Logen-Blog [94]: Über "Konterrevolution" und Bildung
Die Schlacht von Jemappes, die Leutnants Bernadotte und d'Orleans: drei Ansichten aus einer welt-, auch Jean Paul und seinen Gustav bewegenden Epoche. (Fotos: Frank Piontek, 14.2. 2013)
Wir bleiben in Frankreich, wir bleiben bei der Revolution, genauer: beim Revolutionskrieg des Jahres 1792, in dem Jean Paul seinen Roman (im Juni) als Fragment beendete. Paris und Schwarzenbach sind nur 700 Kilometer voneinander entfernt, auf dem Landweg hätte Jean Paul vielleicht noch 100 oder 120 Kilometer hinzuzählen müssen.
Frankreich 1792: das Land kämpft seit August gegen die verbündeten Truppen Österreichs und Preußens Danton ruft aus: „Die dröhnende Sturmglocke ruft, um die Feinde des Vaterlandes niederzuschmettern. Dazu bedarf es der Kühnheit, nochmals der Kühnheit und abermals der Kühnheit, und Frankreich ist gerettet!“ Sogenannte konterrevolutionäre Häftlinge sollen, heißt es, einen Ausbruch planen; daraufhin werden „Volksjustiztribunale“ eingerichtet, die Dutzende von Gefangenen zum Tode verurteilen. Anfang September werden etwa 1100 Menschen in einem Massaker ermordet, der Justizminister Danton schreitet nicht ein. Thomas Jefferson schreibt vieldeutig, dass bei dieser Terroraktion viele Schuldige ums Leben kamen, die er betrauere, wie er jene betrauere, die bei einer Schlacht starben: „Es war notwendig, den Arm des Volkes zu gebrauchen“: eine Maschine, die „blind bis zu einem gewissen Grad sei“. Weiter in der Chronik der späten Zeit der Unsichtbaren Loge: Bei Valmy sehen wir auch Goethe stehen, die Alliierten ziehen sich zurück.. Am 6. November 1792 siegt das Revolutionsheer unter General Dumoriez bei Jemappes, auf heutigem belgischem Boden also, gegen die österreichischen Truppen, womit die Österreichischen Niederlande erobert werden: ein Wendepunkt.
In Versailles sehe ich das Gemälde dieser Schlacht an der prominenten Stirnseite des Schlachtensaals, der die militärischen Ereignisse und Protagonisten der Jahre 1791 und 1792 in einer Ruhmeshalle verewigt. Wie sich die Länder und Sitten doch völlig gleichen: in der Eremitage von St. Petersburg haben sie ihre Militärs aufgehängt, die im Krieg gegen Frankreich Lorbeeren sammelten, hier kollektionierten sie die Generäle und Marschälle, die 20 Jahre zuvor gegen die Österreicher und Preußen kämpften, welche später für Russland fochten. Der Saal hinter der Treppe der Königin, im ersten Stock des Schlosses, ist freilich wesentlich kleiner, doch nicht modern ruhm- und gewissermaßen blutdurchtränkt.
Einer der Herren fällt mir besonders auf, er hat gleich neben der Eingangstür einen prominenten Platz erhalten: Jean-Baptiste-Jules Bernadotte. 1791 war er „Lieutenent au 36e régiment de Ligne“, 1804 Maréchal de France – und schließlich, 1818, König von Schweden und Norwegen. Ich kenne ihn – weil ich vor vielen Jahren, es muss 1977 gewesen sein, Désirée Clary kennengelernt habe: „Désirée, die Ersehnte“, wie Napoléon alias Marlon Brando in dem berühmten Film so schön sagt. Verlobt mit dem späteren Diktator, lernte sie den gutaussehenden Leutnant kennen; das war es dann. Die kleine Seidenhändlertochter aus Marseille hätte es es sich nie träumen lassen können, irgend wann einmal Königin von Schweden zu werden. Ich weiß noch, wie ich damals in Jean Simmons verliebt war, die die Dame spielte. Ja, sie war sehr schön, aber heute wundere ich mich ein bisschen. Ich weiß auch noch, dass ich es damals nicht geschafft habe, das Buch zum Film – Annemarie Selinkos Roman[1] – komplett zu lesen: auch dieses Projekt blieb, glaube ich, eine geborne Ruine.
Ein deutsches Cover für den Roman Desirée aus vergangenen, ein amerikanisches aus heutigeren Zeiten.
Man muss es sich an diesem Ort bewusst machen: dass alle Herrschaften, die wir hier sehen, Zeitgenossen des Dichters waren, der in revolutionären Zeiten eine Biographie über einen Knaben schreibt, der sich, ob er will oder nicht, schon bald zur Revolution verhalten muss. Leute wie der Rittmeister aber haben alle Gründe, um die Revolution abzuwehren; die Versendung eines „konterrevolutionären“ Heers gegen die Aufständischen liegt im aktuellen Interesse eines moralisch verrotteten Adels. Nicht, dass man ihnen die Guillotine wünschte – aber 1791/92 schreibt sich ein derartiger Erziehungsroman nicht mehr von selbst: nicht mehr so, als könne man die „Bildung“ von den politischen Zeitläuften abstrahieren. Jean Pauls Wendung gegen die Nachahmer der antiken Literatur ist zugleich eine Wendung gegen die Nachahmung schlechter alter Sitten: für eine Revolutionierung des Lebens, das mit dem Plunder des Ancien Régime nicht mehr zufrieden ist.
[1] Désirée, erschienen im Jahre 1951, sollte der letzte Roman der Autorin bleiben, die immerhin bis 1986 lebte. Schade, ich habe sie nie kennen gelernt, denn sie hatte eine interessante Biographie: nach ihrem Erstling Ich war ein hässliches Mädchen, der 1937 sofort Erfolg hatte, heiratete die Österreicherin nach Dänemark ein, wo sie nach Einmarsch der Nazis in den Widerstand ging. 1943 wurde sie von der Gestapo verhaftet, doch konnte sie mit ihrem Mann nach Schweden entkommen. Hier war sie für Nachrichtenagenturen, dann für das Rote Kreuz in Malmö tätig. Mutter und Schwester hatten kein Glück; sie wurden in KZs ermordet. Nach dem Krieg lebte sie schließlich mit ihrem Mann in Kopenhagen, wo sie ihren Welterfolg schrieb. Ehre ihrem Andenken.
Logen-Blog [94]: Über "Konterrevolution" und Bildung
Die Schlacht von Jemappes, die Leutnants Bernadotte und d'Orleans: drei Ansichten aus einer welt-, auch Jean Paul und seinen Gustav bewegenden Epoche. (Fotos: Frank Piontek, 14.2. 2013)
Wir bleiben in Frankreich, wir bleiben bei der Revolution, genauer: beim Revolutionskrieg des Jahres 1792, in dem Jean Paul seinen Roman (im Juni) als Fragment beendete. Paris und Schwarzenbach sind nur 700 Kilometer voneinander entfernt, auf dem Landweg hätte Jean Paul vielleicht noch 100 oder 120 Kilometer hinzuzählen müssen.
Frankreich 1792: das Land kämpft seit August gegen die verbündeten Truppen Österreichs und Preußens Danton ruft aus: „Die dröhnende Sturmglocke ruft, um die Feinde des Vaterlandes niederzuschmettern. Dazu bedarf es der Kühnheit, nochmals der Kühnheit und abermals der Kühnheit, und Frankreich ist gerettet!“ Sogenannte konterrevolutionäre Häftlinge sollen, heißt es, einen Ausbruch planen; daraufhin werden „Volksjustiztribunale“ eingerichtet, die Dutzende von Gefangenen zum Tode verurteilen. Anfang September werden etwa 1100 Menschen in einem Massaker ermordet, der Justizminister Danton schreitet nicht ein. Thomas Jefferson schreibt vieldeutig, dass bei dieser Terroraktion viele Schuldige ums Leben kamen, die er betrauere, wie er jene betrauere, die bei einer Schlacht starben: „Es war notwendig, den Arm des Volkes zu gebrauchen“: eine Maschine, die „blind bis zu einem gewissen Grad sei“. Weiter in der Chronik der späten Zeit der Unsichtbaren Loge: Bei Valmy sehen wir auch Goethe stehen, die Alliierten ziehen sich zurück.. Am 6. November 1792 siegt das Revolutionsheer unter General Dumoriez bei Jemappes, auf heutigem belgischem Boden also, gegen die österreichischen Truppen, womit die Österreichischen Niederlande erobert werden: ein Wendepunkt.
In Versailles sehe ich das Gemälde dieser Schlacht an der prominenten Stirnseite des Schlachtensaals, der die militärischen Ereignisse und Protagonisten der Jahre 1791 und 1792 in einer Ruhmeshalle verewigt. Wie sich die Länder und Sitten doch völlig gleichen: in der Eremitage von St. Petersburg haben sie ihre Militärs aufgehängt, die im Krieg gegen Frankreich Lorbeeren sammelten, hier kollektionierten sie die Generäle und Marschälle, die 20 Jahre zuvor gegen die Österreicher und Preußen kämpften, welche später für Russland fochten. Der Saal hinter der Treppe der Königin, im ersten Stock des Schlosses, ist freilich wesentlich kleiner, doch nicht modern ruhm- und gewissermaßen blutdurchtränkt.
Einer der Herren fällt mir besonders auf, er hat gleich neben der Eingangstür einen prominenten Platz erhalten: Jean-Baptiste-Jules Bernadotte. 1791 war er „Lieutenent au 36e régiment de Ligne“, 1804 Maréchal de France – und schließlich, 1818, König von Schweden und Norwegen. Ich kenne ihn – weil ich vor vielen Jahren, es muss 1977 gewesen sein, Désirée Clary kennengelernt habe: „Désirée, die Ersehnte“, wie Napoléon alias Marlon Brando in dem berühmten Film so schön sagt. Verlobt mit dem späteren Diktator, lernte sie den gutaussehenden Leutnant kennen; das war es dann. Die kleine Seidenhändlertochter aus Marseille hätte es es sich nie träumen lassen können, irgend wann einmal Königin von Schweden zu werden. Ich weiß noch, wie ich damals in Jean Simmons verliebt war, die die Dame spielte. Ja, sie war sehr schön, aber heute wundere ich mich ein bisschen. Ich weiß auch noch, dass ich es damals nicht geschafft habe, das Buch zum Film – Annemarie Selinkos Roman[1] – komplett zu lesen: auch dieses Projekt blieb, glaube ich, eine geborne Ruine.
Ein deutsches Cover für den Roman Desirée aus vergangenen, ein amerikanisches aus heutigeren Zeiten.
Man muss es sich an diesem Ort bewusst machen: dass alle Herrschaften, die wir hier sehen, Zeitgenossen des Dichters waren, der in revolutionären Zeiten eine Biographie über einen Knaben schreibt, der sich, ob er will oder nicht, schon bald zur Revolution verhalten muss. Leute wie der Rittmeister aber haben alle Gründe, um die Revolution abzuwehren; die Versendung eines „konterrevolutionären“ Heers gegen die Aufständischen liegt im aktuellen Interesse eines moralisch verrotteten Adels. Nicht, dass man ihnen die Guillotine wünschte – aber 1791/92 schreibt sich ein derartiger Erziehungsroman nicht mehr von selbst: nicht mehr so, als könne man die „Bildung“ von den politischen Zeitläuften abstrahieren. Jean Pauls Wendung gegen die Nachahmer der antiken Literatur ist zugleich eine Wendung gegen die Nachahmung schlechter alter Sitten: für eine Revolutionierung des Lebens, das mit dem Plunder des Ancien Régime nicht mehr zufrieden ist.
[1] Désirée, erschienen im Jahre 1951, sollte der letzte Roman der Autorin bleiben, die immerhin bis 1986 lebte. Schade, ich habe sie nie kennen gelernt, denn sie hatte eine interessante Biographie: nach ihrem Erstling Ich war ein hässliches Mädchen, der 1937 sofort Erfolg hatte, heiratete die Österreicherin nach Dänemark ein, wo sie nach Einmarsch der Nazis in den Widerstand ging. 1943 wurde sie von der Gestapo verhaftet, doch konnte sie mit ihrem Mann nach Schweden entkommen. Hier war sie für Nachrichtenagenturen, dann für das Rote Kreuz in Malmö tätig. Mutter und Schwester hatten kein Glück; sie wurden in KZs ermordet. Nach dem Krieg lebte sie schließlich mit ihrem Mann in Kopenhagen, wo sie ihren Welterfolg schrieb. Ehre ihrem Andenken.