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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


werden, bis er todt ist“. Folgendes ist der objective Thatbestand des Verbrechens.

In der Stadt Binghampton wurde am frühen Morgen des 17. August 1870 Frederick A. Mirick ermordet. Er war Commis in dem Modewaarengeschäft der Gebrüder Halbert, und schlief während der Nacht mit seinem Collegen S. Burrows in dem Geschäftslocale. Am fraglichen Morgen gegen drei Uhr wurde der Clerk des in der Nähe gelegenen „American Hotel“ durch den Schrei „Mord! Mord!“ geweckt. Er stürzte auf die Straße hinaus und begegnete hier dem Burrows, der ihm in der fürchterlichsten Aufregung mittheilte, daß sein Camerad ermordet worden sei. In dem Hôtel schlief der Polizeichef der Stadt Binghampton. Derselbe wurde geweckt, da aber das idyllische Städtchen Binghampton siebenzehntausend Einwohner, einen Polizeichef und – keinen Polizeidiener hat, so hatte der Polizeichef nichts Eiligeres zu thun, als in der Feuerwehrhalle die Alarmglocke ertönen zu lassen. Bald war denn auch Alles auf den Beinen und sofort wurden Banden organisirt und die ganze Stadt und Umgegend abpatrouillirt.

Eine andere Schaar begab sich dann mit dem Polizeichef nach Halbert’s Modewaarenhandlung, und dort fand man die Leiche des kaum achtzehnjährigen Mirick in einer Blutlache liegen. Er war durch den Kopf geschossen und das Gemach ließ die Spuren eines furchtbaren Kampfes erkennen. Alles lag durcheinander, die Hinterthür war erbrochen, von dem Mörder aber keine Spur, nur ein ganz eigenthümlicher Schuh wurde in der Nähe der Mordthat aufgefunden. Der hintere Theil des Ladens stößt an den Chenangofluß und man glaubte, der Mörder habe denselben durchwatet. Mit großer Sorgfalt wurde der Fluß durchsucht, aber lange vergeblich. Nach drei Tagen zog man indeß die Leichen zweier ertrunkener Männer aus dem Wasser. Ihre Gesichter und Leiber waren so zerschlagen und verstümmelt, daß man sie kaum noch für Körper menschlicher Wesen zu erkennen vermochte. In ihren Taschen fand man Einbrechwerkzeuge und andere Gegenstände, die deutlich erkennen ließen, daß es die Leichen zweier gefährlicher Individuen seien. Natürlich brachte man diese Leichen mit dem Mord in Verbindung.

Während der Coroner mit der Untersuchung dieses Falles beschäftigt war, wurde ganz in der Nähe der Stadt ein Mann unter eigenthümlichen Verhältnissen verhaftet. Er wurde mit den beiden Leichen confrontirt, seine Aussagen waren aber derart, daß sie trotz einiger Widersprüche keine feste Handhabe zur Einleitung einer Untersuchung darboten, so daß man das Subject schließlich laufen ließ. Zufälliger Weise begegnete jetzt der Angeklagte dem alten Richter Balcom. Der scheue Blick des Mannes fiel dem Richter auf, er hatte den Mann schon früher gesehen, doch hatte er nur unbestimmte Ahnungen, wer es sein könne. Nichtsdesto weniger ließ Balcom ihn wieder verhaften und stellte ein Verhör mit ihm an. Plötzlich wurden ihm seine Ahnungen zur Gewißheit.

„Ihr sagt, Euer Name sei William Smith?“

„Ja, Sir!“

Da sprang der Richter auf.

„Du lügst! Du bist nicht Smith, Du bist Edward H. Rulloff. Du hast vor mehr als zwanzig Jahre Deine Frau und Dein einziges Kind ermordet. Damals entkamst Du dem Galgen, aber ich verurtheilte Dich zu zehn Jahren Zuchthaus wegen Wegschleppung Deiner Familie!“

Gelassen und mit frecher Miene hörte Rulloff diese Anschuldigungen an. Doch wurden die Untersuchungen sofort wieder aufgegriffen; es stellte sich heraus, daß die beiden ertrunkenen Männer die Spießgesellen Rulloff’s waren. Der oben erwähnte unförmliche Schuh paßte genau an Rulloff’s linken Fuß, und schließlich wurde ihm die Mordthat bis zur Augenscheinlichkeit bewiesen.

Am elften Januar wurde der Proceß beendet und Rulloff zum Tode verurtheilt. Er hatte die ganze Zeit in dumpfem Schweigen dagesessen, und nur, als der alte Richter ihn in feierlichem Ernste ermahnte, seine Verbrechen zu bereuen und die kurze Spanne Lebenszeit als Vorbereitung zu seinem Tode zu benützen, überflog ein spöttisches Lächeln das düstere Gesicht des verhärteten Sünders.

Das ist der objective Thatbestand des Verbrechens. Während der Untersuchung ergaben sich ganz merkwürdige Aufschlüsse über das frühere Leben und die Eigenthümlichkeiten dieser seltenen Verbrechernatur. Im Jahre 1848 hatte Rulloff die Tochter eines Herrn Schmidt in Dreyden, N. Y., geheirathet. Später diente er als Provisor in einer Apotheke, zu Ithaca, N. Y. Dort beschuldigte er seine Frau der ehelichen Untreue und er behandelte sie mit einer wirklich teuflischen Bosheit. Einmal wollte er sie zwingen, Gift zu nehmen, und nur die zufällige Dazwischenkunft einiger Fremden vereitelte dieses Verbrechen. Rulloff war wütend und überhäufte sie mit den widerlichsten Schimpfworten.

Die geängstigte Frau fiel vor dem Wüthenden auf die Kniee und schluchzte laut auf: „O Edward, Edward, ich bin so unschuldig wie ein neugeborenes Kind!“

Der brutale Mensch aber trat sie mit Füßen und schrie: „Stehe auf! Gott verdamm’ mich, mache mir kein solches Geheul vor, wenn ich toll bin!“

Trotzdem hing die Frau mit blinder Liebe an diesem Dämon, sie wollte nicht in das Haus ihres Vaters zurückkehren und that sogar alles Mögliche, der Welt und ihren Verwandten gegenüber den wahren Charakter ihres Mannes zu verheimlichen.

Einige Monate nachher verließ er mit seiner Frau und seiner jungen Tochter Ithaca, um, wie er sagte, sie nach einer Farm zu bringen. Seitdem hat man sie nie wieder gesehen. Seinem Advocaten hat er aber eingestanden, daß er seine Frau erdrosselt und ihr dann eine Ader geöffnet habe, um sie zu Tode bluten zu lassen. Das Kind habe er erstickt. Das Verbrechen konnte ihm jedoch nicht erwiesen werden, und so wurde er wegen Wegschleppung seiner Familie zu zehn Jahren Zuchthaus verurtheilt. Im Jahre 1856 hatte er die Strafe abgesessen und sofort wurde dann wieder ein Proceß wegen Ermordung seines Kindes gegen ihn anhängig gemacht. Er wurde zum Tode verurtheilt, aber auf Appellation wegen mangelnder Beweise entlassen.

Es läßt sich denken, daß die Processirung eines solchen Menschen die Gegend ringsum in nicht geringe Aufregung versetzen mußte. Die Verhandlungen in Binghampton nahmen mehrere Tage in Anspruch; aber die ganze Stadt verfolgte mit Fieberspannung die einzelnen Phasen des Processes. Des Mörders Vertheidiger ein tüchtiger Advocat aus Binghampton, erhielt zahlreiche Drohbriefe, worin ihm die Strafe des socialen Ostracismus und vollständiger Verlust seiner Praxis angekündigt wurde, wenn er es wagen würde, zu Gunsten des Mörders zu sprechen. Auch wurde ihm mitgetheilt, daß im Falle einer Freisprechung das Volk selbst die Gerechtigkeit in die Hand nehmen würde. Sechs Stunden blieb die Jury in Berathung, die Aufregung während dieser Zeit wurde immer gewaltiger, und selbst, als die Jury endlich das „Schuldig“ aussprach und Rulloff, zum Tode verurtheilt, in das Gefängniß zurückgeführt wurde, bedurfte es aller Anstrengung, den Mörder vor der Volkswuth zu schützen.

Bis dahin habe ich Ihnen nur eine ganz gewöhnliche Mordgeschichte erzählt, die auch weiter kein lohnendes Interesse erwecke würde, wenn nicht eben die Natur des Mörders so mannigfache Anhaltepunkte zu interessanten Betrachtungen darböte.

Rulloff ist ein Mann von fünfzig Jahren und von deutsch-amerikanischer Abkunft. Er war Apotheker, Lehrer, Handwerker, gewöhnlicher Arbeiter etc.; aber er mochte sich in einer Lebensstellung befinden, wie immer, stets benutzte er jeden freien Augenblick zu den rastlosesten Studien. Ganz geläufig sprach er Französisch, Deutsch, Englisch und Latein. Die griechische Sprache konnte er durch und durch, und mit Leichtigkeit wußte er sich im Spanischen, Portugiesischen und Italienischen verständlich zu machen, sogar im Hebräischen und im Sanskrit hatte er sich die umfassendsten Kenntnisse erworben. Im Gefängnisse beschäftigte er sich viel mit juridischen Studien, besonders vertiefte er sich gern in interessante und verwickelte Criminalfälle. In der Technik, Physik, Chemie und den beschreibenden Naturwissenschaften war er sehr wohl bewandert; kurz, es gab kaum einen Zweig menschlicher Wissenschaft, dem er sich nicht mit Eifer zugewandt hatte. Ich will freilich nicht behaupten, daß er ein wirklicher Gelehrter war; aus eigenem Fleiße hatte er so ziemlich ohne System ein überreiches Material positiven Wissens sich angeignet; aber er besaß nicht die Gabe der wissenschaftlichen Absonderung und Scheidung, die Begriffe verwirrten sich leicht und das überreich aufgehäufte und gewissermaßen unverdaute Material brachte ihn dazu, bei jeder Gelegenheit sich mit seinem Wissen hervorzudrängen.

Das Studium seines ganzen Lebens hat er, wie er selbst sagte, in einem äußerst umfassenden Werke niedergelegt, das immerhin interessant genug ist, besprochen zu werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_506.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)