Individuum

[506] Individuum (das Unteilbare, gr. atomon): Einzelwesen, Einzelnes. Metaphysische Individuen sind Wesen, die an sich eine von anderen Wesen unterschiedene, gesonderte Existenzweise haben. Empirisches Individuum ist jedes durch das Denken als relativ selbst�ndige, r�umliche, zeitliche, causale (Kraft-) Einheit Bestimmte. – Die menschlichen Individuen sind in steter Wechselwirkung mit der Gesamtheit, aus der sie sich urspr�nglich herausdifferenzieren, um dann, besonders in den gro�en Individualit�tenEminenzen«, »f�hrenden Geistern«, »Heroen«) auf die sociale Gemeinschaft zur�ckzuwirken. Das Individuum[506] ist nicht �lter als die Gesellschaft, bildet sich nur in ihr aus, wenngleich es einen urspr�nglichen Kern hat, der nicht social, sondern psychologischmetaphysisch bedingt ist.

Der Begriff des Individuums wird schon von SENECA formuliert: »Quaedam separari a quibusdam non possunt, cohaerent, individua sunt« (De provid. 5). PORPHYR sagt (in der Isagog.): atoma legetai ta toiauta, hoti ex idiot�t�n synest�ken hekaston, h� to athroisma ouk an ep' allon tinos pote to auto genoito t�n kata meros. BO�THIUS: »Dicitur individuum, quod omnino secari non potest, ut unitas vel mens; dicitur individuum, quod ob soliditatem dividi nequit, ut adamas; dicitur individuum, cuius praedicatio in reliqua similia non convenit, ut Socrates« (Comm. zur Isagog. 1570, p. 65). Die Scholastiker verstehen unter dem Individuum das »ens omnimodo determinuatum«. THOMAS: »Individuum... est, quod est in se indistinctum, ab aliis vero distinctum« (Sum. th. I, 29, 4c). Nach DUNS SCOTUS ist die Individualit�t (»haecce�tas«) die »entitas positiva«.

THOMASIUS bestimmt: »Individuum est, quod constat ex proprietatibus, quarum collectio numquam in alio eadem esse potest« (EUCKEN, Grundbegr. S. 187). CHR. WOLF: »Individuum est, quod omnino determinatum est« (Ontol. � 227). »Quicquid sensu percipimus, sive externo, sive interno aut imaginamur, id singulare quid est soletque individuum appellari« (Philos. rat. � 43). Nach J. EBERT ist Individuum »ein wirkliches oder einzelnes Ding« (Vernunftl. � 8). PLATNER erkl�rt: »Ein Individuum im engern Verstande ist ein K�rper, welcher sich unsern Sinnen darstellt als ein besonders, meistens auch durch Gestalt, Gr��e und Farbe bestimmtes Ganzes« (Philos. Aphor. I, � 215). »Ein Individuum im weiteren Verstande ist... ein Teil eines gewissen allgemeinen materiellen Ganzen« (l.c. � 216). J. E. ERDMANN nennt Individuum »ein geistiges Wesen, welches das nat�rliche Dasein hat, das man Leben nennt« (Gr. d. Psychol. � 13). C. H. WEISSE z�hlt das »Individuum« zu den Kategorien des Ma�es. Es ist ein »Unteilbares, aber nicht Teilloses«, »bedingt durch sein Bestehen das Bestehen der Teile und wird umgekehrt durch die Teile bedingt«. Es ist »ein dialektisch aufgehobenes Quantum« (Grdz. d. Met. S. 216; ff.). ULRICI betont, »da� den Exemplaren, wenigstens der h�heren Tierarten und namentlich des Menschengeschlechts, ein urspr�nglicher Keim der Individualit�t einwohnt, der zwar unter der Gesetzeskraft des Gattungsbegriffs steht und daher gem�� dem normativen Typus desselben sich entwickelt, aber ihn in und mit seiner Entwicklung zugleich modificiert« (Gott u. d. Natur S. 597). N�GELI: »In physiologischer Hinsicht ist dasjenige als individuell zu betrachten, was selbst�ndig f�r sieh leben kann« (Die Individual. in d. Nat. 1856). SCHUPPE erkl�rt: »Das concret Wirkliche ist das Individuelle... Individuum ist etwas, was nicht etwa tats�chlich, sondern nach seinem Begriffe einzig ist, nur einmal da sein kann« (Log. S. 79 f.). »Concretum oder Individuum ist... zun�chst nur der von einer Qualit�t erf�llte Raum- und Zeitteil« (l.c. S. 80; vgl. S. 115).

Nach dem Pluralismus (s. d.) gibt es absolute Individuen. Der Pantheismus (s. d.) betont die Relativit�t, bezw. die Ph�nomenalit�t der Individuen als solcher. Nach SCHOPENHAUER ist jedes Individuum und dessen Lebenslauf »nur ein kurzer Traum« des unendlichen Willens zum Leben (W. a. W. u. V. I. Bd., � 58). Nach LOTZE sind alle Seelen individuell verschieden (Kl. Schr. I, 242; Met. S. 379). Nach J. H. FICHTE wird der Geist Individuum[507] »durch eigene Tat, durch den ihn individualisierenden Trieb (Willen)« (Psychol. I, 140). Nach E. v. HARTMANN sind die Individuen »objectiv gesetzte Erscheinungen«, »gewollte Gedanken des Unbewu�ten oder bestimmte Willensacte desselben« (Philo(s. d.) Unbew.3, S. 599). Nach A. DREWS ist die Realit�t des Individuums keine Substantialit�t. »Der Kern des Individuums ist der Wille, aber dieser ist ebensogut zugleich auch Wille eines absoluten Wesens. Das Individuum ist Erscheinung, aber das Wesen dieser Erscheinung ist in allen Individuen identisch« (Das Ich S. 316). Die Individuen sind »dienende Glieder zur Verwirklichung des absoluten Zweckes« (l.c. S. 320). – Die relative Selbst�ndigkeit der Individuen betont O. CASPARI. Sie haben etwas relativ Undurchdringliches an sich, sind relativ autonom, bilden aber zusammen ein Weltsystem (»Constitutionalismus«, Zusammenh. d. Dinge S. 431 f.). L. W. STERN: »Jedes Individuum ist etwas Singul�res, ein einzig dastehendes, nirgends und niemals sonst vorhandenes Gebilde. An ihm bet�tigen sich wohl gewisse Gesetzm��igkeiten, in ihm verk�rpern sich wohl gewisse Typen, aber es geht nicht restlos auf in diesen Gesetzm��igkeiten und Typen; stets bleibt noch ein Plus, durch welches es sich von anderen Individuen unterscheidet, die den gleichen Gesetzen und Typen unterliegen. Und dieser letzte Wesenskern, der da bewirkt, da� das Individuum ein Dieses und ein Solches, allen anderen durchaus Heterogenes vorstellt; er ist in fachwissenschaftlichen Begriffen unausdr�ckbar, unclassificierbar, incommensurabel. In diesem Sinne ist das Individuum ein Grenzbegriff, dem die theoretische Forschung zwar zustreben, den sie aber nie erreichen kann; es ist, so k�nnte man sagen, die Asymptote der Wissenschaft« (�b. Psychol. d. individ. Differ. 1900, u. Beitr. zur Psychol. d. Aussage, I. H., S. 17).

Der historische Individualismus (s. d.) sieht in den gro�en Pers�nlichkeiten die eigentlichen Factoren der Geschichte. So z.B. CARLYLE, der die »Heroen« aufs h�chste wertet (Heros and Hero Worship 1841). Der extreme Collectivismus wiederum betrachtet das Individuum als passives Glied der Gesellschaft, als Product der »Umwelt«, des »Milieu«. So besonders L. GUMPLOVICZ (Gr. d. Sociol. 1885; Der Rassenkampf 1883). Eine vermittelnde Richtung betont die Notwendigkeit des Zusammenwirkens der Individuen, der gro�en Pers�nlichkeiten und der Masse, des Milieu (z.B. EUCKEN, Kampf u. ein. geist. Lebensinh. S. 278 f.). So bemerkt WUNDT: »�berall wird der einzelne getragen von dem Gesamtgeiste, an dem er mit all seinem Vorstellen, F�hlen und Wollen teilnimmt. In den f�hrenden Geistern aber... verdichtet sich der gesamte Proce� der zur�ckgelegten Entwicklung, um Wirkungen zu erzeugen, die nun dem Gesamtgeist neue Bahnen anweisen« (Eth.2, S. 491, 458 ff.). Das isolierte Individuum hat nie existiert (l.c. S. 453). – Am Milieu (s. d.) schafft das gro�e Individuum selbst (LINDNER, Geschichtsphilos. S. 55). Die gro�e Pers�nlichkeit sieht mehr, urteilt richtiger, f�hlt tiefer, will kr�ftiger, ist origineller, idealistischer als die Masse (P. BARTH, Philo(s. d.) Gesch. I, 222; GOLDFRIEDRICH, Ideelehre S. 523 ff.). Vgl. Ding, Gesamtgeist, Individuation, Vielheit, Pers�nlichkeit.

Quelle:
Eisler, Rudolf: W�rterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 506-508.
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