Skip to content
Publicly Available Published by De Gruyter June 16, 2018

Editorial

  • Tobias Amslinger EMAIL logo , Katharina Einert , Anke Jaspers , Claudia Michalski and Morten Paul

„Try again. Fail again. Fail better.“[1]

Nach der Erwerbung der Verlagsarchive von Suhrkamp und Insel im Jahr 2009[2] veranstaltete das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) im Januar 2011 eine Tagung, auf der das Potenzial von Verlagsarchiven für die Forschung ausgelotet wurde. Die Diskussionen kreisten um Namen wie Peter Handke, Hannah Arendt und Jürgen Habermas.[3] Damit standen prominente VertreterInnen einer ‚Suhrkamp-Kultur‘ im Zentrum, wie sie erstmals 1973 von George Steiner in einem Essay über Theodor W. Adorno noch einigermaßen zurückhaltend („what one might call“) behauptet wurde:

Like Bloch and Walter Benjamin, Adorno has profited formidably from what one might call „the Suhrkamp culture“ which now dominates so much of German high literacy and intellectual ranking. Almost singlehanded, by force of cultural-political vision and technical acumen, the publishing firm of Suhrkamp has created a modern philosophic canon.[4]

Der Verlag verstand es über Jahrzehnte, den Begriff der ‚Suhrkamp-Kultur‘ geschickt in seiner Werbung einzusetzen, und der Suhrkamp-Kanon hat sich fest etabliert. Dabei richtete schon Steiner den Blick nicht nur auf die kulturpolitische Vision, sondern auch auf die Geschäftstüchtigkeit („acumen“) des Verlags. Er zeigte nicht nur das kanonische Feld auf, sondern fragte implizit nach den Praktiken, die zur Erzeugung dieses Kanons beitrugen.

Von den TeilnehmerInnen der Marbacher Tagung hatten sich, wie Oliver Jungen schrieb, nur „sehr wenige [...] die Mühe gemacht, konkrete Fragen an den neuen Bestand zu richten oder gar exemplarisch aus ihm zu schöpfen“.[5] Die black box des Verlagsarchivs blieb ungeöffnet. Umso größer waren die Hoffnungen auf eine Erweiterung der Kulturgeschichtsschreibung der Bundesrepublik, auf einen „Historischen Atlas der intellektuellen Kreise in Deutschland“ (Clemens Albrecht).[6] Nikolaus Wegmann wies auf hunderttausende beschriebene Blätter hin, die auch gelesen werden müssten, und warnte vor der Gefahr, Armeen von DoktorandInnen daran scheitern zu lassen. Statt kulturtheoretischer Entwürfe forderte er ein Nachdenken über Verfahren für den Umgang mit dem Großarchiv.[7]

Das Siegfried Unseld Archiv (SUA) umfasst die Archive des Suhrkamp und Insel Verlags bis ins Jahr 2012.[8] Um diesen umfangreichen Bestand systematisch zu erschließen und dessen Erforschung zu befördern, richtete das DLA in Kooperation mit verschiedenen Universitäten[9] das von der VolkswagenStiftung finanzierte Suhrkamp-Forschungskolleg ein, in dem DoktorandInnen ab September 2012 mit unterschiedlichen Fragestellungen und Schwerpunkten auf Grundlage der Materialien des SUA forschten. Die zur gleichen Zeit einsetzende und von der DFG maßgeblich unterstützte Erschließung begann in der ersten Phase (2011–2017) mit der detaillierten Katalogisierung der überlieferten Dokumente der Verlagsleitung und ausgewählter Lektorate.[10] Hinzu kamen die schriftlichen Hinterlassenschaften der Verleger Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Dazu gehören die Korrespondenzen der Verlagsleitung mit VerlagsautorInnen sowie die sogenannte Allgemeine Korrespondenz aus den Jahren 1960 bis 2002 mit AutorInnen, die nicht bei Suhrkamp veröffentlichten, BuchhändlerInnen, Persönlichkeiten des öffentlichen und kulturellen Lebens und anderen. Außerdem sind die von Siegfried Unseld seit 1970 geführte Chronik sowie alle Jahres- und Reiseberichte erschlossen worden. Seit 2017 werden diese Arbeiten in einem zweiten DFG-Projekt fortgeführt, das schwerpunktmäßig der Überlieferung weiterer Lektorate (Bibliothek Suhrkamp, edition suhrkamp, suhrkamp taschenbücher und andere) sowie der internationalen und wissenschaftlichen Programme gewidmet ist.

Die größten Herausforderungen bei der Arbeit mit dem Verlagsarchiv waren zunächst die Menge,[12] die Heterogenität der Materialien[13] und die Schwierigkeit, einzelne Dokumente in die Strukturen, Prozesse und Praktiken des Verlags einzuordnen. Hierin begründete sich der experimentelle Charakter der im Kontext des Kollegs entstandenen Forschungsarbeiten: Es mussten geeignete Zugänge zum Verlagsarchiv gefunden werden und es war vor Beginn der Archivarbeit nicht absehbar, mit welchen Materialien die Forschenden konfrontiert sein würden.

Obwohl bestimmte Namen im Archiv ständig wiederkehren – prominente Autoren wie Hans Magnus Enzensberger oder Martin Walser, die beiden Verleger Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, einflussreiche LektorInnen wie Walter Boehlich und Elisabeth Borchers, Sekretärinnen wie Burgel Zeeh und andere MitarbeiterInnen wie die für Rechte und Lizenzen zuständige Helene Ritzerfeld –, entsteht aus der Lektüre im Archiv kein geschlossenes Bild. Der über viele Jahre in Frankfurt ansässige Verlag erweist sich als in hohem Maße wandlungsfähiges Konstrukt: Briefe mit neuen Buchvorschlägen, wie sie Jacob Taubes aus den USA,[14] Enzensberger aus Norwegen oder Michi Strausfeld aus Barcelona nach Frankfurt schickten, lösen die Einheit des Ortes auf. Auch Zeit und Handlung differieren, wenn beispielsweise Elisabeth Borchers sich auf der Leipziger Buchmesse Notizen macht, die sie zusammen mit ihrem Sekretariat erst im Verlag verschriftlicht. Der Name ‚Suhrkamp‘ und eine Verlagsadresse wie ‚Lindenstraße 29–35‘ suggerieren eine nur scheinbare Einheit.[15] Der moderne Verlag ist keine ‚Werkstatt‘, wie man sich vielleicht eine frühneuzeitliche Offizin vorstellen mag, sondern zeichnet sich durch eine Vielzahl von Orten, Personen und Praktiken, nicht zuletzt des Lesens, Notierens und Schreibens aus. Dabei entstehen vielfältige Typen von Dokumenten, in denen kulturelle, ökonomische, ethische, politische, soziale und gesellschaftliche Aspekte der Literaturproduktion verhandelt werden. Ihre enorme Größe und ihre arbeitsteilige Organisation unterscheiden Verlagsarchive von AutorInnennachlässen (sofern nicht auch dort SekretärInnen mitgearbeitet haben); ihr breites inhaltliches Spektrum macht sie zu Unternehmensarchiven eigener Art.[16]

Suhrkamp befand sich erst nach dem Kauf des August Lutzeyer Verlags im Jahr 1963 (ab 1964: Nomos Verlag) im Besitz einer eigenen Druckerei. Diese Druckerei war auf Dünndruck spezialisiert, was wohl ein Grund für die Übernahme war, die parallel zum Kauf des auf Klassiker-Ausgaben spezialisierten Insel Verlags erfolgte. Tatsächlich kam es in den 1970er-Jahren aufgrund einer Absatzkrise zu Konzentrationsbewegungen auf dem Buchmarkt. Es bildeten sich Verlagsgruppen und Medienkonglomerate. Das sogenannte Bestseller-Marketing entstand.[17] Der Suhrkamp Verlag reagierte darauf, indem er seinen Charakter als kritischer und anspruchsvoller Verlag betonte und die eigene Geschichte und seine AutorInnen in besonderer Weise pflegte. Jubiläen und Preise wurden Instrumente der Herstellung moderner Klassiker. Diese Arbeit mit und an dem eigenen Image und der Verlagsgeschichte ist dabei selbst ein Effekt der geschilderten Entwicklung der Buchbranche.

Den vielfältigen, sich überlagernden Prozessen, in deren Verlauf im und um den Verlag Schriftstücke entstehen, und den Zwecken und Systematiken, nach denen sie dort aufbewahrt werden (oder eben nicht), steht die Ordnung gegenüber, in der sich der Bestand nach der Erschließung durch die Marbacher MitarbeiterInnen präsentiert: Grüne Archivkästen versammeln an einem Ort, was zuvor durch die ganze Welt flog oder zumindest von einem Büro ins andere gereicht wurde. Dennoch bleibt auch das SUA in Bewegung, und zwar nicht nur durch die Forschungsarbeiten, die das Material zirkulieren lassen, sondern nach wie vor durch die Arbeit des Verlags, der für die Produktion von Werbematerialien oder neuen Büchern – zum Beispiel Briefwechsel oder kritische Editionen – auf sein Archiv angewiesen ist.

Das SUA dokumentiert die Verlagsarbeit in einer erstaunlichen Fülle:[18] Die MitarbeiterInnen archivierten nicht nur die eingehende Korrespondenz, sondern legten auch Durchschläge der vom Verlag versandten Korrespondenz ab. Die so entstandenen Konvolute, die in der Erschließung beibehalten werden, enthalten darüber hinaus Aktennotizen, Gutachten, Verträge oder Rechnungen. Außenkontakte des Verlags und die interne Ablage lassen sich somit gut nachvollziehen. Auch nicht abgeschickte Briefe oder Varianten sind überliefert, sodass sich ein Möglichkeitsraum öffnet: Manches hätte auch anders sein können. Der hohe Grad der Überlieferung sollte dabei nicht vergessen machen, wie viel nicht erhalten ist. Konfrontiert mit den Archivmaterialien erwähnen ehemalige VerlagsmitarbeiterInnen zum Beispiel immer wieder die Bedeutung von ‚Flurgesprächen‘ in der Verlagspraxis, die sich nur sehr bedingt nachvollziehen lassen.[19] Ebenso verhält es sich mit den Gesprächen zwischen LektorInnen und AutorInnen; sie haben nur in den Gesprächsnotizen und Reiseberichten sowie in den Telefonabrechnungen des Verlags ihre Spuren hinterlassen. Außerdem befinden sich einige Bestände weiterhin im Verlag in Berlin, weil sie in die täglichen Arbeitsabläufe eingebunden sind.

Es führt kein Weg aus der Ordnung des Archivs in eine historische Wirklichkeit zurück. Und nach welcher Wirklichkeit wird überhaupt gefragt? Die DoktorandInnen des Suhrkamp-Forschungskollegs sind allesamt LiteraturwissenschaftlerInnen, die sich – was nahe liegt – für die Produkte des Verlags, literarische und wissenschaftliche Bücher, für deren Genese, Rezeption, für Erfolge und das Scheitern interessieren. Damit geht eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf bestimmte Textsorten (z. B. Korrespondenzen) einher. Diese werden vor scheinbar weniger wichtigen Dokumenten (z. B. Abrechnungen) privilegiert. Man mag sich fragen, wie VerwaltungswissenschaftlerInnen, BürokratiehistorikerInnen, JuristInnen oder BetriebswirtInnen sich mit dem SUA beschäftigt hätten. Sie wüssten ganz andere Geschichten aus dem Archiv zu erzählen.

Hans Magnus Enzensberger verhandelte mit Walter Boehlich per Brief über junge AutorInnen, Burgel Zeeh transkribierte Diktate ihres Chefs, Willy Fleckhaus experimentierte mit Gestaltungsentwürfen für Reihen, Elisabeth Borchers dachte sich Buchtitel aus, Claus Carlé erstellte Werbekataloge und Helene Ritzerfeld Übersetzungsverträge – diese Arbeit, die im Archiv ihre Spuren hinterlassen hat, wurde zum Labor des Suhrkamp-Forschungskollegs: Welche Fragen lassen sich an das Verlagsarchiv stellen beziehungsweise welche Antworten liefert das Verlagsarchiv auf welche Fragen? Wie wirkt sich die Ordnung des Archivs auf die Archivfunde aus? Wie lassen sich diese in eine sinnvolle Systematik überführen? Wie die Verlagsarbeit immer auch eine Dimension des Experimentierens enthält, ist auch die Arbeit mit dem unerschlossenen und unbekannten Verlagsarchiv ein Ausprobieren, Verwerfen und Neu-Entwerfen.

Dies erfordert neben der kultur- und medienwissenschaftlichen Erweiterung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen auch deren Verbindung mit benachbarten Disziplinen wie der Buchwissenschaft oder Zeitgeschichte, die sich bereits länger der Erforschung von Verlagen und ihren Archiven widmen.[20] Es galt daher in besonderem Maße, die eigene Perspektive zu reflektieren; auch deshalb, weil den Forschungsarbeiten häufig Theorieentwürfe zugrunde liegen, die selbst Büchern entstammen, die der Suhrkamp Verlag veröffentlicht hat. Solche Vorannahmen legen ein Suchraster fest. Der Weg durch das Archiv ist nichtsdestoweniger von zufälligen und glücklichen Funden geprägt: „Serendipity can be about finding something of value while seeking something entirely different or it can be about finding a sought-after object in a place or a manner where it was not at all expected.“[21]

Ähnliches kann über die Verlagsarbeit selbst gesagt werden. Tatsächlich stellt sich in der Rekonstruktion aus dem Archiv der Erfolg des Verlags gerade als ein Ergebnis seiner Offenheit für parallele, manchmal auch widersprüchliche und konfligierende Entwicklungen dar. Zwar gibt es explizite Absichten – darunter prominent der wirtschaftliche Erfolg –, diese geraten aber leicht in Konflikt miteinander, zumal sie gegebenenfalls auf unterschiedliche AkteurInnen verteilt sind und von unterschiedlichen Bedingungen abhängen. So zeigt sich im Archiv das Verlagsgeschehen auch in Bezug auf die Intentionalität seiner AkteurInnen als in hohem Maße von Kontingenzen geprägt, die oft erst nachträglich zu einer einheitlichen und vor allem zielgerichteten Erzählung geformt werden. Während der Verlag also seine Zufalls- und Glücksfunde retrospektiv in Zusammenhänge einordnet, die den Aspekt des Zufalls verdecken, gilt es in seiner Erforschung, Widerspruch und Kontingenz auszuhalten und transparent zu machen.

Die DoktorandInnen stellten unterschiedliche Fragen an das Verlagsarchiv und die verschiedenen AutorInnennachlässe, die damit verbunden sind: zum Verhältnis von LektorIn und AutorIn, zu literarischen und wissenschaftlichen Reihen oder Programmen, zum Theaterverlag, zum Autor Hans Magnus Enzensberger, zum Literaturaustausch im geteilten Deutschland und zur Internationalisierung des literarischen Lebens in der Bundesrepublik. In Gesprächen im und über das Verlagsarchiv, in Workshops und auf Tagungen entwickelten sich neben Ansätzen zur methodologischen Herausforderung Fragen nach dem epistemologischen Potenzial von Verlagsarchiven für die literatur- und kulturwissenschaftliche, aber auch für die ideen- und wissenschaftshistorische Forschung. So wird das Archiv ein zweites und drittes Mal produktiv. Schon zu Beginn zeigte sich in aller Deutlichkeit, dass das Büchermachen eine eminent soziale und kollektive Praxis ist, bei der die Materialität von Büchern ebenso eine Rolle spielt wie die Aushandlungsprozesse und ihre medialen Bedingungen, die Inhalt und Form bestimmen, paratextuelle Strategien, Ein- und Ausschlussmechanismen sowie Übersetzungs- und Vermittlungsprobleme.

Die Begegnung mit den Archivmaterialien ist immer auch von der Suche nach Orientierungshilfen und Anhaltspunkten geprägt. Wo lassen sich Spuren finden, die zu interessanten Funden verhelfen? Im Falle des SUA wird in diesen Fällen häufig Unselds Chronik zurate gezogen, ein ebenso komplexes wie umfangreiches Konvolut.[22]

Die Chronik setzt mit einem Eintrag vom 6. Januar 1970, unmittelbar nach den Weihnachtsferien, ein: „Durch die lange Pause wurden sehr viele Arbeiten nicht erledigt, die Verlagsarbeit konnte nur zäh beginnen.“[23] Ab diesem Zeitpunkt hält Unseld bis zu seinem Tod 2002 das Verlagsgeschehen in regelmäßigen Aufzeichnungen fest. Die Chronik ist also eine Art Tagebuch des Verlegers, das mit Anlagen (Zeitungsartikel, Briefe, Notizen etc. als Belege für die Eintragungen) heute ca. 30 Archivkästen umfasst. Der Suhrkamp Verlag begann 2010 mit der sukzessiven Publikation. Bis heute sind die ersten beiden Jahre als separate Bände ediert und publiziert. Der Zeitpunkt der ersten Aufzeichnungen erklärt sich unter anderem mit dem sogenannten ‚Aufstand der Lektoren‘ 1968, einem verlagsinternen Streit um demokratische Entscheidungsstrukturen, der nicht beigelegt wurde und als dessen Konsequenz zentrale LektorInnen den Verlag verließen und den Verlag der Autoren gründeten. Dem gingen Konflikte um die Frankfurter Buchmessen 1967 und 1968 voraus.[24] Unseld hielt in der Chronik seine Sicht auf diese Vorgänge fest.

Mittels der Anlagen zur Chronik lassen sich zahlreiche Ereignisse über beigelegte Dokumente, Zeitungsartikel und Aktennotizen rekonstruieren. Die Chronik hat daher großen Wert für die Rekonstruktion der Geschichte des Suhrkamp Verlags. An keiner anderen Stelle im Archiv ist chronologisch und in solchem Umfang versucht worden, Dokumente und Ereignisse aufeinander zu beziehen. Der Versuch einer Verleger-zentrierten Selbsthistorisierung des Verlags, die freilich schon deutlich früher, etwa mit der Publikation der Briefe Peter Suhrkamps 1963, einsetzt, lässt sich hier am besten nachvollziehen. Gerade weil der Verlag wuchs und sich ausdifferenzierte, wurde eine zusammenfassende und bündelnde, wenn auch vorerst interne Verlagsgeschichtsschreibung für den Verleger wichtig. Er knüpfte damit an frühe Praktiken Peter Suhrkamps nach der Trennung vom S. Fischer Verlag an. Auch hier war ein Konflikt Anlass der umfassenden Archivierung geworden. Ulla Unseld-Berkéwicz betont die wichtige Rolle Helene Ritzerfelds, die nach dem Tod von Peter Suhrkamp im Jahr 1959 dessen Nachlass ordnete:

Sie wußte vermutlich durch die Querelen zwischen Gottfried Bermann Fischer und Peter Suhrkamp, wie wichtig es war, Verlagsvorgänge so aufzubewahren, daß sich Gründe und Umstände für vorangegangene Entscheidungen rekonstruieren ließen. [...] So entstand innerhalb des Verlags ein erstes Archiv.[25]

Unseld hatte diesen Nutzen des Archivs gesehen und wusste ihn in der Korrespondenz mit MitarbeiterInnen und AutorInnen einzusetzen. Damit reagiert die Chronik aber auch auf ein allgemeines Problem, das die Literaturwissenschaftler Kai Sina und Carlos Spoerhase ‚Nachlassbewusstsein‘ genannt haben. Sie datieren dieses Bewusstsein mit der deutschen Literaturgeschichte auf den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. So halten sie fest:

Der Nachlass ist kulturhistorisch gesehen ein zentraler Ort einer in sich selbst spannungsgeladenen Posteritätspräzeption: Einerseits ist der Nachlass für den Nachlasser der Ort einer Ohnmacht, eines vollständigen Steuerungsverlusts, andererseits ist er der Ort von Versuchen, das eigene Nachleben zu verwalten.

Einerseits ist der Nachlass verbunden mit starken „Tendenzen der Selbsthistorisierung“, da sich der Nachlasser als einen möglichen historischen Gegenstand späterer Nachforschungen versteht, andererseits zeugen die antizipatorischen Vorgriffe auf das eigene Nachleben gerade von der unhistorischen Vorstellung, die Kultur einer fernen Zukunft sei derjenigen der Gegenwart mindestens so ähnlich, dass ihre Erkenntnisinteressen und -verfahren antizipierbar seien.[27]

Unseld verfügte früh über ein ausgeprägtes Nachlassbewusstsein. An Hans Magnus Enzensberger schrieb er im Jahr 1960, als dessen zweiter Gedichtband erschien: „[F]ür die geschäftsmäßige Ordnung des Verlages, die ja gegenwärtig kontrolliert wird, für unsere Akten, aber auch für die Geschichte brauchen wir ein Dokument, das festhält: die ‚Landessprache‘ ist erschienen.“[28] Die Geschichte als Horizont der letztgültigen Bewertung des Handelns, die hier nebenbei als unpersönliche Akteurin eingeführt wurde, bekam wenig später eine Personalisierung, die viel vom institutionellen Rahmen der Sorge um den Nachlass zeigt. Nach einem brieflichen Konflikt lenkte Enzensberger ein und schrieb: „einer, der in zehn jahren unsern briefwechsel läse, müßte uns für sonderbare leute halten. (vielleicht sind wir das.) nun fehlt es mir, in diesem zusammenhang, an streitlust, und ich will das spiel nicht fortsetzen.“[29] Wenn Unseld den zeitlichen Rahmen in seiner Antwort auf fünfzig Jahre erweitert und sich angesichts der Vorstellung künftiger LeserInnen „amüsiert“ zeigt,[30] ist deutlich, auf wen sich diese Perspektive richtet. Die Entwicklung der Philologie und die Errichtung von Literaturarchiven Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts waren zentrale Entstehungsbedingungen für das literarische und kulturelle Nachlassbewusstsein.[31] So entwickelte sich „eine Art Komplizenschaft des Verlags mit der Literaturgeschichtsschreibung, die sich gleichermaßen auf Autor- und Verlegerpersönlichkeiten konzentriert“.[32]

Die Beispiele veranschaulichen, wie der Verlag und seine Ablagen zum Ort von ‚Archivpolitiken‘ werden, an denen unterschiedliche AkteurInnen partizipieren. Dies veranschaulicht die Chronik auf besondere Weise: In ihrer Perspektive erfährt die Komplexität des Verlagsarchivs eine radikale Reduktion. Es handelt sich bei der Chronik keinesfalls um eine Quelle mit Protokoll- oder gar Notizcharakter, die in den prägenden Begrifflichkeiten des Historikers Johann Gustav Droysen als ein Überrest zu bezeichnen wäre. Vielmehr dominiert in ihr der Traditions-Charakter, ihre Überlieferungsabsicht. Sie entstand nachträglich, indem Unseld bei Gelegenheit seine Einträge auf Diktiergeräte sprach. Seine Chefsekretärin Burgel Zeeh verantwortete die Transkription seiner Diktate, korrigierte aber auch einzelne Stellen. Teilweise fand dieser Vorgang der Aufnahme und Verschriftlichung erst Wochen nach den besprochenen Ereignissen statt. Es handelt sich bei der Chronik um einen in hohem Maße gestalteten Text, der durch den Prozess der Edition als veröffentlichte Chronik auf einer weiteren Ebene bearbeitet wird.

Mit dem Verfassen der Chronik bildet Unseld sein reflektiertes und aktives Bewusstsein für die Geschichte des Verlags weiter aus. Er fügt Ereignisse in Kausalzusammenhänge, interpretiert Handlungen von Personen, reflektiert das eigene Tun und setzt literarisches, privates und politisches Leben in ein Verhältnis. Einträge wie die folgenden existieren im gleichberechtigten Nebeneinander:

Andreas Baader, Holger Meins, Carl Raspe, der „harte Kern“ der Baader-Meinhof-Gruppe wird in Frankfurt, Hofeckweg 2–4, gefaßt. Am 17.6. wird Gudrun Ensslin von zwei Verkäuferinnen entdeckt und von der Polizei in Hamburg festgenommen. Was Franz Josef Strauß nicht erreichte, ein Rechtsruck in der Bundesrepublik, erreicht jetzt die Baader-Meinhof-Gruppe.[33]

Lektoratsversammlung. Wir diskutieren die suhrkamp taschenbücher Wissenschaft.[34]

Abends räume ich in dreistündiger harter Arbeit meine „wissenschaftliche“ Bibliothek in meinem Arbeitszimmer auf. Der Abschied von jedem einzelnen Buch wird mir schwer, aber ich kann auf die Dauer nur Bücher um mich herum haben, die mich inspirieren, d. h. die mir durch ihre Umgebung etwas sagen, mich in meiner Arbeit bestätigen.[35]

Mag dieses Nebeneinander zunächst irritieren, zeigt sich in ihm ein Selbstverständnis, das die Verlagsentscheidungen und letztlich auch das Private (und damit die eigene Person) dem politischen Geschehen beiordnet. Nicht zuletzt dieses Vorgehen schreibt die Bedeutung des Suhrkamp Verlags für die kulturelle und politische Entwicklung der Bundesrepublik, die in der Rede von der ‚Suhrkamp-Kultur‘ zum Ausdruck kommt, fest.

Zum 15. August 1976 findet sich ein Eintrag, in dem Unseld seine Gründe, eine Chronik zu verfassen, reflektiert:

Indem ich diese Chronik schreibe, beurteile, bewerte ich das unmittelbar Vergangene, durch Auswahl oder durch meine Sicht. Ich halte das in der Chronik geschriebene für die Geschichte des Verlages fest, damit der Hintergrund der Vorgänge nicht verloren geht. Aber je länger ich diese Chronik des Vergangenen schreibe, je intensiver sie gedacht und belegt ist, desto wichtiger wird sie mir für die Gegenwart, nein, nicht nur für die Gegenwart, sondern für die Bestimmung des Morgen, für das, was ich morgen und übermorgen machen, beurteilen und entscheiden muß. Nichts ist für mich so mächtig wie die Macht des Geschriebenen.[36]

Die Chronik ist also zum einen das Gedächtnis des Verlags, sie liest sich wie eine Verlagsgeschichte aus der Perspektive des Verlegers. Im Verlag diente sie zum anderen als Handbuch oder Normenkatalog für verlegerische Entscheidungen. So zirkulierten zum Beispiel Ausschnitte durch die Abteilungen wie Arbeitsanweisungen oder Strategiepapiere. Im Kontext des SUA und seiner Erforschung funktioniert sie aber auch als Findbuch für das Archiv, indem sie Namen und Ereignisse benennt und Zusammenhänge stiftet, die Spuren in andere Archivablagen legen. Die Anlagen zur Chronik ergänzen in einigen Teilen das Archiv, bieten aber vor allem eine Vorauswahl aus der Menge der im Archiv befindlichen Dokumente – wie die Verweise der Chronik trotz ihrer Fülle eine Selektion darstellen, die den Weg ins Archiv ebenso ebnet, wie sie ihn verstellt.

Die Chronik, ihre zentrale Stellung und ihre spezifische Verfertigung werfen Fragen zur Überlieferung und Deutungshoheit der Geschichte des Verlags auf. Wer schreibt mit an diesem Archiv? Wer hinterlässt Spuren? Welche Deutungsweise der Verlagsgeschichte und verlegerischen Arbeit wird präsentiert? Deutlichster Ausdruck dieser verlegerzentrierten Darstellung, die auch von der Editionsarbeit des Verlags unterstützt wird, ist paradoxerweise wohl die Reaktion der ehemaligen LektorInnen aus dem Suhrkamp Verlag, die 2011, nachdem der erste Band der Chronik erschienen war, eine Gegendarstellung, die Chronik der Lektoren,[37] veröffentlichten. In ähnlicher Weise erzählen die Editionen einzelner Briefwechsel, die den Verleger als Partner der AutorInnen (Peter Handke, Thomas Bernhard, Uwe Johnson etc.) in den Mittelpunkt stellen, die Geschichte des Verlags aus Verlegerperspektive. Das ist nicht zuletzt deswegen problematisch, weil sich etwa ab 1970, also zeitgleich mit dem Einsetzen der Chronik, die Ablagen der Lektorate und Verlagsabteilungen ausdifferenzierten – im Zuge des rasanten Wachstums des Verlags zwischen 1959, dem Zeitpunkt der Übernahme des Verlags durch Siegfried Unseld, und den späten 1960er-Jahren. Ganze Bereiche sollten in Zukunft fast vollständig von den Eingriffen des Verlegers unberührt bleiben. Für das Theorieprogramm oder die edition suhrkamp ist der Fall komplizierter. Hier überschneiden sich die unterschiedlichen Ablageformen bis in die 1970er-Jahre. Einiges wurde als AutorInnenkorrespondenz in der Gesamtablage des Lektorats gesammelt. Anderes wurde thematisch nach Reihe/Programm abgelegt. An einzelnen Besprechungen nahm Unseld selbst teil; sie fanden ihren Niederschlag in der Chronik, in Aktennotizen und in der jeweiligen Lektoratsablage. Andere Entscheidungen wurden ohne den Verleger getroffen und dementsprechend je nach System des zuständigen Lektorats ausführlicher oder weniger ausführlich dokumentiert.

In der Auseinandersetzung mit dem Konvolut der Chronik drängen sich daher viele der zentralen Fragen und Problematiken der Arbeit mit Verlagsarchiven im Allgemeinen und mit dem SUA im Besonderen auf: In der Reduktion von Komplexität, in der Herstellung von Linearität, im Fokus auf die Person des Verlegers, im bewussten Ordnen von Archivmaterial kommen immer auch die damit zurückgedrängten Kontingenzen, AkteurInnen, Komplexitäten zum Vorschein. In ihrer Funktion als Findbuch, als Referenztext für den Verlagsalltag, als Verlagsgeschichtsschreibung beziehungsweise Instrument einer Archivpolitik und Garant einer historischen Deutungshoheit ist die Chronik weit mehr als bloße Quelle; als zentrales Konvolut des Archivs bleibt sie ein wichtiges, wenn auch problematisches Hilfsmittel für den Forschungsalltag.

Um der Vielfalt der Praktiken und Bereiche, ihren Ungleichzeitigkeiten und Überlagerungen gerecht zu werden, sprechen wir im Zusammenhang mit dem Verlag von mehreren Kulturen: Die Suhrkamp-Kultur gibt es nur im Plural. Das wendet die von Steiner vorsichtig vorgebrachte Problematisierung des allzugroßen Erfolgs der suhrkampschen Herstellung von Klassikern – die mit Gesamtausgaben versehen werden – auf die Rede von der Suhrkamp culture selbst zurück. So wie man in Bezug auf die Verlags- und Publikationslandschaft der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile nicht mehr nur von einer Suhrkamp-Kultur spricht, sondern ihr eine Rowohlt-[38] oder eine Merve-Kultur[39] zur Seite stellt, ist umgekehrt der Verlag selbst als Feld ausdifferenzierter synchroner wie diachroner (Sub-)Kulturen zu betrachten. Der Begriff der Kulturen erlaubt zudem einen Anschluss an Erkenntnisse aus der neueren Wissenschaftstheorie, die ihre Aufmerksamkeit – wie prominent früh Ludwik Fleck und Thomas S. Kuhn, neuerdings Bruno Latour und Hans-Jörg Rheinberger – besonders in Auseinandersetzung mit der Geschichte der Naturwissenschaften auf die sozialen Beziehungen, Denkstile, Orte und Praktiken gerichtet haben, die überhaupt erst die Gegenstände des Wissens konstituieren. Die Rede von einer historischen Epistemologie der Geisteswissenschaften wird so auf ihre publizistischen Bedingungen ausgeweitet.[40]

Vor diesem Hintergrund sind im Suhrkamp-Forschungskolleg Arbeiten entstanden, die über die historischen Bedingungen, Ereignisse und Entwicklungen von Kooperationen, AkteurInnen und literarischen wie wissenschaftlichen Werken informieren und Thesen zum Verhältnis von Verlag und Literatur sowie zu Verlagsarchiven entfalten, die vielfältige (theoretische und inhaltliche) Anknüpfungspunkte bieten. So erscheint eine nationale Literaturgeschichte, die sich an kanonisierten Werken und ‚großen AutorInnen‘ orientiert und sie in Epochen ordnet, als nur ein möglicher Erzählstrang in einem Geflecht von Geschichten. Vor dem Hintergrund des Nichtrealisierten, dem Möglichkeitsraum, den das SUA wieder aufschließt, konturieren sich die realisierten Projekte neu und anders. Neben der Vielzahl an veröffentlichten und bekannten Büchern existiert eine ungleich größere Menge von nicht publizierten Büchern oder Projekten, an die nicht weniger große Hoffnungen geknüpft wurden. Ein Mosaik von Schnipseln, Anekdoten und Szenischem, das kaum in ein Narrativ zu bringen ist und die Landes- und Sprachgrenzen permanent überschreitet und überschreibt, ergänzt die existierenden literaturgeschichtlichen Erzählungen.

Die einzelnen Aufsätze in diesem Heft tragen dieser Erkenntnis Rechnung, indem sie bewusst auch Reibungspunkte, Fehlschläge und unrealisierte Projekte in den Blick nehmen. In diesem Sinne gewinnen sie gerade dem Anekdotischen und scheinbar Unzusammenhängenden erkenntnisleitende Funktionen für verschiedene kleine, durchaus kosmopolitische Literaturgeschichten ab.

Was Autorschaft aus der Perspektive eines Verlags bedeutet, untersucht Tobias Amslinger in seiner Dissertation mit dem Titel Verlagsautorschaft. Enzensberger und Suhrkamp. Anhand der verschiedenen Rollen, die Enzensberger in der Zusammenarbeit mit seinem Verlag einnahm (als Debütant, Literaturkritiker, Lektor, Herausberger, Buchgestalter oder Scout) nimmt er das Passförmigwerden von Autor- und Verlagsprofil in den Blick. Dieses Verhältnis, das er unter dem Begriff ‚Verlagsautorschaft‘ fasst, erreicht keinen festen Zustand, sondern muss immer wieder neu verhandelt werden. Im vorliegenden Beitrag widmet sich Amslinger einem anderen prominenten Verlagsautor, der früh zum ‚Klassiker‘ wurde: Max Frisch. Der Schweizer Schriftsteller begegnete seiner Kanonisierung in Form einer Werkausgabe zu Lebzeiten mit großer Skepsis. Er wollte als Zeitgenosse wahrgenommen werden, der sich stets neu entwirft. Anhand von Archivmaterialien zeichnet der Beitrag die Diskussion um die Ausgabe Gesammelte Werke in zeitlicher Folge nach, die 1976 bei Suhrkamp erschien.

Katharina Einert hat sich in ihrer Dissertation Die Übersetzung eines Kontinentes mit den Übersetzungen der lateinamerikanischen Literaturen im Suhrkamp Verlag beschäftigt. Darin verbindet sie zwei große Fragestellungen miteinander: Wie wurden zum einen in den 1960er- und 70er-Jahren lateinamerikanische Literaturen nach Deutschland übersetzt und wie setzten sie über? Welche Probleme, Missverständnisse und Strategien gab es dabei? Darüber hinaus fragt sie nach den Auswahlkriterien und -strategien des Suhrkamp Verlags. Wie wurde über Werke entschieden, die nur von den wenigsten gelesen werden konnten? Ein Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Tatsache, dass es ausschließlich um übersetzte oder zu übersetzende Literaturen ging und in vielen Fällen die Beurteilung der Texte ausgehend von übersetzten Texten oder aber vermittelten Bewertungen gemacht wurde. Die Kontexte in Ausgangs- und Zielkultur wurden oft zu wenig oder nur unzulänglich berücksichtigt, was zu Missverständnissen und Vermittlungsproblemen führte. Eine besondere Rolle für die Gestaltung des Lateinamerika-Programms nahmen deshalb Vermittlerfiguren ein, die – geprägt von ihrem eigenen spezifischen Netzwerk, aus dem heraus sie agierten – das Programm unterschiedlich beeinflusst haben. Zur Frankfurter Buchmesse 1976, mit Lateinamerika als geografischem und thematischem Schwerpunkt, hat der Suhrkamp Verlag einen Prospekt mit dem Titel „17 Autoren schreiben am Roman des lateinamerikanischen Kontinentes“ herausgegeben. Vor dem Hintergrund dieser Buchmesse untersucht Einert im vorliegenden Beitrag, ob und inwieweit sich mittels einer Analyse des Prospekttitels gewisse Vermittlungsstrategien, Missverständnisse und stereotype Ansätze aufdecken lassen.

Anke Jaspers untersucht in ihrer Dissertation das Verhältnis des Suhrkamp Verlags zu AutorInnen und Literatur der DDR. Sie beschäftigt sich zum einen mit dem vielfältigen Beziehungsgeflecht von Literatur im geteilten Deutschland, das aus Verlagsperspektive eine alternative Periodisierung und Perspektivierung von Literaturgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Szenen dieser Beziehungsgeschichte veranschaulichen, wie der Suhrkamp Verlag in einem Spannungsverhältnis von kulturellen, ökonomischen, ethischen, politischen, gesellschaftlichen und sozialen Faktoren navigiert. Zum anderen erörtert sie die Funktion von Verlagspraktiken für AutorInnen und deren Werk im geteilten Deutschland. Aus Verlagsperspektive manifestiert sich das literarische Werk in einer Vielzahl von Ausgaben, die im Literaturaustausch parallel in Ost und West entstanden. In ihrem Beitrag rekonstruiert Jaspers die Produktionsgeschichte von Suhrkamp-Ausgaben der ostdeutschen Autorin Angela Krauß. So wie der Verlag die Entstehung von Ausgaben eines Werks verantwortet, hat er auch Anteil daran, die Fiktion vom ‚Werk‘ herzustellen. Das Verlagsarchiv offenbart somit den prozessualen und polymorphen Charakter literarischer Werke. Anschließend veranschaulicht der Beitrag die historische Bedeutung von westdeutschen Ausgaben als Mittel zur Erweiterung des Handlungsspielraums für ostdeutsche AutorInnen. Der Fokus auf die Ausgabenpolitik der deutsch-deutschen Produktionsgemeinschaft von Verlag und AutorInnen ermöglicht somit Einblicke in die Produktionsprozesse und -praktiken von Literatur sowie deren zeitgenössische Rezeption im geteilten Deutschland.

Claudia Michalski setzt sich in ihrer Dissertation mit der edition suhrkamp der Jahre 1963 bis 1980 auseinander. Dabei bildet eine historische Rekonstruktion den Hintergrund für eine Untersuchung konkurrierender anderer Reihen, des Wissenschafts- und Literaturkonzepts (hinter) dieser Reihe, der äußeren Form, der AutorInnen, LeserInnen und des ‚Mythos‘, der die Wahrnehmung der edition bis heute beeinflusst. Ihr vorliegender Beitrag geht auf die Gestaltung der edition suhrkamp ein und zeigt, inwieweit diese als Paratext maßgeblich Einfluss auf die Reihe und deren Image hat.

Die Entstehung eines wissenschaftlichen Verlagssegments ist Gegenstand der Dissertation von Morten Paul. Dass der Suhrkamp Verlag heute insbesondere auch als Wissenschafts- und Theorieverlag, zumal als besonders kritischer, wahrgenommen wird, war zur Übernahme der Verlagsgeschäfte durch Siegfried Unseld 1959 noch nicht ausgemacht. Erst mit der Reihe Theorie ab 1967 und den dafür gewonnenen Herausgebern Hans Blumenberg, Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Jacob Taubes sowie später Niklas Luhmann schafft sich der Verlag Buch um Buch ein neues Image und erwirbt sich Buchrechte, Übersetzungen und nicht zuletzt das Know-how, welches sich ab 1973 mit der Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft auch in kommerziellen Erfolg übersetzen lässt. In seinem Beitrag für dieses Heft untersucht Paul anhand der verschlungenen Erwerbs- und Übersetzungsgeschichte zweier Bücher des französischen Philosophen Jacques Derrida die Bedeutung ausländischer Titel für die Entstehung des Programms im Kontext einer allgemeinen ‚Theoriekonjunktur‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften der 1960er- und 70er-Jahre. Darin zeigt sich das Verlagsgeschehen als deutlich weniger zielgerichtet, als es retrospektiv den Anschein hat. Zugleich fügt der Beitrag mit der Verlagsperspektive auf die Übersetzungsvorgänge der Erforschung der ‚Theoriegeschichte‘ einen wichtigen Aspekt hinzu, indem er diese – insbesondere für den westdeutschen Kontext – eng an das Medium Buch und dessen konkrete Produktion knüpft.

Weitere im Rahmen des Suhrkamp-Forschungskollegs entstandene Dissertationen

Marja-Christine Sprengel untersuchte in 39 Einzelstudien die Arbeitsweisen und Strategien von LektorInnen in den Verlagen Suhrkamp, Luchterhand und Piper. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Analyse des Lektorats von Elisabeth Borchers, die in den 1960er-Jahren im Luchterhand Verlag ihre Lektoratskarriere begann und in der Zeit von 1971 bis 1998 das literarische Programm des Suhrkamp Verlags entscheidend prägte. Die Studien analysieren die Spezifik von Borchers’ Arbeitsweise und zeigen, dass die Lektorin und ihre Arbeit fundamental für den Erfolg des Verlags waren. Das fruchtbare Umfeld des Suhrkamp Verlags für wichtige Autoren wie Max Frisch, Peter Weiss und Jurek Becker ist folglich nicht allein auf den Verleger Siegfried Unseld zurückzuführen, sondern entstand insbesondere durch seine LektorInnen.

Im Zentrum von Charlotte Weyrauchs historisch angelegter Arbeit steht der Suhrkamp Theaterverlag in den 1960er- und 70er-Jahren, einer Zeit des politischen und gesellschaftlichen Wandels. Leiter des Theaterverlags waren in diesem Zeitraum Karlheinz Braun und Rudolf Rach sowie die Autoren Martin Walser und Jürgen Becker. Anhand verschiedener Quellen aus dem bisher unerschlossenen Archivbestand des Theaterverlags wird dessen Position innerhalb des Verlagshauses Suhrkamp an der Schnittstelle unterschiedlicher Medien analysiert. Ausgewählte Beispiele präsentieren den Theaterverlag als Akteur in einem komplexen Gefüge zwischen Theaterereignis und Buch. Damit leistet die Arbeit zugleich auch einen methodischen Beitrag zu der Frage, wie Archive von Theaterverlagen wissenschaftlich erforscht werden können.

Publikationen aus dem Kontext des Suhrkamp-Forschungskollegs (Auswahl)

Amslinger, Tobias u. a.: suhrkamp wissen. Anatomie einer gescheiterten Reihe. In: Zeitschrift für Ideengeschichte VIII/1 (2014), S. 118–126.

Amslinger, Tobias/Grüne, Marja-Christine/Jaspers, Anke: Mythos und Magazin. Das Siegfried Unseld Archiv als literaturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand. In: Irmgard M. Wirtz/Ulrich Weber/Magnus Wieland (Hg.): Literatur – Verlag – Archiv. Göttingen/Zürich: Wallstein/Chronos 2015, S. 183–213.

Amslinger, Tobias: Mit der Nase im Wind der Avantgarden. Hans Magnus Enzensberger. In: Neue Zürcher Zeitung vom 17. Juni 2017, S. 51.

Bürger, Jan: „Aber unsere große Entdeckung ... war Siegfried Unseld“. Ein erster Blick auf das Archiv der Verlage Suhrkamp und Insel. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 59 (2010), S. 13–20.

Bürger, Jan: Die Suhrkamp-Insel. Über die ersten beiden Stationen einer neuen Ausstellungsreihe. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 60 (2011), S. 78–88.

Bürger, Jan: Max Frisch. Das Tagebuch. [Zur Ausstellung „Max Frisch: Das Tagebuch“, Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, 24. Februar bis 26. Juni 2011]. Marbach/N.: Deutsche Schillergesellschaft 2011.

Einert, Katharina: ‚17 autores escriben la novela del continente latinoamericano‘ o: La doble ficcionalización de América Latina y sus literaturas. [‚17 Autoren schreiben am Roman des lateinamerikanischen Kontinentes‘ oder: Die doppelte Fiktionalisierung Lateinamerikas und seiner Literaturen]. In: Gesine Müller/Dunia Gras (Hg.): América Latina y la Literatura Mundial: mercado editorial, redes globales y la invención de un continente. [Lateinamerika und die Weltliteratur: Buchmarkt, globale Netzwerke und die Erfindung eines Kontinentes.] Madrid: Vervuert/Iberoamericana 2015, S. 223–240.

Einert, Katharina: Chronik einer angekündigten Entdeckung: Die Frankfurter Buchmesse 1976. – Ein Rückblick mit Archivalien aus dem Lateinamerikabestand des Siegfried Unseld Archivs. In: Marco Thomas Bosshard (Hg.): Buchmarkt, Buchindustrie und Buchmessen zwischen Deutschland, Spanien und Lateinamerika. Berlin: Lit-Verlag 2015, S. 161–191.

Einert, Katharina: Die Übersetzung eines Kontinentes. Die Anfänge des Lateinamerika-Programms im Suhrkamp Verlag. Berlin: edition tranvía – Verlag Walter Frey 2018.

Gohlke, Christian: Der ganze Goethe. Die Registerbände zur Frankfurter Goethe-Ausgabe. In: Neue Zürcher Zeitung vom 5. Mai 2014.

Kinder, Anna (Hg.): Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen. Berlin: De Gruyter 2014.

Kinder, Anna: Von Schätzen und Regenwürmern. Zum literaturwissenschaftlichen Forschungspotential von Verlagsarchiven. Eine Problemskizze. In: Irmgard M. Wirtz/Ulrich Weber/Magnus Wieland (Hg.): Literatur – Verlag – Archiv. Göttingen/Zürich: Wallstein/Chronos 2015, S. 215–224.

Michalski, Claudia: Aufklärung und Kritik. Die edition suhrkamp und das geisteswissenschaftliche Taschenbuch. In: Kodex. Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 5 (2015), S. 21–36.

Paul, Morten: Jacob Taubes als Verlagsberater. In: Zeitschrift für Ideengeschichte VI/4 (2012), S. 29–34.

Paul, Morten: Theorieproduktion als Vermittlungsproblem. Die Buchreihe ‚Theorie‘ (1966–1986). In: Geschichte der Germanistik 43/44 (2013), S. 143–145.

Paul, Morten: Für den Gebrauch zubereitet. Die Theorie-Werkausgabe Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Suhrkamp Verlag. In: Kodex. Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 5 (2015), S. 45–65.

Sprengel, Marja-Christine: Der Lektor und sein Autor. Vergleichende Fallstudien zum Suhrkamp Verlag. Wiesbaden: Harrassowitz 2016.

Online erschienen: 2018-06-16
Erschienen im Druck: 2018-06-05

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 12.11.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/iasl-2018-0005/html
Scroll to top button