Verschiedene: Die Gartenlaube (1894) | |
|
Alle Rechte vorbehalten.
Aufbruch im Kriegshafen.
Scheiden! – ein inhaltschweres Wort!
Am Quai des Krieghafens sehen wir ein Kauffahrteischiff. Wie eine Friedenstaube nimmt es sich aus zwischen den mächtigen Panzerkolossen, deren Kanononenmündungen uns drohend entgegenstarren. Aber so ganz dürfen wir dem Frieden doch nicht trauen, denn das Schiff, ein Schraubendampfen, soll jedenfalls mittelbar einem kriegerischen Zweck dienen.
Vor ihm zeigt sich unseren Augen ein buntbewegtes Bild. Zahlreiche Angehörige der Kaiserlichen Marine, vom gewöhnlichen Matrosen bis zum höheren Offizier, bewegen sich zwischen Männern, Frauen und Kindern aus allen Klassen des Bürgerstandes. Jene sind soeben von dem gleichfalls am Quai des Binnenbassins liegenden kleineren Marinedampfer ausgeschifft worden, von welchem sie mit Sack und Pack, d. h. mit Gewehr, Seitengewehr, Kleidersack und Brotbeutel ausgerüstet, zu dem gecharterten Handelsdampfer, dem „Rhein“, hinüberziehen. Andere Mannschaften der Marine sehen wir bereits an Bord des „Rheins“, unthätig an die Reeling gelehnt, ernsten Antlltzes auf die wogende Menschenmasse niederschauend.
Thränen in den Augen der Weiber und Kinder? Was soll das? Wir forschen, fragen.
„Ein Ablösungskommando von 300 Mann nach den Gewässern der Südsee“, wird uns zur Antwort. Da wird’s auch uns weich ums Herz. Mit anderen Augen betrachten wir jetzt die Menge. Nun verstehen wir das schmerzbewegte Gesicht der jungen Frau mit dem Säugling auf dem Arme, das verhaltene Schluchzen des jungen Mädchens, den trüben Blick des alten Mütterchens. Soll doch der Gatte, Vater, Bräutigam, Bruder, Sohn ihnen auf Jahre entrissen werden, in fernen, fremden Erdteilen weilen, preisgegeben den mannigfachen Gefahren einer langen Seereise, eines tückischen Klimas, eines Kampfes mit wilden Völkerstämmen!
Die Scheidenden bewahren eine bewunderungswürdige Fassung; nur hin und wieder zeigt uns ein verräterisches Zucken im Gesicht, daß auch sie ein Herz haben. – Noch einige kurze, herzergreifende Abschledsscenen, dann ist alles an Bord, die starken Trossen, die Befestigungstaue, werden losgeworfen – die Verbindung mit dem heimatlichen Boden hat aufgehört! Die Schleusenthore öffnen sich, langsam bewegt sich das Schiff durch den langen Kanal und in den Vorhafen hinein. Hier bleibt es noch einmal dicht am Quai liegen, auf genügend Hochwasser zum Durchschleusen wartend und gleichzeitig, um die letzte Inspektion durchzumachen. Die Menge ist gefolgt und harrt trotz des eingetretenen Regens geduldig aus. Die Kapelle der Matrosendivision hat sich eingefunden, die schwere Abschiedsstunde durch muntere Weisen erleichternd. Das Oberdeck des Schiffes ist dicht besetzt von denjenigen Scheidenden, welche ihre am Quai harrenden Lieben wenigstens noch sehen wollen.
Mittschiffs, neben dem Maschinenluk des „Rheins“ steht plaudernd eine Gruppe junger Applikanten. Sie unterhalten sich über ihre nächste Zukunft. Welch vielartige Anregungen und Abwechslungen stehen ihnen bevor! Ein längerer Dienst auf einem fernen Kriegsschiffe, eine Reise um die Erde ist ihre Bestimmung, fürwahr geeignet, ein phantasievolles Gemüt zu berauschen. Einer aber aus ihrer Mitte, ein neunzehnjähriger Jüngling, nimmt keinen Anteil an der Unterhaltung. Nicht als ob er gleichgültig wäre gegen das, was ihn erwartet – er hat sich gewiß nicht weniger auf diese erste Reise gefreut als die andern – ihm ist jetzt so weh, so weh! Die Kameraden verlassen heute nur ihre Garnison, das Vaterland – er alles: Heimatort, Elternhaus, Freunde. Er lebte hier bei seinen Angehörigen und war noch nie in der Fremde. Bleich, starren Auges blickt er zum Quai, wo seine betagten Eltern, seine Geschwister stehen und ihren Schmerz zu verbergen suchen. Jetzt fühlt er, was „scheiden“ heißt.
Der Telegraphenbote ist an Bord gekommen. „Matrose Kalczuk!“ Der Aufgerufene erscheint, er erblaßt, als ihm das Telegramm übergeben wird. Sagt eine Ahnung ihm Schlimmes? „Mutter sterbend, sofort kommen“, lauten die wenigen, mit Blaustift geschriebenen Worte. Doch mit dem Kommen ist es nun vorbei. Er meint, umsinken zu müssen bei dieser Nachricht. Hat er doch seine arme, alte, jetzt mit dem Tode ringende Mutter, deren einziger Sohn er ist, in der letzten Zeit arg vernachlässigt. Vor einigen Monaten hatte sie ihm das unter den größten Entbehrungen ersparte Reisegeld geschickt, damit er in Urlaub kommen könne. Das Geld hatte er erhalten, aber sein Mütterchen nicht besucht. – Der Urlaub sei ihm verweigert worden, hatte er ihr vorgespiegelt, während er in Wirklichkeit nicht reisen konnte, weil er das Geld in leichtsinniger Gesellschaft verjubelt hatte! – Wieder ein Achtungspfiff – „Antreten in Musterungsdivisionen!“ Seine Excellenz der Herr Stationschef ist nebst Begleitung an Bord gekommen um die Leute zu besichtigen und sich von den Offizieren und Mannschaften des Ablösungstransportes zu verabschieden. Nachdem die Vorgesetzten ihren Rundgang gemacht haben, richtet Seine Excellenz warme, zum Herzen dringende Worte an die Scheidenden, allen eine frohe Heimkehr wünschend.
Jetzt ist die Zeit der Ausfahrt gekommen. Der Vice-Admiral hat den „Rhein“ verlassen; langsam bewegt sich dieser zum Vorhafen hinaus. Als er die geöffneten Schleusenthore passiert, fällt ein Blumenregen auf das Deck nieder. Ein letztes „Adieu!“ „Auf Wiedersehen!“ „Glückliche Reise!“ – dann setzt das Schiff mit Halbdampf ein, und, begleitet von dem unaufhörlichen brausenden Hurra der die Molen dicht besetzt haltenden Volksmenge, teilt es kräftig die Fluten und gleitet majestätisch dem Meere zu. Die Matrosen erwidern das Hurra, indem sie mit überraschender Behendigkeit die Wanten erklettern und ihre Mützen schwenken. Am äußersten Molenkopf hat sich das Publikum besonders dicht angesammelt, um dem „Rhein“ länger mit den Augen folgen zu können. Als er sich diesem Molenkopf nähert, sind die Hurrarufe plötzlich verstummt – ein Lieutenant zur See geht dort hin und her: „Stille! Noch nicht schreien, wir rufen gleich alle zusammen!“ Schier betroffen schauen die Scheidenden auf die stumme Menge, als sei ihnen das Schweigen unerklärlich – da
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_781.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2024)