Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Herz, stieg aus meinem untern Stockwerk in das Hauptgeschoß von Chateau Giron hinauf und ließ mich von einem Mädchen, das mir begegnete, bei der Herrschaft melden. Das Mädchen sah den Ulanen, der die verwegene Idee hatte, ihrer Herrschaft einen Besuch machen zu wollen, mit verwunderten Blicken an und antwortete: „Mais Monsieur, Madame Kuhn ne reçoit pas – sie ist leidend – wenn Sie etwas Geschäftliches haben, so ist der Herr Abbé …“
„Bringen Sie immerhin meine Karte hinein, wenn nicht zu Madame Kühn, dann zu Fräulein Kühn!“
Sie ging und kam nach einer Weile zurück, um mich in einen sehr eleganten, sonnigen, auf den Garten hinausführenden Salon zu führen; im Hintergrunde war eine Portière von braunem Sammt niedergelassen; ich nahm an der Bewegung der Falten wahr, daß es soeben geschehen sein mußte – wahrscheinlich barg sie in einem Cabinete dahinter die leidende Madame – im Salon saß Fräulein Kühn in einem „Dos à Dos“, hinter ihr in demselben Möbel der Abbé, meine Karte in der Hand, die er ihr zu erklären schien – „tant bien que mal“, wie die französische Redensart heißt.
Er erhob sich, um mich zu bewillkommnen; das Fräulein wies auf einen in ihrer Nähe stehenden Sessel.
Ich muß gestehen, daß ich ein wenig verwirrt war. Ich hatte zu thun, mich in die Erscheinung der jungen Dame zu finden, welche mir gestern im Mondschein einen ganz andern Eindruck gemacht hatte – und doch war es dieselbe schlanke Gestalt mit den schön abfallenden Schulterlinien und dem edlen Oval des Kopfes, die gestern vom Mondlicht und einem eigenthümlichen Zauber umflossen vor mich getreten. Es war dasselbe sonor vibrirende Organ, das in meinem Ohre wiedergeklungen; und als sie die Arbeit, über welche sie gebückt saß, von sich schob und den Oberkörper zurückwarf, sah ich, daß sie auch ganz so groß war, wie sie mir gestern erschienen. Nur ihre Züge, die mir gestern bleich, ernst, strenge vorgekommen, waren anders. Sie hatten freilich nicht viel Farbe, aber eine ganz gesunde, wie von einem leichten bräunlichen Ton überhauchte Frische; sie hatten nicht viel vom französischen Typus, sie waren einfach und edel geschnitten; aber ein Ausdruck von Schelmerei, der aus ihren großen braunen Augen leuchten und um den scharfgezeichneten Mund zucken konnte, hatte nichts gar zu Strenges.
Ich bemerkte, daß, als sie ihre Stickerei von sich geworfen und nun ein Paar Halbhandschuhe, die vor ihr lagen, anzog, ihre Hände ein wenig zitterten; ich schloß daraus, daß sie eine impressionable Natur sei; das Entgegentreten eines „Feindes“, wie ich war, mußte sie ganz ebenso bewegen, wie mich die Erfüllung dieser meiner Höflichkeitspflicht gegen meine unfreiwilligen Gastfreunde.
„Ich hoffe, Sie gestatten mir,“ begann ich, ein wenig stotternd und unsicher, „persönlich Ihnen die Belästigung abzubitten, die wir gezwungen sind …“
„Ah,“ unterbrach sie mich, „wie könnten wir Belästigung zu fürchten haben von Leuten, die nur auf moralische Eroberungen ausgehen – mein Vetter, der Abbé hier, hat mir von seiner Unterhaltung mit Ihnen erzählt und hat meine Mutter und mich sehr beruhigt; meine arme Mutter ist leidend; sie konnte nicht reisen; so mußten wir denn hier auf unserem Gute bleiben und Stand halten …“
„Was ich als ein großes Glück für uns betrachte,“ fiel ich ein. „Was aber die moralischen Eroberungen angeht, so war das ein zuversichtliches Wort, das ich nicht mehr gesprochen hätte, wenn ich vorher Gelegenheit gehabt hätte, Ihnen zu begegnen, mein Fräulein, wie es erst nachher im Garten geschah, wo ich einsah, daß ich vielmehr Gefahr laufe, moralisch erobert zu werden.“
Sie schlug das Auge zu mir auf; es lag etwas von entrüsteter Verwunderung in dem Blicke, den sie auf mich heftete.
Ich fühlte, daß ich etwas gesagt, was sie gründlich mißverstand, und erröthete deshalb. In Deutschland wäre keine Dame auf den Gedanken gekommen, daß ein wildfremder junger Mensch, eine feindliche Einquartierung, sich einfallen lassen könne, so sofort mit einer Art Liebeserklärung zu beginnen. Sie, die Französin, hatte mir offenbar diese Fadheit zugetraut, und geärgert dadurch, setzte ich rasch und scharf hinzu: „Denn wenn Sie mit solcher Beredsamkeit fortfahren, alle meine Voraussetzungen über den Haufen zu werfen und mir zu zeigen, welch’ böse Hunnen oder Gothen wir sind, in das arme friedfertige Frankreich einzubrechen und es zu hindern, als das große Weltlicht die Strahlen der Gesittung auszuströmen und über die Völker der Erde zu ergießen, so muß ich mich wohl entwaffnen und zu Ihnen hinüberziehen lassen …“
Ihr Gesicht erhellte sich, sie sagte, ohne sich durch meine Ironie gereizt zu zeigen, lächelnd: „Es scheint doch, meine Behauptungen haben Sie ein wenig erregt, und so müssen sie doch wahr sein, denn nur die Wahrheit macht Eindruck auf uns!“
„Wollen Sie mir nicht böse werden, Fräulein,“ sagte ich, „wenn ich widerspreche? Nicht die Wahrheit macht in Frankreich Eindruck, sondern nur der Schein. Wir Deutsche mit unserm einfach nüchternen Verstande stehen hier betroffen, völlig erstarrt darf ich sagen, vor dem psychologischen Räthel: ‚wie ist es möglich, daß eine ganze gebildete und edle Nation so durchaus blind für die Wahrheit sein kann!‘“
„In der That, und welche ist diese Wahrheit?“ fragte sie ein wenig spöttisch.
„Die, daß Frankreich geschlagen ist und nicht einsieht, wie sehr es wohl thäte, das Schauspiel, wie es fortwährend geschlagen wird, durch einen raschen Frieden zu enden; daß es so hartnäckig darauf besteht, diese Tragödie seines Unterliegens in’s Endlose zu verlängern – das ist eine Politik, ob der uns der Verstand stille steht!“
„Und Sie haben keine Erklärung dafür in unseren Hoffnungen, daß das Blatt sich wende?“ fiel jetzt der Geistliche ein.
„Diese Hoffnungen beruhen eben auf der Verkennung der Wahrheit, die uns so räthselhaft ist. Doch,“ fuhr ich fort, „würde ich eine Erklärung dafür wagen, wenn ich nicht fürchtete, bei Ihnen zu sehr als Ketzer in Mißcredit zu kommen.“
„O bitte, reden Sie immerhin,“ sagte der Geistliche mit einem nachsichtigen Lächeln.
„Frankreich ist in dem Dogma aufgezogen, es sei ein unbesiegliches und alle Nationen übertreffendes Volk, ganz so wie in dem Dogma von der Unfehlbarkeit seiner Kirche; solche Dogmen bilden seine Staatsreligion. Wo aber das Dogma herrscht, da ist die Frage nach dem Was, Wie und Warum Sünde; der Glaube ist das Gute, der Zweifel das Böse; auf dem Katheder der Kritik ist der Teufel Professor. Wenn man liest, wie die Kirche ihre Geschichte darstellt, so hat die Kirche immer die Wahrheit; wenn man hört – ich habe es von Ihnen gehört, Fräulein – wie Frankreich seine Geschichte darstellt, so hat Frankreich immer Recht und – den Sieg! Nur die Gottlosen und die Verräther zweifeln daran! An dieser kirchlichen und politischen Orthodoxie, an diesem Dogma des Besserseins als andere Kirchen und Völker geht Frankreich unter.“
Das Fräulein sah mich höchst verwundert an; was ich sagte, machte sie offenbar betroffen. Dann rief sie lebhaft aus: „Ich kann Ihnen auf dies Alles nicht so antworten, wie ich es möchte, ich bin nicht gelehrt genug dazu – Sie müssen das thun, Etienne,“ wandte sie sich zu dem Geistlichen.
Dieser hatte still mit seinen unterschlächtigen Blicken mich beobachtend gesessen; das blasse ascetische Gesicht mit dem über die Mitte des Kopfes laufenden Scheitel zeigte dabei ein ziemlich lebendiges Mienenspiel.
„Mein Gott, was kann ich darauf antworten!“ sagte er; „diese Herren, scheint es, wollen Frankreich seine Kirche nehmen, wie sie ihm den Kaiser genommen haben, und wir müssen geduldig abwarten, wie sie bei diesem Unternehmen fahren werden.“
„Es ist nicht so schlimm gemeint, hochwürdiger Herr – wir sind weit davon entfernt, so böse Absichten zu hegen – wir gehen, wie ich Ihnen sagte, blos auf moralische Eroberungen, nicht auf dogmatische aus!“
„Haben Sie Michelet’s Geschichte von Frankreich gelesen?“ fragte das Fräulein mich.
„Nein,“ versetzte ich.
„Ich möchte wissen, was Sie darüber sagen.“
„Ah, wie können Sie ein so abscheuliches Buch empfehlen?“ rief der Geistliche mit einem strahlenden Blick auf Fräulein Kühn.
„Ich empfehle es nicht – ich möchte nur wissen, was dieser Herr darüber sagt. Mich entzückt das Buch an vielen Stellen, wenn es auch an andern mich abstößt. Sie möchten es verbannt wissen. Ist es nicht natürlich, daß ich Jemand darüber reden hören möchte, der ganz anders denkt, als ich, und ganz anders, als Sie?“
Er zuckte die Achseln, und ich äußerte mein Verlangen, ein
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_023.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)