegung verstattet und durch gut geleitete gymnastische Uebungen Gesundheit und frohen Sinn, dieses ‚Palladium‘ des menschlichen Wohles, bei den Zöglingen erhält, eingedenk der goldenen Worte Rousseau’s: ‚Le grand secret de l’éducation est de faire en sorte que les exercices du corps et ceux de l’esprit servent de délassement les uns aux autres?‘ Wohl! so bekenne ich mich zu dieser Spielmethode und wünsche sie in jeder Schule eingeführt zu sehen.“ Weiter sagt V. im Anschluß an das Philanthropin: „Daß auf vielen Schulen zu viel Zeit auf Wortkram und Silbenzählen verwendet und mit dem heillosen Diktiren, der elendesten Methode, die es geben kann, verschwendet wird; daß die Schüler dadurch für Gegenstände des Unterrichts, die den Verstand in Anspruch nehmen und nicht bloß Gedächtniß und grammatischen Fleiß in allen Sprachen erfordern, unempfänglich werden; daß die jungen Leute, mit Schulstunden überhäuft, zu viel und zu lange ununterbrochen still sitzen müssen; daß Körperübungen vernachlässigt werden; daß also nicht darauf hingearbeitet werde, ut sit mens sana in corpore sano; daß besonders junge Lehrer oft einen herrischen, barschen Ton annehmen; daß dies auf vielen Schulen, sage ich, der Fall ist, daß das Mängel und Fehler sind, denen das Philanthropin nicht unterworfen war.“ Vieth’s Stellung zu den Leibesübungen ist hier besonderes zu gedenken. Schon als Knabe mit ungewöhnlicher körperlicher Kraft und Gewandtheit begabt, benutzte er in Göttingen die den Studierenden gebotene Gelegenheit, sich im Fechten, Tanzen, Voltigiren und Reiten zu üben. Er that sich mit Freunden zu gemeinschaftlichen Uebungen zusammen, und noch in spätem Alter gedachte er mit Freuden jener thatfrohen Zeit. Seine Abneigung gegen Leipzig mag damit zusammenhangen, daß an der [684] Universität zu der Zeit, als V. sich dort aufhielt, die körperlichen Uebungen, besonders das Voltigiren, in geringer Achtung standen.

Das Philanthropin zu Dessau war bekanntlich eine Hauptpflegestätte der Gymnastik. Aber auch betreffs der Hauptschule sagt V. in seiner Jubiläumsrede: „Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper! Das ist der große Zweck, auf den jede Erziehungs und Lehranstalt hinarbeiten muß, diesen hat auch unsere Anstalt während ihrer fünfzigjährigen Dauer nicht aus dem Auge verloren, und wir dürfen daher hoffen, daß sie sich nicht scheuen darf, mit den besten des deutschen Vaterlandes in die Linie zu treten.“ V. hat die körperlichen Uebungen „immer geliebt“, als Knabe, als Jüngling, als Mann. Diese Liebe bewirkte, daß er ihnen auch eine eingehende theoretische Betrachtung widmete, und daß diese fortdauernde Beschäftigung ein Werk gezeitigt hat, das Vieth’s litterarische Haupt-, ja Lebensarbeit werden sollte, das neben Guts Muths’ „Gymnastik für die Jugend“ und Jahn’s „deutscher Turnkunst“ die bedeutendste Stelle in der Turnlitteratur einnehmend, in wissenschaftlicher Beziehung jener Männer Werk weit überragte. Es ist Vieth’s „Versuch einer Encyclopädie der Leibesübungen“, deren erster Theil: „Beiträge zur Geschichte der Leibesübungen“, in Berlin 1794 (die Vorrede datirt vom December 1793), der zweite: „System der Leibesübungen“, in Berlin 1795, und der dritte: „Zusätze zum ersten Theile der Encyclopädie der Leibesübungen“, in Leipzig 1818 erschienen ist.

Ursprünglich wollte V. ein praktisches Lehrbuch der Gymnastik schreiben und war deshalb schon 1791 mit einem Berliner Buchhändler in Verbindung getreten. Als er aber erfuhr, daß auch Guts Muthes im Begriff war, eine Gymnastik herauszugeben, änderte er seinen Plan und schrieb seine Encyclopädie. Der erste Band enthält so ziemlich alles, was man damals von der Geschichte der Leibesübungen wußte. Es zeigt sich darin eine erstaunliche Belesenheit, die sich auch auf die geographischen Werke jener Zeit erstreckt; denn auch von den Leibeßübungen und Spielen der Südseeinsulaner weiß V. zu erzählen. Wichtiger und bedeutender ist der zweite Band: „Das System der Leibesübungen“. Hier vereinigt V. alles, was er erstrebt, gelernt und getrieben, wie in einem Brennpunkt. Mathematisches, physicalisches Wissen, anatomische, pädagogische Kenntnisse, gehen Hand in Hand mit praktischem Verständniß der Leibesübungen im weitesten Umfang. Dazu kommt geübter kritischer Blick und eine Klarheit und Lebendigkeit der Darstellung, die noch jetzt den Leser fesselt. Nicht mit Unrecht hat man Vieth’s Encyclopädie ein classisches Buch genannt. Es verdient diese Bezeichnung nicht weniger als Guts Muths’ Gymnastik und Jahn’s deutsche Turnkunst.

Zur Erinnerung an Gerhard Ulrich Anton Vieth u. s. w. Aus seinem Nachlaß von Dr. Gustav Krüger, Oberschulrath, Dessau 1885. – K. Wassmannsdorff in den Jahrbüchern der Turnkunst 1885, 1890; deutsche Turnkunst 1860 und 1861. – Carl Euler, Geschichte des Turnunterrichts, 2. Aufl. (Gotha), S. 60 ff. – Derselbe, Sonntagsblatt Nr. 18 zur Vossischen Zeitung 1895.