Mit Mur d’Hannibal (deutsch: Hannibalmauer) werden die Überreste einer befestigten römischen Militärstellung aus den letzten beiden Dritteln des 1. Jahrhunderts v. Chr. bezeichnet, die sich auf dem Gemeindegebiet von Liddes im Kanton Wallis auf einer Höhe von 2643 m ü. M. befinden.
Geschichte
Die archäologische Fundstätte liegt auf dem hoch gelegenen Geländesattel zwischen dem Westhang der Pointe de Boveire und der vorgelagerten Pointe de Toules.[1]
Seine strategische Höhenlage erlaubte es, die Ostflanke des Val d'Entremont zu kontrollieren, indem die Hauptachse des Grossen St. Bernhards im Talboden sowie die Gebirgsübergänge westlich und östliche der Pointe de Barasson, Col de la Menouve, Col de Molenne und Col d'Annibal überwacht wurden.
Die Mur d’Hannibal scheint in ein römisches Abwehrsystem integriert gewesen zu sein, das rund zehn Positionen zwischen dem Wallis und dem Aostatal umfasste. In den antiken Schriftquellen wird von drei römischen Militäroperationen berichtet, die zwischen 35 und 25 v. Chr. im heutigen Aostatal stattfanden, um den Keltenstamm der Salasser zu unterwerfen und die Kontrolle über die Pässe des Grossen und Kleinen Sankt Bernhard zu erlangen. Diese Einsätze könnten die Anlage verschiedener Höhenstellungen wie die Mur d’Hannibal erklären, die in Sichtkontakt standen und ein Netzwerk zur Gebietskontrolle bildeten. Das Hauptelement der Stellung ist eine monumentale Trockensteinmauer von fast 270 Meter Länge, die 3500 Quadratmeter grosses befestigtes Gebiet umschliesst, das von einem Steilhang jenseits des Gipfels der Pointe des Toules begrenzt wird.⊙ ⊙ ⊙
Die archäologischen Untersuchungen zwischen 2009 und 2016 lassen eine saisonale Präsenz von Hilfstruppen der römischen Armee vermuten. Es waren möglicherweise Kelten, die von Rom engagiert wurden, um seine Interessen zu vertreten. Die freigelegten Hütten und Unterstände lassen annehmen, dass die Stelle zeitweise von etwa hundert Soldaten belegt wurde.
Neben einheimischer Keramik, Ausrüstung der römischen Soldaten (Schuhnägel usw.) wurde eine keltische Inschrift gefunden. Diese weisen Ähnlichkeiten mit den Gegenständen der keltischen Stämme des Zentralwallis und des Chablais auf, die sich vermutlich seit der Schlacht von Octodurum im Jahr 57 v. Chr. unter römischer Kontrolle befanden. Möglicherweise hatten die Walliser den Römern für diese Feldzüge Hilfstruppenkontingente zur Verfügung gestellt. Die dortigen Fundstücke wurden auf die Zeit von 50–15 v. Chr. datiert. Sie dürften von der höchsten Stelle mit Besiedelungsspuren aus dieser Epoche in Europa sein.
Inschrift
Die zweizeilige Inschrift auf einem Stein in einem kleinen Abri stellte lange Zeit ein Rätsel dar.[2] Die Zeichen der Inschrift wurden von Spezialisten der zweiten Phase des sogenannten "lepatischen" oder "Lugano"-Alphabets zugeordnet, das zwischen dem 4. Jahrhundert v. Chr. und der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. datiert wird. Dies entspricht der archäologisch bezeugten Besetzung der Stätte in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr.
Die Sprachspezialisten haben die obere Zeile als "poenino" transkribiert, was auf die keltische Gottheit Penninos oder Poininos/Poeninos/Poeninus[7] hindeutet. Die zweite Zeile als «ieuiseu» transkribiert bleibt unbekannt, Spezialisten würden sie als Beinamen der Gottheit betrachten.[3] Auf der Passhöhe des Grossen St. Bernhard soll in vorrömischer Zeit ein altes Heiligtum des Passgottes Poeninus gestanden haben. Dieser Gott stammt nicht etwa von den Puniern, die einst Hannibal über die Alpen geführt hat, sondern laut Titus Livius war Poeninus ein einheimischer Gebirgsgott.[4]
Geschichte der Recherchen
Bevor der 2011 gegründete Verein zur Förderung der archäologischen Erforschung der Hannibalmauer (Association de soutien aux Recherches archéologiques du Mur (dit) d’Hannibal) aktiv wurde, gab es bereits verschiedene schriftliche Hinweise und Arbeiten, darunter: Die ersten Hinweise auf die Strukturen einer Mauer finden sich auf dem Blatt Orsières der Siegfriedkarte von 1878, die erste Erwähnung des Namens in der Gesamtstudie Réflexions à propos du mur d’Annibal von Théo Lattion, den Artikel über L'énigme du mur d'Annibal («Das Rätsel der Mur d’Annibal») von Vincent Quartier-la-Tente[5][6] sowie die Beschreibung der Inschrift von Urs Schwegler.[7]
Ausstellung
Ausstellung Là-haut Da oben: Befestigte Siedlungen im Wallis, gestern und heute im Schloss Leuk. Dort werden ein Model der Fundstelle sowie Funde aus der archäologischen Grabungen gezeigt. Die Ausstellung dauert vom 20. Mai bis zum 28. September 2022.[8]
Literatur
- Archäologische Erforschung der «Mur (dit) d’Hannibal» [2]
- [3] Romain Andenmatten: Recherche documentaire sur le Mur d'Hannibal, 2006
- [4] Universität Basel: Dissertationsprojekt von Romain Andenmatten: Archäologische Forschungen im Bereich der eisenzeitlichen⁄spätrepublikanischen «Mur (dit) d’Hannibal» (Liddes⁄VS)
- Gerold Walser: Römische Militärinschriften vom Grossen St. Bernhard. Zeitschrift Archäologie der Schweiz Band 6, Heft 1 1983
Weblinks
- Website des Vereins zur Förderung der archäologischen Erforschung der «Mur d'Hannibal»
- Wallser Archäologen Gesellschaft: Hochgebirgsforschungen in den Penninischen Alpen
- canal 9 vom 21. Januar 2019 :Hannibal ging nie durch den Grossen St. Bernhard. Doch «seine» Mauer verrät einen wenig bekannten Teil der Walliser Geschichte (Video, französisch)
- Le nouvelliste vom 13. August 2019: Liddes: partizipativer Ansatz, um Exkursionen zu Hannibals Mauer zu schaffen
- Kantonales Amt für Archäologie des Kanton Wallis
Einzelnachweise
- ↑ Romain Andenmatten: Recherche documentaire sur le . Website des Kantons Wallis.
- ↑ Ramha: Stein mit Inschrift
- ↑ Ramha: Entzifferung der Inschrift
- ↑ Gerold Walser: Römische Militärinschriften vom Grossen St. Bernhard Zeitschrift Archäologie der Schweiz Band 6, Heft 1 1983 http://doi.org/10.5169/seals-5333
- ↑ A Théo Lattion: L'énigme du Mur d’Annibal, 2005
- ↑ [1] Journal de Morges, 26 septembre 2014: Des Morgiens à l’assaut de l’énigme du Mur d’Hannibal]
- ↑ Vorläufiger Bericht über die «etruskische Schrift» und die «Mur d'Annibal» von Liddes VS, 2007
- ↑ Seite des Monats: Die sogenannte Hannibalmauer