Erfundenes Mittelalter
Die Phantomzeit-Theorie vom Erfundenen Mittelalter geht auf Heribert Illig, Uwe Topper und H. J. Niemitz zurück. Ihrer Ansicht nach hat die Geschichtsschreibung etwa 300 Jahre des Mittelalters frei erfunden.
Die Theorie
Heribert Illig
Grundlage der These ist Illigs Behauptung, dass es aus der Zeit zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert n. Chr. seiner Ansicht nach nur sehr wenige archäologische Funde gebe, die zudem auch noch falsch datiert seien. Illig nennt diese Zeit auch Phantomzeit. In diese Zeit fällt auch das Leben und Wirken Karls des Großen. All die anderen Karolinger vor Karl III. dem Einfältigen hätten überhaupt nicht existiert.
Die vielen heute noch erhaltenen Grundmauern ihrer unzählbaren Pfalzen - die sich u. a. unterhalb der vielen strategisch relevanten Burgen befinden - oder Königshöfe (wie z.B. in Kaiserswerth) seien nur optische Täuschungen. Ebenso in anderen Ländern beispielsweise die drittgrößte ehemalige Moschee weltweit in Córdoba. Das Fränkische Reich wäre ein Produkt der Phantasie.
Nach Illig (Zeitensprünge 3/1993) beträgt die nachträglich eingefügte Zeit 296 Jahre. Als begründete Arbeitshypothese grenzt er den fraglichen Zeitraum sogar auf die Spanne September 614 bis August 911 ein.
Uwe Topper
Uwe Topper führte die Theorie weiter und machte weitere Angaben zu der möglicherweise fehlenden Zeit (ZS 3/1994). Danach betrage die übersprungene Zeit 297 Jahre - dem Jahr 614 der christlichen Zeitrechnung sei sofort das Jahr 911 gefolgt. Im Jahr 614 wurde die Stadt Jerusalem von den Persern erobert, sie war damit dem christlichen Byzanz verloren gegangen.
911 war tatsächlich für das Abendland ein wichtiges Jahr - in Deutschland starb der letzte Karolinger, und Konrad I. wurde deutscher König. In Frankreich wurden die Normannen mit der Normandie belehnt. In Byzanz herrschte mit Konstantin Porphyrogennetos einer der wichtigsten Herrscher, unter dem eine glanzvolle Kulturblüte begann.
Als Begründung für seine These behauptete Topper, der Islam sei eine Nebenform des Arianismus - in der Tat wies der Arianismus einige wesentliche Glaubensinhalte auf, die auch für den frühen Islam typisch sind. Nach dem Konzil von Nizäa im Jahre 325, auf dem Arius verurteilt worden war, habe sein Anhänger Mohammed aus Mekka fliehen müssen und damit den Beginn der islamischen Hedschra-Zeitrechnung ausgelöst. Nach der landläufigen Geschichtsschreibung liegt dieser Zeitpunkt im Jahr 622. Zwischen 325 und 622 liegen 297 Jahre.
Nach Topper versuchten die Christen, als der Islam sich über weite Teile des Orients ausbreitet hatte, dessen Zusammenhang mit dem Christentum zu vertuschen, und legten deshalb dessen Entstehung in eine spätere Zeit. Bei den (arianischen) Goten war als Zeitrechnung die Era in Gebrauch, die mit der Einführung des Julianischen Kalenders im Jahr 44 v. Chr. begonnen haben soll. Die Christen legten nun angeblich Mohammeds Flucht auf das Jahr 666 der Era (666 = Zahl des Antichrist), was dem Jahr 622 n. Chr. entsprochen hätte.
Nach landläufiger Geschichtsschreibung geht die Era aber auf ein unbekanntes Ereignis im Jahre 38 v. Chr. zurück, sie hat also wahrscheinlich weder mit dem Arianismus zu tun, noch gibt es den Zusammenhang mit der Zahl des Antichrist. Den Unterschied zwischen 38 und 44 v. Chr. erklärt Topper damit, dass das Geburtsjahr Jesu nicht genau bekannt sei und er möglicherweise ein paar Jahre vor dem Beginn der Zeitrechnung geboren wurde (was wahrscheinlich auch der Fall war).
Indizien und Gegenindizien
Gegenindizien
Für den fraglichen Zeitraum existieren zehntausende von Dokumenten (Grundstückgeschenke an die Klöster, Testamente usw.) mit exaktem Datum und Unterschrift sowie Grabmäler oder Bauwerke mit datierten Inschriften aus allen Ländern Europas, insbesondere aber unzählbare geprägte Münzen, die das Gegenteil beweisen. Zahllose Mosaiken in den alten italienischen Kirchen stammen nachweisbar aus dieser Zeit. Aber vor allen Dingen hat man es den Mönchen des 7. und 8. Jahrhunderts zu verdanken, dass die geschichtlichen Ereignisse jener Zeit durch ihre Fleißarbeit in noch heute erhaltenen handschriftlichen Dokumenten aufgeschrieben wurden. Denn nicht nur die bedeutenden Gelehrten des frühen Mittelalters wie beispielsweise Beda Venerabilis, Einhard, Alkuin usw. hielten die geschichtlichen Zusammenhänge in ihren Werken fest. Diese schriftlichen Fakten werden durch archäologische Befunde und Ausgrabungen des 7. bis 9. Jahrhunderts ergänzt (Schmuck, Waffen usw.). Die diversen Fundstücke und andere Daten werden von den Historischen Hilfswissenschaften analysiert und dienen als Basis für weitere wissenschaftliche Arbeiten, von der Datierung bis hin zur Erstellung von Zeittafeln. Beispielsweise durch die Dendrochronologie kann die genaue Entstehungs- und Bauzeit eines Wikingerschiffes geklärt werden, welches nach Ansicht oben genannter Personen überhaupt nicht existieren darf. Deshalb wird in der Fachwelt wie auch in der Allgemeinheit die Theorie vom Erfundenen Mittelalter meist belächelt.
Allerdings zweifeln auch innerhalb der Fachwissenschaften immer einige wenige an der Echtheit fast aller überkommenen Dokumente oder Inschriften, obwohl deren gesammelte Vielzahl in den mehrbändigen Werken wie z.B. "Monumenta Germaniae Historica" , "Corpus Inscriptionum Latinarum" oder Book of Kells akkurat dargestellt ist . In vielen Städten kann jedermann Dokumente des 9. Jahrhunderts besichtigen, beispielsweise die Papyrussammlungen der Kölner Universität, die Collectio Anselmo dedicata im "Deutschen Historischen Museum" in Berlin oder den berühmten Originalentwurf eines idealen Klosters in St. Gallen von 820. Dort befindet sich auch in der ehemaligen Stiftsbibliothek der größte Bestand an Originalurkunden aus dem Frühmittelalter nördlich der Alpen; allein aus dem 9. Jahrhundert sind hier nachweisbar fast 600 Urkunden erhalten. Sogar zahlreiche karolingische Kaiserurkunden befinden sich darunter - den weitaus größeren Teil bilden allerdings die datierten Privaturkunden, die Rechtsgeschäfte wie Schenkungen, Tauschgeschäfte, Veräußerungen oder Landleihen zwischen dem Kloster und lokalen Grundbesitzern beinhalten. Ebenso liefern die Naturwissenschaften Beweise zur Widerlegung der Illig'schen These, denn sie werden bei jeder archäologischen Ausgrabung gebraucht, weil sich im Boden natürlich keine schriftlichen Zeugnisse befinden. Die analysierten Fundstücke des 7. bis 9. Jahrhunderts als Ergebnisse mehrjähriger Forschungsarbeit werden in vielen Museen ausgestellt, z.B. finden sich allein in Köln mehrere Dutzend. In ganz Europa liegt ein sehr große Anzahl (evtl. über 100.000) von Fundstücken vor. Auch die Knochen damals lebender Menschen wie die des heiligen Suitbert oder des Liudger könnten heute noch wissenschaftlich untersucht werden.
Erwiderungen auf die Gegenindizien
Die bereits genannten Indizien, die gegen die Theorie vom Erfundenen Mittelalter sprechen, werden durch die Anhänger der Theorie wie folgt zu widerlegen versucht:
- Für den fraglichen Zeitraum existieren zehntausende von Dokumenten (Grundstückgeschenke an die Klöster, Testamente usw.) mit Datum und Unterschrift in sämtlichen Ländern Europas.
- Hierzu Prof. Johannes Fried ('Nr.1' der deutschen Historiker) 1996: "Ich muß daran erinnern, daß gegenwärtig mit großem wissenschaftlichen Aufwand eine These diskutiert wird, die das Gros der bislang für original überliefert, also unzweifelhaft echt gehaltenen karolingischen, ottonischen und salischen Königsurkunden zu Fälschungen der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erklärt. Unsinn? Irrtum? Oder der erste Schritt zu grundstürzendem Umdenken?"
- Wie der Historiker Faußner darlegt, entstand die rechtliche Grundlage für Schenkungsurkunden erst durch das Wormser Konkordat 1122.
- Die Kaiser des Frühmittelalters signierten der Überlieferung nach ihre Urkunden durch einen kurzen Strich im vorgefertigten Monogramm. Das Monogramm Karls des Großen ist identisch mit dem von Karl dem Einfältigen Anfang des 10. Jahrhunderts.
- Münzen, die dem Frühmittelalter (FMA) zugeordnet werden
- Die Münzen des FMA wurden über die darauf genannten Herrscher datiert, diese wiederum aus den Schriften (s.o.). Auch die Münzen Karls des Großen sind identisch mit jenen von Karl dem Einfältigen.
- Bauwerke aus allen Ländern Europas
- Als einziges erhaltenes Bauwerk Karls d. Gr. (der den Urkunden nach hunderte von Pfalzen und Klöstern gegründet hat) gilt die im Stil der Hochromanik errichtete Pfalzkapelle in Aachen. Die Entwicklung der Romanik begann im 10. Jahrhundert.
- Die Arbeiten von bedeutenden Gelehrten des frühen Mittelalters wie beispielsweise Beda Venerabilis, Einhard usw.
- Diese sind uns als Abschriften des Hochmittelalters überliefert. R. Newton wies darauf hin, dass Beda die Verwendung der Null schon geläufig war. Dieses Zeichen wurde im Abendland seit dem 11. Jahrhundert verwendet. Auf die Widersprüche in Einhards Werk wies Leopold v. Rancke schon vor über 100 Jahren hin.
- Frühmittelalterliche Prachtschriften wie das Book of Kells
- Keines dieser Werke ist in der Fachwissenschaft unangefochten. Die Schmuckmalereien des Book of Kells wurden der Gotik zugeordnet, der verwendete Farbstoff Ultramarin stand erst nach der Widerbelebung des Orienthandels im 11. Jahrhundert zur Verfügung.
- Ausgrabungen
- Die Stratigraphie zeigt eine vollständige Fundleere zwischen Spätantike und Hochmittelalter. Systematische Untersuchungen für das Land Bayern, für Polen, Sizilien, aber auch für den nahen Osten (Biblos) bestätigen diesen Befund. Archäologische Einzelfunde (z.B. Wikingerschiffe) wurden mit naturwissenschaftlichen Verfahren in die überkommene Chronologie eingeordnet (s.u.).
- Datierungen mit der Radiokarbonmethode
- Diese liefern einen Wert für das Alter von organischen Proben. Mit Hilfe einer Kalibrierung an der Dendrochronologie erfolgt die Bestimmung der zugehörigen Jahreszahl.
- Vergleich von Baumringfolgen (Dendrochronologie)
- Diese liefert eine Jahreszahl. Übersehen wird dabei häufig, dass die Dendrochronologie entwickelt wurde, mit dem Ziel, die bestehende Chronologie abzubilden, womit deren Gültigkeit bereits vorausgesetzt wurde (siehe Probleme radiometrischer Datierungsmethoden). Interessanterweise dauerte es Jahrzehnte, bis Ende der 70er Jahre die Verbindung zwischen der Dendrochronologie der Antike und einer aus der Gegenwart zurückweisenden Dendrochronologie hergestellt werden konnte.
- Änderungen der politischen Landkarte - Ausbreitung des Islam
- Auffällig ist, dass sich die überlieferten Grenzziehungen des frühen 6. Jahrhunderts. und des frühen 10. Jahrhunderts aüßerst ähnlich sind. Dies überrascht, wenn man an die große Zahl der im Frühmittelalter geführten Kriege denkt.
- Keine Überreste aus dem Frühmittelalter wurden in Córdoba gefunden, welches der Überlieferung nach damals eine Million Einwohner besaß. Die ältesten Fundstücke des dortigen Kalifats stammen aus der Zeit von Al Rachman II. im 10. Jahrhundert.
- Bestätigung antiker Beobachtungen durch astronomische Rückrechnungen
- Der Astronom Professor Hermann hierzu (2000): "Ein bis ins letzte unanfechtbarer Beweis gegen Illigs These kann allein anhand von historischen Sonnenfinsternissen wohl nicht geführt werden. Dazu wäre es erforderlich, daß die Echtheit der jeweiligen Quelle, ihre fehlerfreie Überlieferung, die Gewißheit ihrer Zuverlässigkeit, eine eindeutig zuzuordnende Beschreibung des Ereignisses sowie dessen konkretes Datum anhand von Verknüpfungen mit anderen geschichtlichen Ereignissen gegeben wären. Bietet nur eines dieser Kriterien bezüglich einer Finsternis Anlass zu Zweifeln, kann die These von der Phantomzeit im strengen Sinn nicht als widerlegt gelten."
- Bei den Vorarbeiten zum GPS-System untersuchte R. Newton im Auftrag der US-Navy den zeitlichen Verlauf der Erdrotation. Aus den Ortsangaben historischer totaler Sonnenfinsternisse ergab sich eine Anomalie im Frühmittelalter, die von ihm als Beschleunigung (!) der Erddrehung verstanden wurde.
Weitere Beobachtungen
Indirekt bestätigt wird eine um 300 Jahre gekürzte Chronologie durch die naturwissenschaftlichen Datierungsverfahren: Der konventionellen Chronologie zufolge wäre eine Vielzahl von Hypothesen erforderlich, um den eigentümlichen Verlauf von rekonstruierten Variablen zu erklären, die das Frühmittelalter überspannen. Als Beispiele solcher Variablen seien genannt:
- Die archäologische Fundhäufigkeit
- Die auflaufende Abweichung des julianischen Kalenders (s.u.)
- Die nach Sonnenfinsternisbeobachtungen ermittelte Erdrotation
- Die Belegdichte der Dendrochronologie sowie deren Streuung
- Der um 300 Jahre versetzte Langzeittrend bei der C14-'Kalibrierung'
- Das Zustandekommen geradliniger 'Wiggels' bei C14
- Die von der Kalibrierkurvensteigung abhängige Streuung von C14-Messungen
- 300 Jahre Abweichung bei C14 aus Jahressedimenten (sog. Varven)
- Die Korrelation zwischen Eichenwuchs und C14
- Die Verdoppelung der Eichenwuchskurve im FMA
- Die Entwicklung der Schriftlichkeit, des Handels, der Architektur - uvam
Ein weiteres Indiz für die Thesen Toppers und Illigs findet sich in der Kalenderreform Gregors XIII., der 1582 den Gregorianischen Kalender einführte. Den 1600 Jahre alten Julianischen Kalender veränderte er dahingehend, dass die vollen Jahrhunderte wie 1700, 1800 und 1900 keine Schaltjahre mehr sind - außer wenn sie durch 400 teilbar sind, wie 1600 oder 2000. Da der Julianische Kalender 44 v. Chr. eingeführt worden war, hätte man seitdem 13 Tage zuviel gezählt haben müssen. Nach der Enzyklika 'Inter Gravissimas' ("..vernum aequinoctium quod a patribus Concilii Nicaeni ad xii. Kalend Aprilis fuit constitutum") Papst Gregors wurden aber nur zehn Tage aus dem Kalender gestrichen. Der Papst nahm also nicht Caesars Kalenderreform, sondern das Erste Konzil von Nizäa (325) als Ausgangspunkt.
Reaktion in der Öffentlichkeit
Das Interesse an der Chronologiekritik im Allgemeinen, sowie an Illigs These mag auch darin begründet sein, dass die Postulierung einer Phantomzeit für viele Leser eine bestehende Lücke in ihrer zeitlichen Vorstellung der Geschichte Europas füllt -- im Geschichtsunterricht der heutigen "aufgeklärten" Zeit werden ja solche Zeiten, die nach heutiger Ansicht nichts zur Aufklärung beitrugen, kaum behandelt.
Ein weiterer Grund für den Medienerfolg Illigs mag die prinzipielle Neigung der Öffentlichkeit sein, Außenseitern ihr Ohr zu leihen, deren Thesen vom institutionellen akademischen Wissenschaftsbetrieb unterdrückt werden. Das wirkliche Problem liegt jedoch weniger darin, dass "eine Krähe der anderen kein Auge aushackt", sondern in der (verständlichen) Scheu der meisten Wissenschaftler, die vorhandenen Widersprüche auf dem eigenen Fachgebiet zu thematisieren, wo doch anscheinend "die Daten aller anderen Fachwissenschaften die konservative Chronologie bestätigen."
Schließlich wurde die 'Phantomzeitthese' auch in die Nähe des Rechtsextremismus gerückt, was entweder die These selbst oder die Geschichtswissenschaft in Misskredit bringen soll, z.B.: "Wer den Sachsenmord durch Karl d. Gr. leugnet, der leugnet auch den Judenmord". "Wenn die Wissenschaft 300 gefälschte Jahre nicht entdeckt hat, warum sollte ein gefälschter Holocaust nicht ebenfalls übersehen worden sein", so dagegen die Argumentation von Holocaust-Leugnern.
Literatur
- Heribert Illig: Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte. ISBN 3548364292
- Heribert Illig: Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden. ISBN 3548750648
- Uwe Topper: Erfundene Geschichte. ISBN 3776620854
- Hans Constantin Faußner: Wibald von Stablo: Seine Königsurkunden und ihre Eschatokollvorlagen aus rechtshistorischer Sicht. 4 Bände. Hildesheim 2003.
Weblinks
- http://lelarge.de/faq.html FAQ und Zusammenfassung
- http://www.PhZT-FAQ.de.vu FAQ mit naturwissenschaftlichen Belegen
- http://lelarge.de/astromania.html Astronomische Argumente
Erwiderungen auf die Thesen: