verschiedene: Die Gartenlaube (1866) | |
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herumzustreifen. Beim ersten Kirchenbesuch war der Knabe kaum in das Gotteshaus getreten, so sank er plötzlich zu Boden, ließ alle Glieder aus den Gelenken fallen und begann mit dem Munde zu schäumen. Je dichter sich die Zuschauermenge um ihn drängte, desto schlimmer ward er, und der Hauslehrer brachte ihn ganz bestürzt nach Hause.
„Da ich argwöhnte, der Knabe verstelle sich,“ fuhr der Director fort, „so begleitete ich ihn am folgenden Sonntage selbst in die Kirche und packte ihn scharf am Kragen, als er sich gerade anschickte, zu Boden zu fallen. Mein Zugreifen verhinderte den Anfall und er gestand mir nachher, er simulire immer einen solchen, wenn er unter eine große Menge Leute komme; es sei so hübsch, wenn man Aller Augen auf sich gerichtet sehe. Unter vernünftiger Behandlung ward er einer der besten Knaben in der Anstalt. Unter vernünftiger Behandlung,“ sprach der Director weiter, „verstehe ich jedoch nicht die moralische Unterweisung allein, denn wir finden, daß nichts so sehr zur Steigung der Selbstachtung der Knaben beiträgt, als die physische Erziehung: Exerciren, Turnen und häufiges Baden haben einen wunderbaren Erfolg. Die gymnastischen Leistungen vieler dieser verkrüppelten Geschöpfe würden manchen geistig und körperlich gesunden Knaben mit geraden Gliedern in Erstaunen setzen; Turnen gewährt ihnen vor allem Andern das größte Vergnügen, und wir haben oft nur Mühe, sie von übermäßiger Anstrengung ihrer Kräfte zurückzuhalten.“
Sämmtliche Knaben sind unter beständiger ärztlicher Aufsicht und jede medicinische Erleichterung ihres Zustandes wird ihnen zu Theil, so daß durch diese sorgfältige Behandlung schon viele den vollständigen Gebrauch ihrer Glieder wieder erlangt haben. Durch einen besonders glücklichen Zufall ist der Director selbst ziemlich vertraut mit der orthopädischen Heilmethode und hat sich durch einige wichtige Verbesserungen in der Anfertigung künstlicher Gliedmaßen hervorgethan. Beim Ueberblick des Lehrplans fand ich zu meinem Erstaunen unter den verschiedenen Unterrichtsfächern auch die Stenographie aufgeführt, und der Director sagte: „Diese Neuerung rührt von mir her, und der Erfolg, den sie bei den Knaben hat, rechtfertigt ihre Einführung vollkommen. Es ist eine Profession, welcher sie zuweilen sich zu widmen im Stande sind, denn sie erheischt kein Betriebscapital,“ setzte er lächelnd hinzu und rief, um mir die Fertigkeit seiner Knaben hierin zu zeigen, einen blauäugigen lahmen Knaben herbei, welchem er eine Stelle aus einer Zeitung schnell dictirte, die der Knabe sogleich niederschrieb. Nach vier Minuten hatte der Knabe dreihundert und sechzig Worte phonographirt und kein einziges ausgelassen. „Nur wenige von meinen Zöglingen bringen es im Stenographiren auf mehr als sechszig Worte in der Minute,“ sagte der Director, „aber dieser da ist auch zugleich einer meiner geschicktesten Arbeiter. He, zeige diesem Herrn hier Deinen kleinen Gemälderahmen!“ sagte er zu ihm.
Der Knabe erwiderte, er stehe im Glasschrank-Zimmer, und führte uns in ein kleines Gelaß, das offenbar als Werkstätte zu feineren Tischler- und Drechsler-Arbeiten diente, denn es standen in den Fenstern Dreh- und Hobelbänke und andere Maschinen und einige Glasschränke an den Wänden. Bevor ich mich aber noch umsehen konnte, hatte der kleine Stenograph einen Rahmen von der Wand genommen und hielt ihn mir lächelnd hin. Es war wirklich ein kleines Meisterstück von schöner Arbeit: auf einem breiten Streifen dunklen Holzes war ein wundervolles Intaglio von Verzierungen, Arabesken, Laubwerk, Vögeln, Muscheln etc. in Metall, Elfenbein und Perlmutter eingelegt; nur die Federn auf den Schwingen der Vögel bedurften noch des Gravirens. Der Knabe erröthete vor Vergnügen ob meines Lobes, und als ich ihn fragte, wer ihm denn beim Ausschneiden und Einlegen dieser feinen Zeichnung geholfen, versicherte er mich, er habe Alles allein gemacht. Das Original, wovon dies eine Copie, war ein Meisterstück französischer Arbeit aus der Renaissance-Periode und von dem Director zum Zweck des Copirens aus Paris mitgebracht worden. Leider finden jedoch derartige Arbeiten wenig Absatz in München.
Der Schlafsaal der Zöglinge befindet sich im obern Stockwerk und sieht reinlich und freundlich aus, nur standen die Reihen der kleinen Bettstellen vielleicht etwas zu dicht beisammen. Die Privatzimmer des Hauslehrers (denn der Industrielehrer wohnt nicht im Hause) und des Directors stoßen an diesen Schlafsaal. Mit einem unbegreiflichen Gefühle der Ueberraschung und des Erstaunens betrat ich auf die Einladung des Directors dessen Zimmer und sah mich wie durch Zauberschlag gleichsam aus der Concentration des verschiedenartigsten menschlichen Elends unter uns in ein stilles, friedliches, altväterisches Heiligthum der Kunst versetzt. In reichgeschnitzten Schränken und auf Gestellen standen ehrwürdige alte Folianten und kleinere Bücher in Pergament und Schweinsleder mit Renaissance-Vergoldungen, seltsame alte Flaschen und Gläser, grimmige mittelalterliche Waffen und Rüststücke und hunderterlei verschiedene Merkwürdigkeiten der Kunst vergangener Jahrhunderte, vom kunstreichen, vielfach verschlungenen kaiserlichen Siegel an bis zu Kästchen und Truhen der Vorzeit mit allerhand eingelegter Arbeit und seltsamem Beschlag, und alle möglichen anderen Curiositäten, welche einzeln aufzuführen mir Raum und Geduld gebricht. Alle diese sorgsam und kundig gesammelten Schätze aber und die Staffelei in der Mitte des Zimmers mit dem halbvollendeten Oelgemälde darauf bekundeten, daß der Herr dieser Räume kein gewöhnlicher Mensch, sondern eine geniale poetische Natur ist, welche über ihrer praktischen Aufgabe auch das nicht vergißt, was dem geistigen Leben einen Inhalt giebt.
Als ich mit dem Director wieder die Treppe hinabging, öffnete sich eben die Thür des Schulzimmers und die Zöglinge kamen unter lautem Lachen und Geplauder heraus. Es war die Erholungsstunde, die mit Exerciren und Turnen ausgefüllt wird. Ich konnte mir’s nicht versagen, die Zöglinge auch bei diesem Treiben zu beobachten, und es erfüllte mir das Herz mit einer stillen Rührung, als ich diese verkümmerten Wesen mit dem Ernst alter Grenadiere ihre Evolutionen machen sah. Dann kamen die Uebungen an Barren und Reck, bei welchen ich wirklich so staunenswerthe Leistungen von Kraft und Gewandtheit sah, wie ich sie von diesen armen verstümmelten und verkrüppelten Exemplaren des Genus Menschheit niemals erwartet hätte, Beispiele von Gelenkigkeit und Schnellkraft, die an das Affen- oder Katzenartige grenzten, aber ihren Urhebern augenscheinlich die größte Befriedigung verursachten.
Bevor ich aber die Feder niederlege, sei noch eines Beispiels von einem armen Krüppel gedacht, des Sohnes einer armen Wittwe vom Lande, die vor etwa dreißig Jahren ihn und seine Geschwister hatte auf den Bettel schicken müssen. Der Knabe war von seiner Heimathsgemeinde der Anstalt anvertraut und in ihr von einem nahezu hülflosen Krüppel zu einem geschickten Arbeiter erzogen worden, hatte nach seinem Austritt aus der Anstalt mit fünfzehn Jahren eine Lehrstelle bei einem Graveur gefunden und sich in seinem Fache so sehr ausgezeichnet, daß er nun einer der geschätztesten Meister seiner Kunst ist, dessen Arbeiten äußerst gesucht sind. Allein die erhaltene Erziehung hat bei ihm auch noch eine andere höhere Frucht getragen; denn dieser Mensch nahm seine Mutter später zu sich, sorgte für sie und seine jüngeren Geschwister und ist ein geachteter Bürger von München geworden, vielleicht kein reicher Mann, aber im Genuß ehrenhaftester Unabhängigkeit; erfüllt von jenem gerechten Selbstgefühl seiner Befähigung, von jener Liebe zu seiner Kunst, welche dem Streben des Künstlers die Weihe giebt. Ohne das Asyl für krüppelhafte Knaben wäre der Mann zu bleibendem hoffnungslosen Elend und dauernder Armuth verurtheilt gewesen und der Menschheit ein wackerer Charakter, der Kunst ein schönes Talent verloren gegangen!
Sollte das nicht eine ernste Mahnung sein, das Werk der Humanität und praktisch zugreifenden Nächstenliebe auch anderwärts auf diese Classe von Unglücklichen auszudehnen und ähnliche Asyle zu gründen?
Einen besseren Cicerone, als ich an Riese gewonnen hatte, dem Verfasser der mustergültigen Operntexte von „Martha“, „Stradella“, der Possen „Guten Morgen, Herr Fischer“, „Stündchen in der Schule“ und anderer dankenswerthen Gaben, mit denen derselbe das deutsche Theater unter dem Autornamen „Friedrich“ bereichert hat, kann sich kein Mensch für das schöne Neapel wünschen.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_547.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)